Ilse Bindseil
Gedacht bloß als eine Persiflage auf KI, die Allgegenwart der künstlichen Intelligenz, überhaupt die Durchsetzungsfähigkeit, auch den − man kann auf deutsche Schlagwörter zurückgreifen – ›Alleinvertretungsanspruch‹ von Themen, die sich auf die Tagesordnung setzen, hatte »Körper innen« von Anfang an ein Moment von Betroffenheit, von peinlicher Nötigung: Wie konnte es sein, dass ich auf ein Allerweltsthema wie KI das Innerste nach außen kehrte! Dabei war ich nur nach der Regel der freien Assoziation gegangen und auf die Frage, was mir zu KI einfällt, war mir, der Buchstabenfolge entsprechend, »Körper innen« eingefallen.
Die Assoziation war das eine, die Analyse das andere. Es ist nicht das Innerste, hatte ich mir gesagt, es ist bloß das Innere des Körpers, und mich an die Arbeit gemacht.
Steve Bean Levy. »My Year without a Nose«. MEL Magazine 13.08.2018.2
Als mir Es denkt – Für eine gesellschaftliche Definition des Geistes3 in den Schoß gefallen war, hatte ich im Gefühl der Beschränktheit dieser doch auf Unbedingtheit fixierten Unternehmung hinzugesetzt: »… und einen Verzicht auf die Definition des Körpers«. Was mir an Kenntnis des Körpers seitdem zugeflogen ist, das habe ich, selbst da, wo es mich unmittelbar traf, dankbar entgegengenommen. Sogar dem Altern mit seinem unerbetenen Reichtum an Auskünften kann ich etwas abgewinnen.
Ein ikonischer Text über den Körper ist für mich die Darstellung, die der britische Schauspieler und Comedian Steve Bean Levy (1960–2019), Steve Bean, Monk, seiner Krankheit gewidmet hat. Ausgerechnet er, der, man könnte scherzend sagen, mit Hilfe seiner großen Nase, einem Familienerbstück, die Schauspielkarriere gemeistert hat, ist an einem Krebs der Nasennebenhöhlen erkrankt und binnen kurzer Frist verstorben. »My year without a nose« vermittelt das Mitteilungsbedürfnis des Kranken mit dem Auftrag des Comedians zu unterhalten, in einer Vollkommenheit, die den Eindruck statt von Mühsal und Tod von Schwerelosigkeit und Unsterblichkeit weckt.
Ich verbiete es mir, mit den Details von Levys Leiden zu protzen. Wer will, kann den Bericht im World Wide Web nachlesen, jenem merkwürdigen Medium, das Wissen auch für die bereit hält, die gar nicht scharf darauf sind. Es ist nicht das Schlimmste, was am meisten trifft, eher das Beschwerliche, das man wiedererkennt, mit dem man selbst schon mal zu tun hatte. Hier, auf der untersten Ebene der Leidenserfahrung, weist es den Weg ins Unerträgliche und macht regelrecht Angst.
Eher umgekehrt ist es mit den Entdeckungen im Inneren des Kopfes durch die Öffnung der vormaligen Nase. »And I can really look IN there. There’s a vast space here.« Was zählt, ist das Fremde, das Wunderbare, das Ungeheuerliche. Es ist ein einmaliger Blick und ein einzigartiger Anblick, der dem Erkrankten geboten wird. »Inside The Wound is an entire world – a vast cave, a chasm. There’s a complete alien landscape in there, on a planet never before explored.« Der weist Anklänge an 2001 auf oder was immer wir an Vergegenständlichungen des Unbekannten in unserer Vorstellung gespeichert haben und was mit Landschaft zu tun hat, durch die man reist; komisch, eigentlich doch die harmloseste Erfahrung von allen. Die unstillbare Neugier, die den Comedian immer schon einer schrankenlosen Wahrnehmung aussetzt, zieht ihn auch hier auf die Seite des Gegenstands. Wären die Voraussetzungen nicht fatal, könnte er sich als Glückspilz bezeichnen. »It’s A Horror, and I cannot turn away from it. It’s also a secret – no one is meant to see it.« Beschreiben ist angesagt. Künden wäre das richtige Wort. Für uns ist der Schock vorprogrammiert, zugleich wie ab ovo deformiert: Was würden wir tun, wenn das uns passierte!
Meine Gedanken schlagen Purzelbaum. Wie gehen wir mit unserem Körperinneren um? Am besten gar nicht, flüstern mir die Helden der tödlichen Geschichten zu, es geht sowieso mit uns um. Aber wie kommt es, dass wir so gar nicht neugierig sind? Dass wir uns nicht einmal wundern? Dass wir uns gar nichts fragen?
Da wir das karge Innere längst durch ein ausgestaltetes Innerliches ersetzt haben, bemerken wir nicht einmal die Lücke. Dass da etwas ist, wissen wir, aber es sagt uns nichts. Wir reagieren erst, wenn es uns überwältigt. Dem ursprünglichen Verhältnis ist damit nicht Rechnung getragen. Dabei könnte es einen Hinweis auf die Natur unserer Verknüpfung mit der Wirklichkeit enthalten und ein Anreiz sein, uns mit ihr zu beschäftigen.
    In der ersten Staffel der Fernsehserie 
Angesichts des erratischen, von einer schier unbegreiflichen Zerstörungswut geprägten Verbrechens sticht das Moment von wie immer zufälligem Sinn und Zusammenhang befremdlich heraus und muss als solches erwähnt werden, bevor es beiseite getan wird, hat die Tat doch auf irgendeine Weise mit den Umarmungen der jungen Frau und ihres Freundes, den als schamlos und vielleicht auch erregend empfundenen Zärtlichkeiten im leeren Bus zu tun, verdankt sich also nicht nur ganz allgemein der prekären Verfassung der Moral, sondern auch konkret einem aufgenötigten Voyeurismus, sprich Eifersucht und Neid. Was sich daraus ergab, folgte einer eigenen Logik. Mit der Primitivität des Verbrechens kontrastieren die diversifizierten, allein in einer gewissenhaften Aufzählung zu erfassenden Zerstörungen am Körper der Frau. Wie in einer Litanei müssen sie einzeln genannt werden und wie in einer Litanei werden Nachrichten aus dem Inneren einer unbekannten Körperwelt geliefert, Nahe- und Fernerliegendes wird zueinander geführt, Vertrautes und Befremdliches, Zusammenhängendes und Unzusammenhängendes, innen und außen, schlimmer noch: unten und oben. Es sind news, die sich zu keinem Bild formen wollen. »Ich weiß nicht, was sie da rausrissen«, sagt die junge Frau am Schluss. Ich kann sie trösten: Wir wüssten es auch nicht. »Sie schlugen …, sie stießen …, sie haben mir …«, sagt sie gleich in der ersten Aussage, mit ihrer eigenen Litanei anhebend. »Ich glaube, sie haben mir das Fleisch von innen herausgerissen.« Und in der Mitteilung an die Familie: »Es tut so weh.«
Wer wem auch immer vom Geschehenen Mitteilung machen muss, verfällt von selbst in diese nicht abzukürzende Aufzählung, und kein Ende ist, bevor nicht auch jene Verletzungen genannt sind, die mit den weiblichen Organen am wenigsten zu tun haben, mit umso größerer Sicherheit aber zum Tod führen werden. Niemand hört es sich freiwillig an, aber alle wollen sie wissen, was in einem Land, in dem Gruppenvergewaltigung nicht unbekannt sind, diesen Fall so besonders macht: Es ist das »Teuflische«, wie die abgehärtete Kommissarin sagt, das alle Vorstellung sprengt, verübt wie stets von Menschen, denen das Dämonische durchaus abgeht, in deren eher kläglichem Format das Ungeheuerliche gar nicht unterzubringen ist, es sei denn, man macht eine Ausnahme mit dem schmächtigen Anführer, in dem der Hass brennt.
In einer bei Arte ausgestrahlten Reportage über Vergewaltigung als Waffe4 wird von Meseret Hadush, einer äthiopischen Musikerin, berichtet, die sich, über die tagtägliche praktische Hilfe für die misshandelten und verstümmelten Frauen von Tigray hinaus, des skandalösen Verbrechens, das an ihnen verübt wurde, in einer Weise angenommen hat, die dem engagierten Hilfsprojekt, das sie ins Leben gerufen, und der Reportage, die nicht zu Unrecht einen Grand Prix davongetragen hat, ein besonderes Gewicht verleiht.
Bei den Operationen waren nicht nur schwerste Verletzungen zutage gekommen, sondern auch Gegenstände geborgen worden, die die Vergewaltiger nach dem Koitus in die Scheide, womöglich auch den Uterus der Frauen praktiziert hatten, verletzende Gegenstände wie verrostete Nägel und Klingen, aber auch schriftliche Botschaften, die das Tun am verborgenen Ort, im Innern der misshandelten Körper, rechtfertigten: Tigray-Frauen sollten nie mehr gebären können. Meseret Hadush kam auf die Idee, diese Gegenstände aufzuheben und nebeneinander zu legen, weg von den geschundenen Körpern, einer neben den andern, wie archäologische Fundstücke aus ein und derselben Grabung, Zeugnisse einer verschollenen Kultur, zugleich wie Schätze, die man an einem unzugänglichen Ort versteckt, oder Fähnchen, die man auf einem Gipfel aufpflanzt, stolze Beweise: Wir waren da.
Aber mit dem Sammeln und Aufbewahren ist es ein eigenes Ding. Es löst das Geschehene aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus und stellt es in einen neuen. Mag das Gefundene eine Untat beweisen, als Fundstück ist es ein Baustein, es baut an der Kultur. Im Ensemble hat es eine eigene Würde. Es strahlt Ruhe aus, auch wenn es Barbarisches bezeugt. Meseret Hadush wagt den Sprung. Sie bewahrt auf, was die Soldaten im Körper der vergewaltigten Frauen hinterlegt haben. (Auch sie hatten bereits eine Absicht.) Aus der kriminalistischen Beweissicherung macht sie eine Ausstellung, aus den Beweisstücken den Gegenstand einer über sie hinausgehenden Betrachtung, einer Vergewisserung. Aus dem Gegenstand macht sie eine Anrede und eine Aufforderung: Seht!
Manchmal hebt man etwas auf und weiß noch gar nicht, warum. Meseret Hadush, und das macht sie zur Heldin der Geschichte, handelt, wie man so sagt, aus dem Gefühl heraus. So können die diffizilen Gründe, die in das Gebiet von Kultur und Verbrechen, von Mythos und Religion, von ausgeklügeltem Sadismus und kindischem Aberglauben hineinreichen – nicht zuletzt auf den männlichen Wunsch verweisen, etwas zurückzulassen, wenn man »ihn herausgezogen hat« −, sich einer aus dem andern ergeben.
Was die Soldaten bewegt, in der zerrissenen Scheide der Frau einen scharfen, spitzen, schmutzigen Gegenstand zu deponieren, oder gleich mehrere, hat, wie von ihnen selbst bekundet, mit der weiblichen reproduktiven Natur zu tun, die ein Schicksal ist, vor dem man nicht davonlaufen kann, einer Fähigkeit, für die man gegebenenfalls büßen muss. Meseret Hadush drückt es nur ein wenig anders aus, wenn sie »die Mütter« als das Zentrum und den Inbegriff des Volkes der Tigray bezeichnet. Denn nur dann wird der weibliche Körper erfasst, wenn er, altmodisch ausgedrückt, als ein individuelles und ein gesellschaftliches Sein wahrgenommen wird. Die einzelne Frau erlebt ihre höhere Bestimmung als eine physische Fremdheit, eine ›Sichselbstfremdheit‹, die sich in Kategorien der Räumlichkeit, dem nie ganz auszulotenden Verhältnis von innen und außen manifestiert. Was innen ist, kann exploriert, es kann auch nach außen geschafft werden, dass ein Inneres ist, schafft Rätsel. Darum transportieren die kruden Fundstücke noch den heiligen Schauder des Tabubruchs. Denn wer hier Schaden zufügen will, ist doppelt gefordert: Er muss nicht bloß zerstören, er muss sich auch versündigen. Im militärischen Kontext − der hier in merkwürdiger Verdrehung die Zivilisation repräsentiert −, ist, die Frauen ins Visier zu nehmen, kein soldatisches Handeln, sondern ein Ausrutscher. Es ist primitiv. Dadurch, dass solches Handeln in eins politisch und anthropologisch begründet, auch psychologisch gerechtfertigt wird, ist es nicht weniger primitiv. Primitivität ist, wie bereits die Vielzahl seiner Begründungen verrät, nicht geradezu und direkt, sondern unheimlich. Man muss dem Erschauern trotzen. Man muss in Kauf nehmen, dass sich das Gegenteil der eigenen Absicht realisiert, die physische Vernichtung mit der symbolischen Verewigung einhergeht.
Was aber ist innen, wenn es nicht die Brutstätte der Menschheit, sondern bloß das Innere des je eigenen Körpers ist, »das Innenleben«, wie der Mechaniker sich ausdrückt, der die Waschmaschine am Geheimnis des Lebens partizipieren lässt? Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich sagen: Wenn man sich mit dem Körperinneren nicht auseinandersetzt, hat man vom Leben keine Ahnung; immerhin, man lebt. Wenn einem der Körper Beschwerden bereitet, gar Kenntnisse aufdrängt, sogenannte Befunde, dann ist man in der Klemme; halb lebt man schon nicht mehr. Wenn man aber meint das äußere Leben so lange wie möglich gegen das innere verteidigen zu müssen, dann hat man schon verloren. Deshalb meine ich, man sollte vor dem Inneren die Augen nicht verschließen. Es ist auch gar nicht so schlimm wie die Schrecken, die die Vorstellung, nur weil sie Vorstellung ist, ihnen zuspricht. »Das ist nur äußerlich«, sagt man beruhigend, wenn etwas richtig schlimm aussieht. Auch das Innere ist keine gespenstische Welt. Es schreckt nur dann, wenn die Ortsbestimmung mit einer Wesensbestimmung verwechselt wird. Dabei ist es bloß innen, so wie anderes außen ist. »Innen drin«, wie die Kinder sagen, bevor sie etwas herauspuhlen.
Steve Bean Levy war als Komödiant wie niemand qualifiziert, das sorglos Luftige des Lebens darzustellen. Im Bericht über seine tödliche Krankheit »My Year Without a Nose« stellt er sich seinem Innern so sorglos, naiv, neugierig und interessiert, wie er als Komödiant dem Leben begegnet war. Das macht ihn zum Helden. Die junge Frau aus »Delhi crime«, Opfer einer Gruppenvergewaltigung der entfesselten Art, erkennt das aus ihr herausgezerrte Innere prompt nicht als das Eigene, ist es seiner Wesensbestimmung, innen zu sein, doch beraubt. Aber auch sie ist für mich eine Heldin. Gegenüber der erdrückenden Übermacht der Tatsachen wahrt sie die Integrität ihrer Person. »Was das war, weiß ich nicht«, sagt sie, wie man so sagt, wenn einem ein unbekanntes Objekt begegnet und man zum Spekulieren wenig geneigt ist. Meseret Hadush begegnet dem Unzumutbaren mit der Gegenstrategie: »Aufheben und ansehen.« Sagt Freud: »Wo Es war, soll Ich werden«, deutet sie an: Wo Ich war, wird (wohl) Es sein. Indem sie diesem Verdacht nachgeht, beweist sie Mut, muss sie den Ideen der Täter doch bis zu einem gewissen Punkt folgen. Sie muss sich auf sie einlassen. Gäbe es das Ästhetische nicht, das Sammeln und Aufbewahren, das Ordnen und Umordnen, das Betrachten und Zeigen, das Bedenken und Bereden, es wäre wohl nicht zum Aushalten.
1 ↑ Ursprünglich erschienen als »Körper innen« in: Ästhetik & Kommunikation 192/193 (2024), 201–202.
2 ↑ Steve Bean Levy. 2018. »My Year without a Nose«. MEL Magazine 13.08.2018, https://melmagazine.com/en-us/story/my-year-without-a-nose.
3 ↑ Ilse Bindseil. 1995, 2.unveränderte Aufl. 2019. Es denkt. Ein Plädoyer für die gesellschaftliche Definition des Geistes und einen Verzicht auf die Definition des Körpers. Freiburg: Ça ira.
4 ↑ https://www.arte.tv/de/videos/120675-000-A/tigray-vergewaltigung-als-waffe (abrufbar bis 12.11.2027).
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt40.html.
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