Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Urteilskraft und Urteilswahn

Urteilskraft: mehr als jedes andere Vermögen inkarniert sie sich in Personen; sie bedarf der Verkörperung. Ihre Gebrauchswertbasis ist der Mensch, der soviel gesehen, erlebt und gelitten hat, daß er sich genötigt sieht, seinen Verstand einzuschalten, das Auseinanderdriftende wenigstens im Kopf zusammenzuhalten, das Überwältigende durch ein kluges Urteil zu bändigen.

Es ist ein altmodischer Mensch, jeder einzelne ein Unikat, wert, für sich und um seiner selbst willen porträtiert zu werden. Der Fußspezialist, der die Krankheiten seiner Klienten aus ihren Füßen errät, nicht ohne mit seinen Händen kraftvoll Kontakt aufzunehmen mit dem fremden Kummer; die Meditationslehrerin, die den esoterischen Erwartungen ihrer Schüler standhält, ihren Rationalismus des Übens gegen deren Hoffnung auf Erleuchtung verteidigt; der Arzt, der das medizinische Übel aus dem überwuchernden gesellschaftlichen Leid, das Begrenzte aus dem Unbegrenzten tagtäglich neu herausfiltert: Sie alle sind altmodisch in dem Sinn, daß sie gegenüber einer vom Verstand förmlich zersetzten Welt auf der Ordnungsfunktion des Verstandes beharren; daß sie angesichts der Untaten des Verstandes sich nicht davon abhalten lassen, ihrerseits den Verstand zu benutzen. Heute sind sie eher selten und in Nischen zu Hause, wenn sich gelegentlich auch das Allgemeine als Nische auftut und mitten im Herzen von Alltag und Verwaltung Urteilskraft blüht, da, wo der Sachbearbeiter eine Sache bearbeitet, nicht eine zur Sache degenerierte Person, vielmehr eine zum Sachverhalt entfaltete Sache. Häufiger aber findet sie sich bei Gescheiterten, die die Tatsache des Scheiterns nicht hingenommen haben, Leuten mit zweitem Beruf oder anderer Ausbildung zum Beispiel, die in ihren obsolet gewordenen ursprünglichen Kenntnissen über das Betätigungsfeld einer von praktischen Zwängen befreiten Urteilskraft verfügen. Alles andere als Fachidioten, stehen sie, obwohl praktisch Entwurzelte, für die Einheit des urteilenden Verstands. Sie verdienen es, den in den Porträts der Renaissancemalerei hundertfach verewigten Köpfen der Handelsbourgeoisie an die Seite gestellt zu werden, die im Abseits allenfalls im Sinne der Dynamik ihres Tuns, auf dem Sprungbrett eher als in der Nische standen. Auch sie hatten Enormes zu synthetisieren, Inkompatibles zu vergleichen, Auseinanderdriftendes zusammenzubringen; die Risiken des Wetters beispielsweise mit denen der Lagerhaltung abzugleichen, die Findigkeit der Technik mit den Tücken des Schicksals. Hatten die würdigen Bürger der Neuzeit es mit der Transzendenz der Natur, so haben die Don Quichottes der Postmoderne es mit der Immanenz der Gesellschaft zu tun. Heroisch, im postmodernen Sinn, ist, wer sich durch die Totalität der gesellschaftlichen Immanenz nicht einschüchtern läßt.

Altertümlich ist die Urteilskraft, weil sie auf Erfahrung als Vermittler zwischen Theorie und Praxis setzt; Theorie in der landläufigen Bedeutung des Satzes: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.« Je mehr Praxis, so lautet die unumkehrbare Gleichung, desto mehr Erfahrung. Der Verstand hinkt der Praxis notwendig hinterher, und wie die Bibel sagt, ist es keine Schande zu hinken. Die Praxis hat für den mit Urteilskraft Ausgestatteten den Charakter eines überwältigenden Erlebnisses. Wo sie fehlt, wie zum Beispiel im künstlichen Milieu des deutschen Bildungsromans, da wird sie ausdrücklich beschafft; der stubengelehrte Proband wird auf Reisen geschickt. Auch heute, wo das innere dem äußeren Erleben erfolgreich Konkurrenz macht, gilt das nämliche: ohne Erlebnisdruck keine Erfahrung. Deshalb ist auch die Vorstellung eines überwältigenden Verstands auf schmalster Erlebnisbasis für den, der sich seiner Urteilskraft auf einem breiten Sockel leidvoller Erfahrung vergewissert, von eher unheimlichem, exotischem Interesse. Er käme nie auf die Idee, sich Gedanken zu machen, hätte er es nicht nötig.

Der mit Urteilskraft Ausgestattete vergißt keinen Augenblick die Herkunft seiner Kraft aus der Praxis. Genauer, er hat nie einen Zweifel am Erfahrungs-, nicht Theoriebezug seiner Urteilskraft, weil er zum rein theoretischen Denken keinen Bezug hat; im Gegenteil, er meidet es. Mit traumwandlerischer Sicherheit – so erscheint es den andern, die entweder zu wenig erlebt oder zuviel Verstand haben – identifiziert er, wovon er etwas versteht, was er beurteilen kann, und scheidet es ab von dem großen Rest, für den er sich inkompetent, unzuständig und von dem er sich zugleich für nicht betroffen erklärt. In dieser heikelsten aller Fragen – die selten die volle Aufmerksamkeit genießt, zugleich über Wohl und Wehe entscheidet – der Zuständigkeitsfrage, erweist er sich als geradezu intuitiv orientiert.

Hierbei irrt er sich wie gesagt nie, weil er – anders als die andern, die sich des besonderen Status der Urteilskraft nicht bewußt sind, da sie sie nicht gebrauchen – streng zwischen Dingen und Ebenen unterscheidet. Über erstere urteilt er nach Erfahrung und nach Analogie; hier traut er sich mehr zu als andere. Im letzteren, dem Fall des Ebenensprungs, urteilt er nicht. Anderer Dinge, als die auf die eine Ebene der Erfahrung gehören, bemächtigt er sich nicht. Auf dieser aber kennt er sich aus; er kennt nicht alles, aber er hat ›das Prinzip‹ begriffen und erweckt damit wie gesagt ungewollt, wenn auch nicht ohne Koketterie den Anschein, er wüßte alles. Sein Milieu ist nicht die unmittelbare Empirie – für viele das einzige Milieu überhaupt –, sondern was aus ihr folgt und wohin es in der Überlegung führt. Kenntnisse über Prionen verbinden sich mit der tristen Realität von BSE, die Erfahrung von Schmerzen mit der Möglichkeit einer fremden, im Doppelsinn ›chinesischen‹ Medizin; psychosomatische Kenntnisse mit der Erfahrung am eigenen Leib, sprich der Seele. Die sachbezogene Reflexion wird als Freiheit des Urteils realisiert, als Spielraum für Urteilskraft: als Freiheit, perspektivisch, von dem, was plagt und bedroht. Für den, der mit der Urteilskraft, das heißt mit dem vorgängigen System von Erfahrung und Leiden ›nichts am Hut‹ hat, bleibt rätselhaft, warum sie sich nicht restlos von ihrem Ursprung, ihrer schwerfälligen Materie emanzipiert und sich aufschwingt in die Höhen der freien Reflexion, die auf ihre Art ja auch vom Alltag befreit, und von wo sie angeblich herkommt. Für den, der aus der Erfahrung heraus urteilt, wäre eine solche Emanzipation der Urteilskraft, eine solche ›Sublimation‹ gleichbedeutend mit der Vernichtung ihrer Grundlagen, besteht sie, die Urteilskraft, doch darin, daß sich der Urteilende sich nicht nur nachträglich, sondern auch ein der Wirklichkeit nachgeordnetes Urteil bildet. Die Emanzipation vom persönlichen Erleben oder vom Gattungsschicksal wird nicht nur mit einem sicheren Gefühl der intellektuellen Ohnmacht, sondern auch, auf der Motivationsebene, mit ›Lustverlust‹ quittiert. Wann aber hätte man gerade unter denen, die in beneidenswertem Maß mit Urteilskraft ausgestattet sind, jemanden getroffen, der sich unmotiviert Gedanken gemacht hätte; sind doch gerade sie für ihre konstante Motivation berühmt!

Es gibt auch weniger tiefgründige Beweise, eher formale Anhaltspunkte für Urteilskraft. Ein solcher Anhaltspunkt ist ihr mündlicher Charakter, besser vielleicht ihr monologischer und jedenfalls nicht schriftlicher Charakter. Wenn sie zunimmt und gedeiht, wenn sie expandiert, dann innerhalb der Verarbeitung von Rezipiertem: immens, wieviel Material sie zu verdauen imstande ist, in welche Monologe die Verdauung sich kleidet, wie sehr sie auf Abstraktion und Formalisierung verzichtet! Vor der schriftlichen Fixierung scheut sie dagegen zurück, schon deshalb, weil diese die Rezeption radikal beschränken würde (wer produziert, kann nicht rezipieren); vielleicht auch aus der Ahnung heraus, daß dadurch ein Objektwechsel, um nicht zu sagen ein Subjektwechsel drohte, ginge es doch in Nullkommanix nicht mehr um die Sache, sondern um die Darstellung, nicht mehr um die Wahrheit der Sache, sondern um die (formale) Wahrheit der Wahrheit, und das solide, das in der Solidität der Sache begründete Urteil rückte in weite Ferne. »Schreiben?« »Aufschreiben?« – »Das kann ich nicht.«, »Dazu komme ich nicht.« So reagiert der mit Urteilskraft, also mit den Insignien der Souveränität und Autonomie Ausgestattete prompt. »Das habe ich noch nie gemacht«, sagt er, oder: »Das ist etwas ganz anderes.« Er hat ja recht; es ist etwas ganz anderes. Was er kann und worum man ihn beneidet, das hat er ohne den Einstieg in die formale Welt des Denkens geschafft; wer weiß, vielleicht gerade deshalb.

Urteilswahn: Er sieht so aus, als entstünde er aus der -kraft. Da hat einer zuviel und zu häufig geurteilt, so sieht es aus, nun weiß er nicht mehr, was er der Erfahrung verdankt. Da er immer routinierter in der Urteilsfindung geworden ist, oder in der Urteilsfällung, glaubt er sich von der spezifischen Kenntnis allmählich dispensiert. Immer öfter wagt er sich auf unbekanntes Terrain, übertreibt mit den Analogien, fällt in Sekundenschnelle sein Urteil, hat eins für alles und jedes parat. Den Unterschied zwischen Erfahrung und Reflexion hat er vergessen. Urteilen kann man über alles, lautet seine Devise; Verselbständigung der Urteilsfunktion, lautet die Diagnose – auch sie ein vorschnelles Urteil.

Der Lehrer zum Beispiel liefert ein ebenso plausibles wie falsches Porträt. Zwar ist er zum beständigen Urteilen verpflichtet und erwirbt auf diesem Gebiet Sachverstand. Aber er ist keineswegs per definitionem seines Berufs die Inkarnation der Urteilskraft: Wenn er ein schlechter Lehrer ist, personifiziert er sie allenfalls als Karikatur; bei ihm purzeln die Zensuren wie die reifen Äpfel. Ist er ein guter, dann plagt er sich immer neu mit der Vermittlung beileibe nicht nur zwischen einzelner Leistung und Zensur, viel mehr noch zwischen der allgemeinen Welt der Qualifikationen und jener anderen der Sachen. Das Wesen der Urteilskraft, ihr eigentliches Terrain, ist ja, daß sie Theorie und Praxis in der einzig adäquaten Form von allgemeiner und spezieller Kenntnis immer neu vermittelt und die Praxis daher die Theorie immer wieder anwenden, sich von dieser immer wieder anleiten läßt, auch um den fatalen Preis, daß sie, die Praxis, dabei zunehmend theoretisch wird und transzendentale Fragen, Grenzfragen anteilsmäßig immer wichtiger werden. Wer dies zuläßt, der verfügt nicht nur über Urteilskraft, er ist auf dem besten Weg, ein weiser Mensch zu werden.

Der Lehrer ist ein Beispiel also weder für Urteilskraft noch für Urteilswahn. An ersterer hat er nicht mehr und nicht weniger Anteil als andere; mit letzterem hat er nichts zu tun. Überhaupt hat die heruntergekommene Urteilskraft, für die es Beispiele gibt noch und noch, mit Urteilswahn nichts zu tun. Die Ausdrucksformen einer heruntergekommenen Urteilskraft sind zum Beispiel Monologisiererei, Räsoniererei, Analogisiererei – wogegen der zum Zensieren berufsmäßig Verurteilte eher dazu tendiert, immer und überall zu zensieren. Der Urteilswahn dagegen, so sehr er sich in die eine oder die andere der depravierten Formen der Urteilskraft kleiden mag, hat bei aller äußerlichen Ähnlichkeit einen anderen Charakter, ja möglicherweise eine andere Quelle. Auch wo im tragikomisch wortwörtlichen Sinn Urteilskraft und Wahn aufeinandertreffen, haben sie nichts miteinander zu tun. Wenn ein kluger, also mit Urteilskraft ausgestatteter Mensch in Wahnsinn oder in Demenz verfällt – so daß er, in der Dorfsprache, »nichts mehr von sich weiß«, er, den sie alle um sein Urteil gefragt haben! –, so mag der Verlust in diesem Fall zwar besonders hoch bewertet werden, aus ihm ergibt sich aber keine reziproke Kausalität. Nicht hat der Wahnsinn mit der Urteilskraft deshalb zu tun, weil er, wo letztere reichlich vorhanden war, vielleicht als besonders traurig gilt! Die Sache riecht vielmehr nach der Rache der weniger Befähigten. Grundsätzlich jedenfalls gilt: An der Urteilskraft erkrankt man nicht, aber man kann sie durch Krankheit verlieren. Wenn es etwa zum Tod der ›gefürchteten‹ Filmkritikerin Pauline Kael heißt, »sie litt seit langem an der grausamsten Krankheit, die sich ein Kritiker vorstellen kann: an Alzheimer« (Berliner Zeitung, 05.09.2001), dann liegt nicht ein besonders tragischer Fall, sondern eine falsche begriffliche Anbindung vor; Alzheimer ist ja für eine Floristin nicht weniger ›grausam‹ als für einen Kritiker, selbst wenn dieser der gegenteiligen Ansicht wäre und darin tatsächlich eine wahnhafte Auffassung von seiner urteilenden Tätigkeit verriete.

So autonom ist im Fall des Urteilswahns der Urteilende gegenüber den Legitimationsinstanzen der Urteilskraft – Erfahrung, Kenntnisse des praktischen Verstands –, dass, wie angedeutet, geradezu der umgekehrte Eindruck sich aufdrängen kann, er speise sich aus einer ganz anderen Quelle: Ist in seinem Fall etwa das, was ihn ausmacht und ihn zugleich krankmacht, die Theorie, das theoretische Denken? Feinde der Logik haben diese schon immer mit dem Wahnsinn identifiziert. Dabei mag man streiten, was einem verrückter vorkommt: der Übergriff des theoretischen Denkens auf die Praxis – wo es, wie die bescheidene, dafür ungemein tüchtige Urteilskraft signalisiert, nur als Diener beschäftigt werden kann – oder der Verzicht auf dieselbe, der Rückzug in den Elfenbeinturm theoretischer Selbstbezogenheit, der schon immer ein Sinnbild der Verrücktheit war. Gefährlicher scheint das erstere allemal, wenn zugleich auch normaler. Den ›Normalen‹ gilt denn auch die gefährlichere Version als die gesündere, die harmlose Elfenbeinturm-Version dagegen als geradezu unheimlich.

Die Theorie von der anderen Quelle des Urteilswahns hat viel Bestechendes für sich – gegen sich hat sie, daß in ihr Quelle und Funktion zusammenfallen: Denken selbst, als formale und formalisierende Tätigkeit, ist ihr zufolge verrückt. Für sich hat sie die strikt unterschiedliche Obsession, die dafür verantwortlich ist, daß Urteilskraft und Urteilswahn sich einer im andern nicht wiedererkennen, den jeweils andern vielmehr als fremd, von anderer Kategorialität, sich selbst von ihm dagegen als ausgelöscht empfindet; immerhin leuchtet dem Wahnsinnigen der Wahnsinn aus den Augen, dem mit Urteilskraft Ausgestatteten dagegen die Welt (der er womöglich nicht gewachsen ist, weswegen er auch ein bißchen verrückt wirkt). Was dagegen in letzter Instanz gegen die Theorie von der anderen Quelle entscheidet, ist, daß es diese nicht gibt beziehungsweise allererst um den Preis der Verdinglichung gäbe: Denken, das mit Wahnsinn in eins zu setzen wäre, müßte selbst eine eigene Quelle haben! Ist deshalb die Versuchung auch noch so groß, den Urteilswahn als eine originale Haltung des Subjekts, als seine ›Subjekthaltung‹, die Urteilskraft dagegen als die Projektion einer objektiven Verknüpfung ins mehr oder weniger zufällige Subjekt zu begreifen, das eine also auf die Subjektseite, das andere auf die Objektseite zu stellen, so muß man ihr doch widerstehen, will man den Plausibilitätsgewinn nicht mit einer Vervielfältigung der Quellen bezahlen, die Gedankenarbeit erspart, gedanklich aber selbst nicht zu bewältigen ist.

Es hilft also nichts, das Auseinanderdriftende muß wieder zusammengeführt, die Einheit von Urteilskraft und Urteilswahn muß neu hergestellt werden.

Beim Urteilswahn mißachtet der Urteilende die Erfahrungswelt nicht, er streitet vielmehr um sein Recht auf sie; mit diesem immer schon verquer und herrschsüchtig anmutenden Anspruch tritt er auf, polarisierend allein schon durch seine (verdoppelte oder verdinglichte) Existenz, die das Gegenüber in die Position des stummen, dumpfen, des verführten oder verblendeten Gegenstands rückt. Tatsächlich aber ist diese Spaltung, die er verursacht, nichts anderes als der Reflex der Spaltung, die er empfindet; kämpft er doch – indem er auf sein Recht auf die Erfahrungswelt pocht – in Wirklichkeit bloß um sein Recht in ihr und ist deshalb in seiner absoluten Irritabilität nichts anderes als, um es pathetisch auszudrücken, ein permanenter Schrei nach Symbiose. Was aber von der Erfahrungswelt, ihren Praktikern der Hand und des Kopfes, als der hanebüchene Gipfel der Anmaßung, als nackte Herrschsucht oder eben heller Wahnsinn aufgefaßt wird, als schierer Bemächtigungstrieb, nämlich das Urteil, das ist in seiner konstitutiv widersprüchlichen Form, als scharfgemachte Theorie, nichts anderes als bloß eine Simulation der Praxis; präsentiert sich indessen als Sprung in dieselbe und wirkt deswegen so gefährlich.

Was treibt den im Urteilswahn Befangenen aus der Erfahrungswelt hinaus und schweißt ihn im Simulationsverfahren zugleich wieder mit ihr zusammen? Genaugenommen ist es das Brachiale seines Urteils. Ruinös, wenn’s denn praktisch würde, aber schlapp, als theoretisches Urteil, wenn’s nicht wenigstens brachial ist, scheint es in dieser aporetischen Form die große Aporie des Gedankens nachzustellen, der, je näher er einer Sache tritt, desto weiter sich von ihr entfernt und deshalb, frei nach Karl Kraus, auch desto ferner von ihr angesehen wird. Die Zuspitzungen, in die das Urteil unermüdlich treibt, erwecken den Eindruck, als könnte man die unvermeidliche Richtung des Gedankens umkehren; so als würde, je schärfer man denkt, desto gewisser der Gedanke in Praxis umschlagen.

Und wie kommt es zum brachialen Urteil? Durch den Gedanken, der sich, je näher er seinem Gegenstand tritt, desto nachhaltiger von diesem entfernt? Die Konstruktion stimmt nicht, auch wenn es die Aporie des Gedankens gibt und der im Urteilswahn Befangene sich durchaus auf sie beruft, mit der klassischen Wende, die empirische Wirklichkeit sei so böse, daß man sie nur noch attackieren könne, und sie sei es in einer so zusammenhängenden Form, daß man es nur noch von einer ›unwirklichen‹, einer rein geistigen Position aus tun könne, nicht mehr auf Vermittlung hoffend, nur noch auf Umschlag. Handelte es sich um Theorie, dann würde diese für den Verlust an unmittelbarem Realitätsbezug durch einen Zuwachs an theoretischer Konsistenz, und nicht nur das, durch eine Zunahme der Abbildfähigkeit der Theorie im ganzen gegenüber der Praxis entschädigt, der Theoretiker würde sich zusätzlich durch eine gewisse Distanz gegenüber der Praxis entlastet sehen. Für Brachialität wäre kein Anlaß. Dagegen erinnert das brachiale Urteil, so wie es in den Zusammenhang des Denkens sich einfügt beziehungsweise unerbittlich aus diesem herausfällt, in seiner ganzen Konstitution an den Trieb, genauer an jenen trüben Befund der Kinderanalytikerin Anna Freud, die bei ihren Probanden, je näher, das heißt früher sie hinschaute, desto deutlicher nicht sublimierungsfähige Triebmengen entdeckte. Es gab einfach Kinder, stellte sie wie in einer Wende gegen Freuds vergeistigte Theorie fest, die verfügten über eine unglückselige Menge an Trieb beziehungsweise dieser verfügte über sie, und so konnten sie ihr Leben lang nicht zu einem glücklichen Ausgleich gelangen (und Anna Freud nicht zu einer halbwegs theoretischen Theorie). Auch im Fall des Urteilswahns scheint es so etwas wie eine sublimierungsunfähige Menge zu geben, etwas – so sehr das Urteil natürlich eine theoretische Form hat – Nichtgedankliches, das auf dem Urteil lastet wie bei Anna Freud der Trieb auf dem Kind. Es ist der Wahn, der nicht im Urteil als solchem steckt – so daß also jeder, der urteilt und also auch der, der durch seine Urteilskraft imponiert, im Grunde am Wahnsinn gebaut hätte –, sondern der als Nicht-Urteil, als nicht geistiges, vielmehr sprachloses, nicht sublimierbares, auf eine unerklärbare Weise materielles, eben kontingentes Element in gleichsam physikalisch abgegrenzter, nicht logisch vermittelter Form im Urteil enthalten ist, in dinglich unaufgelöster, nicht in logischer Form in ihm steckt. Die Versuchung ist groß – und da wären wir wieder bei der Urteilskraft –, den Urteilswahn noch ein letztes Mal auf die Sache selbst zurückzuführen, kann das Nichtgedankliche des Urteils doch nur der nichtgedankliche Gegenstand sein, von dem es im übrigen ständig ausgeht und aus dem es seine Rechtfertigung bezieht: daß er des Gedankens bedürfe. Zudem, haben wir festgestellt, lebt der im Urteilswahn Befangene, vom Urteilswahn Gejagte in einer unerklärten Symbiose mit der Praxis; wirkt er doch wie der berühmte kantische Herrscher ohne Gebiet und sein Urteil wie das Kriegsrecht, das er über die Wirklichkeit verhängen würde, könnte er nur, wie er wollte. Also müßte auch alles, was an seinem Urteil böse ist, aus einer durch das Ungeklärte des Verhältnisses wie immer mißverstandenen Praxis herrühren. Würde dieses Verhältnis korrigiert, ins Licht des Bewußtseins und der Öffentlichkeit gerückt, gewissermaßen offiziell gemacht, würde das Urteil sich von selbst mäßigen, und niemand müßte sich mehr Gedanken darüber machen.

Aber auch das so verständnisvolle Entstehungsmärchen vom Ausgeschlossenen, der, hinauskatapultiert aus einem Zusammenhang, in dem der Gedanke an die Tat gebunden ist, sich diesen Zusammenhang nur noch sub specie des Zurückkatapultierens denken kann – weswegen jeder Gedanke einen theoretischen Sprung verkörpert und praktische Gewalt verheißt –, greift noch einen Tick zu kurz. Weil er zur Brachialität neigte, deshalb wurde der im Urteilswahn Befangene ja aus der sich – auch in der Revolution noch! – gemäßigt und kontinuierlich gebenden Wirklichkeit ausgeschlossen; oder er wurde gar nicht erst hineingelassen. Da war etwas an ihm, etwas unverträglich Einzelnes, das drohte den faktischen Konsens, auf dem die Wirklichkeit beruht, zu sprengen: den nämlich, daß sie auf Konsens beruht! Da es sich der Praxis entgegenstellte, mußte es wohl Geist sein. Daß es im geistigen Zusammenhang des Urteils dann genauso brachial sich ausnahm wie in der Praxis, schien ein Problem des Geistes zu sein: So würde er sich gebärden, wenn man ihn ließe!

Man mag darüber streiten, wer durch den Urteilswahn mehr gekränkt wird: die Praxis, die der im Urteilswahn Befangene beständig zu simulieren scheint, über deren konstitutive Eigenschaft, Realität zu verkörpern, wirklich zu sein, er sich beständig hinwegsetzt, oder die Theorie, deren kostbarer, sie einzig legitimierender Abstand zur Praxis durch seinen eingreifenden Gestus zunichte gemacht wird. Tatsächlich haben sie beide auf der unmittelbaren Ebene, auf der sie von ihm berannt werden, mit ihm nur wenig zu tun. Um so mehr auf der abstrakten Ebene, auf der sie, Theorie und Praxis, die Welt naiv unter sich aufgeteilt haben, nicht achtend der Möglichkeit, daß ihnen aus einer ihrer Verkörperungen, einem ihrer Gedankenschritte ein solcher Stolperstein erwachsen könnte, ein zum Widersacher verselbständigtes Fragment ihrer selbst, ein seltsam erratisch anmutendes, um alle Vermittlungen gebrachtes, geradezu unheimlich autonomes ›Nein‹ oder mit aller denkbaren Affirmation ausgesprochenes ›Ich‹, das die Grundlage im übrigen der Urteilskraft ist. Dieses Ich, als das selbstbewußte Ich der Urteilskraft, kann sich in einer kollektiv vollzogenen und sachlich dominierten Praxis prima entfalten, es ist dort in seinem Milieu. Für die Urteilskraft gilt, was Vico vom »freien Gebrauch des Willens« sagt: daß es »das ›Eigentümliche‹ des menschlichen Wesens« sei »was ihm nicht einmal Gott nehmen kann, ohne ihn zu zerstören, indes der Verstand eine passive, der Wahrheit unterworfene Kraft ist.« (Die neue Wissenschaft, 2.Buch, 1.Abt.) Das ›grandiose‹, noch im theoretischen Milieu gewissermaßen auf die Freiheit seines Willens pochende Ich des Urteilswahns kann sich dagegen in einer kollektiv bestimmten Praxis nur ebenso fremd fühlen wie in einer affektarmen, zugleich ›formallogisch‹ dominierten Theorie. Gegenüber der Praxis wird der im Urteilswahn Befangene immer darauf bestehen, daß sie falsch, ja das Falsche ist – fehlt ihr doch der primäre Bezug auf das Ich –, und gegenüber der Theorie, daß sie als Nur-Theorie armselig ist, ist sie doch, wie man so sagt, blutlos und lohnt ›irgendwie‹ – für das aus dem Bezug herausgefallene Ich nämlich – nicht.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 127 (2004), 93–98.

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