Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Verliebt

Es ist alles andere als eine Krankheit, und der Verliebte gerät auch nicht außer sich. Im Gegenteil, je verliebter er ist, desto mehr kommt er zu sich selbst, desto gesünder wird er; würde oder wäre er, gäbe es nicht die Erregung, diese permanente Drohung des Kontrollverlusts, schwebte er mit einem Bein nicht ständig über dem Abgrund.

Das Problem ist, daß Gesundheit und Gesundheit auseinanderklaffen. Wenn die enorme Heilung, die sich im Zustand der Verliebtheit vollzieht, die Gesundheit des Geheilten bedroht, dann muß seine Gesundheit sich an anderen Koordinaten orientieren als seine Heilung; und das ist schon seltsam, da ja die Person ein und dieselbe ist. Man könnte sich sogar dazu versteigen, daß man sagt: Je mehr ein Mensch im Zustand der Verliebtheit sich als geheilt empfindet, desto gesünder war er vorher – nur eben nach anderem Maßstab.

Vielleicht liegt es auch bloß daran, daß diese spektakuläre Form der Heilung einer ganz anderen Dynamik unterworfen ist als die gewöhnliche; von der der Gesundheit ganz zu schweigen. Der Verliebte erlebt seinen Zustand ja als eine mehr oder weniger gewaltsame Synthesis. Er wußte gar nicht, daß er kaputt war, jetzt ist er heil, und wenn er in einem solchen Moment ausruft: Ich kenne mich nicht mehr! oder: Ich erkenne mich selbst nicht wieder! und von Entfremdung redet, so stellt er sich halt auf den Standpunkt der Gesundheit, die, wenn ihr die Synthesis so schlecht bekommt, ein Zustand der Zerlegung sein muß, der Koexistenz von Getrenntem.

Es müßte also heißen: Damit viel zusammenschießen kann, muß viel zerlegt sein. Oder wenn nicht etwa viel zerlegt ist, dann muß es doch sehr zerlegt sein (und sehr ist wahrscheinlich nur, wo auch viel ist, woher sonst die Notwendigkeit).

Der Gutintegrierte, wie er in moderner Unerbittlichkeit genannt wird, verliebt sich nur wenig, oder wenig spektakulär, andernfalls die Verliebtheit auch bei ihm viel vorfindet und die Synthesis heftig wird. Seine Verliebtheit prägt sein Leben nicht anders als das Kontinuum von Explosionen in einem Ottomotor die Fahrbewegung des Autos. Seine Zufriedenheit verdankt er einer, wenn es denn so etwas gäbe, ursprünglichen Liebe zur Ordnung und Fähigkeit zum Nach- und Nebeneinander, kurz einem geordneten Miteinander in einem geregelten Ganzen, nicht einer gefährlich dynamischen Zerlegung oder Abspaltung. Aber wenn es ihn denn erwischt, wird er im ganzen gekippt. Vervollständigung und Widerlegung sind eins: die Ordnung selbst ist pervers, das Gesundheitsgefühl verdächtig, gut integriert bloß ein anderer Ausdruck für beschränkt. Vielleicht liegt es ja an diesem Typus, der als Inbegriff bürgerlicher Gesundheit gilt, daß die Verliebtheit als Krankheit aufgefaßt wird; je gesünder das Gesunde, desto reizvoller die Aufgabe, die sich dem Kranken in ihm stellt, und desto gefährlicher für ersteres die Bedrohung.

Durch die latente Umwertung aller Werte wird nicht nur das Gute ständig bedroht, sondern auch das Böse als Nachbild des Guten entlarvt, so daß man im Klartext schlußfolgern kann, Verliebtheit als psychopathologisches Irresein orientiere sich an dem Modell der gutintegrierten Person, sei also nicht weniger halluzinativ als diese, die ihrerseits nur eine idealisierende Umdeutung der zerlegten oder gespaltenen Persönlichkeit ist. Wer weiß, vielleicht wird Verliebtheit ja darum als Wahnsinn erlebt, weil das, was sie vermeintlich zerstört, sich ohnehin nur im Kopf abspielt.

Während der Verliebte nach dem Urteil seiner Umwelt in Träumereien und Halluzinationen versinkt, bastelt er an einer Realität, die diesen Namen wirklich verdient. So wie andere den Akzent auf das Richtige, das Nötige, das Opportune oder das Besondere legen, so legt er den Akzent auf das Wirkliche. Fragt man den Verliebten, was an seinem Zustand ihm kostbar erscheint oder was er eigentlich liebt, dann wird der Oberflächliche vielleicht antworten, daß ihm nicht mehr so langweilig sei, der Kleinbürgerliche, daß sein Leben jetzt einen Sinn habe, der Narzißtische, daß er vom Schöpfergeist beseelt, vom élan vital beflügelt sei, der zum Wahnsinn Entschlossene oder mannhaft Verliebte aber auf die Wirklichkeit verweisen. Womöglich empfindet er sich gar nicht als verliebt, jedenfalls weiß er nicht mehr, was das sein soll: Liebe. Was er erlebt, ist wunderbar genug. Es ist die Verwandlung schattenhaften Lebens in wirkliches Leben, eines nichtigen Alltags in einen wesentlichen Alltag, vernebelter Absichten und verhimmelter Überzeugungen in konkrete Bedürfnisse. Durch die fraglose Idealisierung des ›Verliebten‹ – dessen, nach dem populären Ausdruck, in den man verliebt ist und für den die Hochsprache, da er für die Wirklichkeit nicht wesentlich ist, auch keinen Namen bereithält – findet eine ungeahnte Konkretisierung von Umständen und Tätigkeiten statt; erstere bekommen etwas Greifbares, letztere sind in jedem Detail Stoffwechsel, lebendiger Austausch des einzelnen mit dem vielen. Der ›Verliebte‹ hat etwas von den erhabenen Göttern der Vorzeit, denen, die geopfert werden. Auf ihn kann man alle Idealismen werfen. Man kann sie von den Dingen des täglichen Lebens ablösen und auf ihn häufen. Daß die gewöhnliche Entfremdung, die lähmende Unlust, die wattige Unwirklichkeit mit der Seligkeit des Verliebtseins, die sie beendet, mit der Idealität des ›Verliebten‹ durchaus noch zu tun haben, daß sie aus derselben Quelle sich speisen, im Grunde dieselben Abstrakta sind, nur einmal mit dem Alltag, einmal mit dem Ausnahmezustand unterlegt, das leuchtet nicht unmittelbar ein. Aber es ist die Bedingung dafür, die logische Voraussetzung, daß, je abstrakter man liebt – eben bloß verliebt ist –, desto normaler, konkreter, kräftiger das Geliebte sich präsentiert. Liegt das daran, daß das Ideal vom Leben wirksam abgelöst, herausgelöst und in sicherer Entfernung neu fixiert oder daß es im Gegenteil auf eine überzeugende Weise ins Leben hereingeholt worden ist? Der Platoniker entscheidet natürlich für das letztere. Dem Verliebten ist die Idee ›erschienen‹, stellt er fest. Daß die Erscheinung, wie er ohne weiteres erkennt, den irdischen Zusammenhängen gemäß unzureichend und unzulässig ist und für die Idee nie mehr als eine Episode sein kann, dafür wird der Verliebte büßen müssen. Auch aus dem ›Verliebten‹ aber wird die Kraft herausfließen, die die im Dornröschenschlaf versunkene Wirklichkeit zu sich selbst zu befreien vermag, die Schatten mit Farbe zu versehen, die erstarrten Glieder zu lösen.

Quatsch wäre es zu behaupten, durch den ›Verliebten‹ werde der Alltag zum Fest, er werde zum Feiertag – zum Alltag wird er! Nicht länger wird er der trübe Hintergrund ekstatischer Halluzinationen sein, dieses tristen Ineins von Erhabenheit und heilloser Unwesentlichkeit – unhintergehbar wesentlich wird er sein!

Es ist das Schicksal des nach allgemeiner Einschätzung von jeder Realität abgekoppelten Verliebten, daß er vielleicht zum einzigen Mal in seinem bürgerlichen Leben – wohlgemerkt zum wiederholten einzigen Mal – vom Platonismus lassen und sich mit beiden Beinen fest auf den Boden einer Wirklichkeit stellen kann, die nicht auf Eigentliches, auf Höheres verweist. Deren anspruchsvolle Stimmigkeit läßt kein Hindernis gelten, das sich ihrer Verwirklichung entgegenstellen könnte. Jeglicher Einspruch, so erscheint es von ihrem Standpunkt, wäre in Anmaßung begründet. Da der Verliebte auf nichts Anspruch erhebt, als was schon immer seins, sein missing link – und hier schimmert denn doch der hoffnungslose Platoniker durch –, seine andere Hälfte ist, scheint es überhaupt kein ernsthaftes Hindernis zu geben, rückt doch alles in die ihm ureigene Ordnung. Solange auf den ›Verliebten‹ nur ein ebenso selbstverständlicher wie nicht eingelöster, also verheißungsvoller Anspruch besteht, scheint das Leben von aller Maßlosigkeit befreit. Sobald er aber eingelöst ist, wird die Wirklichkeit erneut zur Bedrohung eines ungeteilten Lebens, und dieses erweist sich als  – Vorstellung.

Verliebtheit heilt. Aber die Heilung gehört einer anderen Kategorie an als die Krankheit. Sie gehört einer anderen Sphäre an. Auf ihre höchst irdische Weise ist sie ein unumschränkter Sieg der Idee in einer Welt, von der sich alles behaupten läßt, nur nicht, daß sie nicht wirklich ist.

Idiotisch, zu behaupten, der Traum wäre Wirklichkeit geworden; das gibt es nur in der umgekehrten Form, wenn die Wirklichkeit sich des Traums bemächtigt und ein kleines Mädchen zum Hollywood-Star oder zur Eisprinzessin macht. Für den Verliebten wird die Wirklichkeit wirklich; er wacht auf. Er träumt nicht mehr. Im Gegenteil, er weiß jetzt, wie mechanisch seine Träume waren, wie im Grunde billig. Er hat etwas hinzugewonnen, nicht ein kleines oder größeres Detail, sondern eine Einsicht. Wirklichkeit ist eine Qualität, das weiß er jetzt, sie ist kein Ding. Nur die Wirklichkeit ist es wert, gelebt zu werden. Nicht einmal die Liebe ist es wert, gelebt zu werden. Wenn sie nicht wirklich ist, ist sie nicht wert, gelebt zu werden. Aber wenn sie wirklich ist – nicht wirkliche Liebe, die gibt's und gibt's nicht, also nicht, sondern liebe Wirklichkeit –, dann ist sie aller Leiden wert.

Natürlich hat das etwas mit Wahnsinn zu tun; Wahnsinn wäre, es leugnen zu wollen. Dabei kann man das Graduelle betonen, daß man, des Leidens müde, zum Glück wechselt, wohl wissend, daß es nicht wirklich ist; oder das Grundsätzliche hervorheben und das Wunschbild für die Wirklichkeit erklären. Wahnsinn ist Wahnsinn. Der Rahmen ist gesprengt, wenn die Wirklichkeit nicht länger bloß als Attribut vegetiert, sondern als Subjekt ins Spiel kommt.

Wenn es wirklich hart auf hart kommt, wenn der Verliebte nämlich abgewiesen und der erhabene in den einfachen Wahnsinn zurück- oder umzukippen droht, dann sucht er Hilfe ausgerechnet beim ›Verliebten‹, sucht seine Nähe, sucht seinen Umgang, sucht seinen Alltag. In einem lebensgefährlichen Mangelzustand sucht er einen Ausgleich, wohlgemerkt nicht eine Erfüllung, sondern eine Abhilfe. Das, was er bekommt, bräuchte er nicht eigens zu begehren, denn das bekommt jeder, ein flüchtiges Lächeln, ein Gespräch über das Wetter. Sein Mangel ist vital, und was er braucht, wenig, auch im umgekehrten Sinn; jedes Zuviel wirft ihn unbarmherzig zurück. Worum es geht, ist die unabdingbare Dosis Wirklichkeit gegen den Wahnsinn. Mag diese Wirklichkeit halluziniert sein in bezug auf alles, was sie noch bedeuten könnte; sie hat einen harten Kern.

Ein seltsamer Zustand ist das jedenfalls, in dem der Verliebte den ›Verliebten‹ aufsuchen muß, um sich zu beruhigen. Früher der Auslöser fürs Irresein, wird er jetzt, wo der erhabene in den einfachen Wahnsinn um- oder vielmehr zurückzukippen droht, zum Instrument der Beschwichtigung, zum Medikament. Hat er sich nur erst beruhigt, vielleicht kann er von seiner Verliebtheit ja lassen; beides sieht er noch getrennt und wird staunen, wenn es zusammenfällt, sich als das gleiche herausstellt. Nur der ›Verliebte‹ kann den Verliebten mit der Kraft ausstatten, die nötig ist, um den Träumereien standzuhalten, die ihm Erfüllung vorgaukeln und in die er desto schneller kippt, je mehr er ihrer überdrüssig ist. Daß ein Gespräch mit ihm über das Wetter ein Antidot gegen den Wahnsinn ist, mehr Wirklichkeit als die orgiastischsten Gefühle enthält, liegt an jener Transsubstantiation von Wahnsinn in Wirklichkeit, die im ›Verliebten‹ stattfindet. Er ist ja auch nur ein Mensch, auch wenn man ihn gern übermenschlich geliebt hätte. Jetzt, wo der Verliebte ausdrücklich nicht des Charismas, sondern der Alltäglichkeit des ›Verliebten‹ als Heilmittel gegen den drohenden Zusammenbruch bedarf, bedient er sich der platonischen Spaltung, die die Welt zerteilt; ja, er bedarf ihrer, um zu überleben. Allmählich dämmert ihm, daß er mit seiner bedingungslosen Zuneigung dem ›Verliebten‹ Gewalt angetan hat, so wie jetzt der Wahnsinn ihm Gewalt antut. Er liebte ihn so, wie er war; aber der andere war möglicherweise ganz anders.

Wenn er Glück hat, dann zieht der Verliebte aus dieser ungebetenen Einsicht einen heilsamen Trost und macht sich die Erfahrung zunutze.


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