Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt einer unglücklichen Frau

Sie heißt Meier, Müller oder Schulz. Sie geniert sich, als sie sich vorstellt, weil der Name so bedeutungslos klingt. Sie selbst wirkt ein bißchen leer: viel Anspruch, so hat es den Anschein, und wenig Substanz. Über ihren Mann war sie mit dem Geschäftsleben verknüpft, früher, bevor er pensioniert wurde. Vielleicht war sie einmal seine Sekretärin. Mit dem Geschäftsleben hat sie immer noch zu tun. Ihr Schwiegersohn, der bei einer großen Computerfirma arbeitet, fährt einen Dienstwagen; ihre Schwester, Witwe, ist durch ihre Ehe richtig reich geworden. Von ihren Verwandten, deren gesellschaftliche Ansprüche sie innerlich teilt, ist sie am wenigsten bedeutend. Womöglich ist sie scharfzüngiger als die andern; vielleicht hat sie hier ein Plus. In der Situation, in der sie sich befindet, haben die andern keine Möglichkeit zu demonstrieren, daß sie auch spitz sein können. Jedenfalls ist sie nicht reich genug, daß man davon reden müßte, aber auch nicht so arm, daß sie Mutterwitz und Solidarität entwickelt hätte; nur eben diese Scharfzüngigkeit der Sekretärin. Um würdigen zu können, daß sie geradezu spektakulär jung aussieht, müßte man so indiskret sein, sie nach ihrem Alter zu fragen. Obwohl, unangenehm war ihr das nie. Im Gegenteil, nur jetzt hat der Triumph jeden Sinn verloren. Sie mag die Menschen nicht, wie sie selbst sagt, dafür liebt sie die Tiere. Vor der Glastür, so daß sie das Geschehen vom Bett aus verfolgen kann, hängt ihr Mann alle paar Tage einen Futterknödel auf. Um ihn herum tummeln sich Finken, Spatzen und Spechte. Sie kennt alle Vögel mit Namen. Über die Tiere hat sie sich Bildung angeeignet, ein gewisses wissenschaftliches Interesse, über ihre kritische Einstellung Menschen gegenüber so etwas wie Philosophie.

Sie ist keine warmherzige Frau und, wenn man sich entscheiden müßte, eher böse als gut. Über die Station schreitet sie, als wäre sie etwas Besseres: zu vornehm, um sich gemein zu machen, zu vornehm auch, um sich über irgend etwas zu beklagen. Zum Essen kommt sie regelmäßig zu spät, tritt zögernd ans Buffet, schnuppert ein bißchen herum, wählt mit spitzen Fingern ein Ei und ein Brötchen aus und »hat« wie immer »keinen Hunger«. Den spärlich gefüllten Teller trägt sie auf ihr Zimmer. Obwohl sie nicht bettlägerig ist, ißt sie nicht mit den andern. Zu vornehm oder zu krank: wer will das wissen? Auf seltsame Weise bringen ihr Charakter und ihre Krankheit die gleiche Wirkung hervor. Mißbilligend schauen ihr die andern nach, sie, denen es ebenfalls schlechtgeht. Diese Frau, heißt es, wird es schwerhaben mit ihrer Krankheit. Aus dem Mund von Fachleuten wiegt die Prognose schwer.

Weil sie »nicht essen konnte«, ging sie zum Arzt. Über zwanzig Pfund Gewichtsverlust, das ist bei einer Frau von fast siebzig kein Pappenstiel. Sie wird durchgecheckt: alle Befunde sind okay. Es heißt: Sie müssen wieder essen. Zu Hause, bei Tisch, kommt es zu unerfreulichen Auftritten. Ihr Mann sagt: Reiß dich zusammen. Als sie trotzdem nicht ißt, schickt man sie zum Psychologen.

In ihrem Alter schickt man sie zum Psychologen! Er befragt sie nach ihrer Kindheit und nach ihrer Ehe: Wie ist es im Bett? Er hält ihr die Befunde unter die Nase und wedelt mit den Röntgenbildern: »Hier haben Sie es schwarz auf weiß, daß Sie gesund sind.« Und wörtlich: »Stellen Sie sich nicht so an.« Schließlich rät er zu einem Kuraufenthalt. Vorher soll sie für ein paar Tage ins Krankenhaus, damit der Antrag schneller durchgeht.

Bewaffnet mit sämtlichen Befunden, findet sie sich im Krankenhaus ein. Wie üblich werden alle Untersuchungen noch einmal gemacht. Das erste Röntgenbild zeigt, daß sie einen Tumor hat. »Wie gut, daß Sie rechtzeitig gekommen sind.« Das zweite zeigt, daß er nicht operabel ist. Als ich in ihrem Zimmer Einzug halte, ist sie immer noch in vollem Aufruhr, in voller Auflehnung: Wie kann es sein, daß sie einen Tumor hat, wo alle Untersuchungen das Gegenteil bewiesen haben! Gleichzeitig geht sie sorgsam, ja ein wenig eitel mit sich um. Sie muß auf sich achten, hat man ihr eingebleut. Sie darf sich nicht gehenlassen. Alle haben gesagt, sie muß sich um sich kümmern. Und sie muß essen. Unwillkürlich tut sie immer noch so, als hinge es nur von ihr ab, ob sie herunterkommt, als zählte immer noch jeder Bissen. Langsam geht sie vor dem Buffet auf und ab, versucht ihren Appetit zu stimulieren. »Heute habe ich ein Ei gegessen«, teilt sie ihrem Mann mit, »es hat ganz gut geschmeckt« Dabei hat sie einen Krebs, der vielleicht nicht der schlimmste ist, aber der schnellste.

Alle paar Tage bringt ihr Mann einen neuen Knödel für die Vögel. Auch ihr bringt er immer etwas mit. Je weniger sie ißt, desto wählerischer ist sie. Stets hat sie für ihn eine neue Bestellung. Morgens telefonieren sie miteinander, nach dem Essen bringt er das Gewünschte mit. Er hat sein Schicksal auf sich genommen und kommt, so scheint es, ganz gut klar. Die gemeinsame Mittelmeerreise, der sie zum ersten Mal einen großzügigeren Zuschnitt geben wollten, hat er abgesagt. Er teilt, als rüstiger Pensionär, seine Zeit zwischen den Bedürfnissen seiner Frau und denen von Haushalt und Garten. Vielleicht hilft ihm, daß er ihr gegenüber ungerecht war und sie gehörig unter Druck gesetzt hat, liebevoller Tyrann, der er ist. Vielleicht hilft es ihm, daß er etwas gutzumachen hat. Geduldig macht er die Besorgungen für sie, sitzt an ihrem Bett und erträgt die Ausbrüche ihres Negativismus: Ihr ist Unrecht geschehen, und es gibt nichts, was es wiedergutmachen könnte, nur das Unmögliche, daß sie gesund würde.

Noch hält die Fassade. Noch erscheint sie zur Essenszeit, wenn auch verspätet, wandelt über den Flur in jener undurchsichtigen Haltung, die viel mehr noch für Hochmut als für Verzweiflung spricht; die Natur tut sich schwer, dem Verschiedenen einen unterschiedlichen Ausdruck zu geben. Noch schlüpft sie in ihren Pelzmantel, wenn die wohlhabende Tochter sie zum Spaziergang abholt, und verläßt rasch das Zimmer, als wäre es für den Pelzmantel zu klein. Nur daran, daß sie niemals lächelt, wenn einer von den engsten Angehörigen sie besuchen kommt, erkennt man, daß etwas fundamental nicht in Ordnung ist. Bloß wenn sie von den Enkeln erzählt, vergißt sie sich manchmal und lacht.

Nicht die Krankheit, möchte man meinen, sondern die Behandlung läßt die Fassade bröckeln, und dann geht alles ganz schnell. Ihre Blutwerte verschlechtern sich rapide, seitdem man ihr vorsorglich etwas eingebaut hat, den berühmten Stent. Der Infektion, die sich anschließt, rückt man mit Infusionen zu Leibe. Sie bringen unbarmherzig ans Licht, wie schlecht ihre Venen sind und was ihr an alltäglicher Qual noch bevorsteht. Obwohl die Werte nicht besser werden, fängt man mit der Chemotherapie an; die Zeit rennt davon. Chemo und Stutenmilch: sie läßt das eine wie das andere über sich ergehen. Bitter wird sie erst, als sich, unbeeindruckt von Antibiotika und Chemotherapie, in der Nähe der Geschwulst ein Abszeß organisiert, der sofort operiert werden muß. Wieder einmal ist sie kränker, als sie sich fühlt, als sie soeben noch war! Heute abend noch muß sie umziehen und sich hinüber zur Chirurgie fahren lassen. Ich habe sie nicht wiedergesehen.

Eine Woche später treffe ich ihren Mann, als er auf die alte Station kommt, um etwas abzuholen oder auszurichten. »Wie geht es Ihrer Frau?« frage ich.

Er sieht mich gefaßt und müde, aber mit jener Abwesenheit von Verzweiflung an, die ich immer an ihm bewundert habe.

»Wir sehen noch kein Licht«, sagt er.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.

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