Ilse Bindseil

Körper innen (3) − Die Frauen von Tigray

In einer bei Arte ausgestrahlten Reportage über Vergewaltigung als Waffe1 wird von Meseret Hadush, einer äthiopischen Musikerin, berichtet, die sich, über die tagtägliche praktische Hilfe für die misshandelten und verstümmelten Frauen von Tigray hinaus, des skandalösen Verbrechens, das an ihnen verübt wurde, in einer Weise angenommen hat, die dem engagierten Hilfsprojekt, das sie ins Leben gerufen, und der Reportage, die nicht zu Unrecht einen Grand Prix davongetragen hat, ein besonderes Gewicht verleiht.

Bei den Operationen waren nicht nur schwerste Verletzungen zutage gekommen, sondern auch Gegenstände geborgen worden, die die Vergewaltiger nach dem Koitus in die Scheide, womöglich auch den Uterus der Frauen praktiziert hatten, verletzende Gegenstände wie verrostete Nägel und Klingen, aber auch schriftliche Botschaften, die das Tun am verborgenen Ort, im Innern der misshandelten Körper, rechtfertigten: Tigray-Frauen sollten nie mehr gebären können. Meseret Hadush kam auf die Idee, diese Gegenstände aufzuheben und nebeneinander zu legen, weg von den geschundenen Körpern, einer neben den andern, wie archäologische Fundstücke aus ein und derselben Grabung, Zeugnisse einer verschollenen Kultur, zugleich wie Schätze, die man an einem unzugänglichen Ort versteckt, oder Fähnchen, die man auf einem Gipfel aufpflanzt, stolze Beweise: Wir waren da.

Aber mit dem Sammeln und Aufbewahren ist es ein eigenes Ding. Es löst das Geschehene aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus und stellt es in einen neuen. Mag das Gefundene eine Untat beweisen, als Fundstück ist es ein Baustein, es baut an der Kultur. Im Ensemble hat es eine eigene Würde. Es strahlt Ruhe aus, auch wenn es Barbarisches bezeugt. Meseret Hadush wagt den Sprung. Sie bewahrt auf, was die Soldaten im Körper der vergewaltigten Frauen hinterlegt haben. (Auch sie hatten bereits eine Absicht.) Aus der kriminalistischen Beweissicherung macht sie eine Ausstellung, aus den Beweisstücken den Gegenstand einer über sie hinausgehenden Betrachtung, einer Vergewisserung. Aus dem Gegenstand macht sie eine Anrede und eine Aufforderung: Seht!

Manchmal hebt man etwas auf und weiß noch gar nicht, warum. Meseret Hadush, und das macht sie zur Heldin der Geschichte, handelt, wie man so sagt, aus dem Gefühl heraus. So können die diffizilen Gründe, die in das Gebiet von Kultur und Verbrechen, von Mythos und Religion, von ausgeklügeltem Sadismus und kindischem Aberglauben hineinreichen – nicht zuletzt auf den männlichen Wunsch verweisen, etwas zurückzulassen, wenn man »ihn herausgezogen hat« −, sich einer aus dem andern ergeben.

Was die Soldaten bewegt, in der zerrissenen Scheide der Frau einen scharfen, spitzen, schmutzigen Gegenstand zu deponieren, oder gleich mehrere, hat, wie von ihnen selbst bekundet, mit der weiblichen reproduktiven Natur zu tun, die ein Schicksal ist, vor dem man nicht davonlaufen kann, einer Fähigkeit, für die man gegebenenfalls büßen muss. Meseret Hadush drückt es nur ein wenig anders aus, wenn sie »die Mütter« als das Zentrum und den Inbegriff des Volkes der Tigray bezeichnet. Denn nur dann wird der weibliche Körper erfasst, wenn er, altmodisch ausgedrückt, als ein individuelles und ein gesellschaftliches Sein wahrgenommen wird. Die einzelne Frau erlebt ihre höhere Bestimmung als eine physische Fremdheit, eine ›Sichselbstfremdheit‹, die sich in Kategorien der Räumlichkeit, dem nie ganz auszulotenden Verhältnis von innen und außen manifestiert. Was innen ist, kann exploriert, es kann auch nach außen geschafft werden, dass ein Inneres ist, schafft Rätsel. Darum transportieren die kruden Fundstücke noch den heiligen Schauder des Tabubruchs. Denn wer hier Schaden zufügen will, ist doppelt gefordert: Er muss nicht bloß zerstören, er muss sich auch versündigen. Im militärischen Kontext − der hier in merkwürdiger Verdrehung die Zivilisation repräsentiert −, ist, die Frauen ins Visier zu nehmen, kein soldatisches Handeln, sondern ein Ausrutscher. Es ist primitiv. Dadurch, dass solches Handeln in eins politisch und anthropologisch begründet, auch psychologisch gerechtfertigt wird, ist es nicht weniger primitiv. Primitivität ist, wie bereits die Vielzahl seiner Begründungen verrät, nicht geradezu und direkt, sondern unheimlich. Man muss dem Erschauern trotzen. Man muss in Kauf nehmen, dass sich das Gegenteil der eigenen Absicht realisiert, die physische Vernichtung mit der symbolischen Verewigung einhergeht.

Was aber ist innen, wenn es nicht die Brutstätte der Menschheit, sondern bloß das Innere des je eigenen Körpers ist, »das Innenleben«, wie der Mechaniker sich ausdrückt, der die Waschmaschine am Geheimnis des Lebens partizipieren lässt? Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich sagen: Wenn man sich mit dem Körperinneren nicht auseinandersetzt, hat man vom Leben keine Ahnung; immerhin, man lebt. Wenn einem der Körper Beschwerden bereitet, gar Kenntnisse aufdrängt, sogenannte Befunde, dann ist man in der Klemme; halb lebt man schon nicht mehr. Wenn man aber meint das äußere Leben so lange wie möglich gegen das innere verteidigen zu müssen, dann hat man schon verloren. Deshalb meine ich, man sollte vor dem Inneren die Augen nicht verschließen. Es ist auch gar nicht so schlimm wie die Schrecken, die die Vorstellung, nur weil sie Vorstellung ist, ihnen zuspricht. »Das ist nur äußerlich«, sagt man beruhigend, wenn etwas richtig schlimm aussieht. Auch das Innere ist keine gespenstische Welt. Es schreckt nur dann, wenn die Ortsbestimmung mit einer Wesensbestimmung verwechselt wird. Dabei ist es bloß innen, so wie anderes außen ist. »Innen drin«, wie die Kinder sagen, bevor sie etwas herauspuhlen.

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Nachtrag: Steve Bean Levy war als Komödiant wie niemand qualifiziert, das sorglos Luftige des Lebens darzustellen. Im Bericht über seine tödliche Krankheit My Year Without a Nose2 stellt er sich seinem Innern so sorglos, naiv, neugierig und interessiert, wie er als Komödiant dem Leben begegnet war. Das macht ihn zum Helden. Die junge Frau aus Körper innen (2) − Delhi crime, Opfer einer Gruppenvergewaltigung der entfesselten Art, erkennt das aus ihr herausgezerrte Innere prompt nicht als das Eigene, ist es seiner Wesensbestimmung, innen zu sein, doch beraubt. Aber auch sie ist für mich eine Heldin. Gegenüber der erdrückenden Übermacht der Tatsachen wahrt sie die Integrität ihrer Person. »Was das war, weiß ich nicht«, sagt sie, wie man so sagt, wenn einem ein unbekanntes Objekt begegnet und man zum Spekulieren wenig geneigt ist. Meseret Hadush begegnet dem Unzumutbaren mit der Gegenstrategie: »Aufheben und ansehen.« Sagt Freud: »Wo Es war, soll Ich werden«, deutet sie an: Wo Ich war, wird (wohl) Es sein. Indem sie diesem Verdacht nachgeht, beweist sie Mut, muss sie den Ideen der Täter doch bis zu einem gewissen Punkt folgen. Sie muss sich auf sie einlassen. Gäbe es das Ästhetische nicht, das Sammeln und Aufbewahren, das Ordnen und Umordnen, das Betrachten und Zeigen, das Bedenken und Bereden, es wäre wohl nicht zum Aushalten.

 

1 https://www.arte.tv/de/videos/120675-000-A/tigray-vergewaltigung-als-waffe (abrufbar bis 12.11.2027).

2 https://melmagazine.com/en-us/story/my-year-without-a-nose, kommentiert in: Ilse Bindseil. 2024. »Körper innen.« In: Ästhetik & Kommunikation 192/193, 201–202.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt41.html.

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