Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt einer Überlebenden oder Von der Frau, die Gut und Böse nicht unterscheiden konnte

Sie ist aus vollem Herzen böse. Todkrank, stündlich auf Fürsorge und Hilfe angewiesen, liegt sie in ihrem Bett und schimpft: nicht auf Gott und die Welt, sondern ganz gezielt auf die, die sie braucht. Was andere mit Freundlichkeit und gutem Benehmen herauszuschlagen versuchen, darum kämpft sie einen erbitterten Kampf. Nichts braucht sie wirklich, so scheint es, als was sie sich ertrotzt hat. Hat sie schlechte Karten, nachts zumal, wenn es um Morphium geht – um neun hat sie die erste Spritze bekommen, und jetzt ist es erst halb elf –, dann verlegt sie sich ungeniert aufs Betteln. Keine Spur mehr von Charakter; man kann sich nicht mal rächen, weil der Gegner fehlt.

Daß im Schwesternzimmer über sie gelästert wird und gelegentlich sogar der Chefarzt eingreifen muß, weil die Nerven des Personals nicht mehr mitmachen, das stört sie nicht, oder sie nimmt es nicht zur Kenntnis. Auf ihre Weise spielt sie selbst Schwesternzimmer. »Ach die!« sagt sie hörbar, wenn auf ihr Klingeln eine von ihr wenig geliebte Schwester den Kopf zur Tür hereinsteckt, oder: »Die ist ein Aas!« bevor die Tür sich wieder geschlossen hat. Weiß sie, daß im Schwesternzimmer debattiert wird, wer von ihnen auf eines ihrer unzähligen Rufzeichen reagieren soll, und es deshalb immer länger dauert, bis jemand kommt? Es ist tatsächlich, als lebte sie mit der Hand auf dem Knopf. Pervers ist sie nicht, aber sie hat für diesen ganzen Komplex, wie man über sie denkt, einfach keine Antenne.

Sie ist schon lange da; im Dezember stellt sie fest: seit August. Anciennität ersetzt Adel, auch die Schwere der Erkrankung trägt dazu bei, zumal wenn sie hausgemacht ist. Eine Infektion nach einer harmlosen Operation hat sie niedergestreckt. »Gasbrandbazillen«, sagt ihr Sohn mit einer gewissen Befriedigung; wenn sie schon so schlecht dran ist, soll es sich wenigstens lohnen. Ihr hätte man das ja nie gesagt, zumal es verdächtig nach Erstem Weltkrieg klingt, aber er arbeitet im Haus, und da spricht es sich herum. »Ich sehe aus wie ein geschlachtetes Schwein«, sagt sie stolz, als die neue Patientin ins Zimmer kommt. »Gucken Sie ruhig!« Da die Bazillen sich bei Sauerstoffmangel vermehren und jeder Versuch, ihre Wunde zu schließen, in einer Notoperation endete, läßt man den Bauch jetzt von innen heraus heilen, und die Wunde klafft charakteristisch. Vielleicht weil sie so krank oder weil sie unerträglich ist, vielleicht aus Mitleid oder aus schlechtem Gewissen hat man sie im einzigen Zweibettzimmer der Station untergebracht, wo ihr die jeweilige Bettnachbarin ausgeliefert ist. Ihre Zimmerhälfte weist Einrichtungsgegenstände auf, die man nie in einem Krankenhaus vermutet hätte: Sommerdecke, Winterdecke, sogar eine häusliche Strickdecke hat man ihr ans Fußende des Bettes gelegt, weil sie unter kalten Füßen leidet. Ihre Spezialmatratze hat sie über alle Operationen, über alle Narkosen gerettet. »Bestellen Sie sich auch so eine«, sagt sie aufmunternd und so, als könnte sie sich nicht vorstellen, daß die Bettnachbarin nicht gewohnt ist, im Krankenhaus zu ›bestellen‹.

Jeden Morgen kommt die Diätassistentin an ihr Bett, um die Mahlzeiten mit ihr zu besprechen. Etwas anderes als Kartoffelbrei verträgt ihr Darm nicht, nur gelegentlich noch ein Süppchen, wenn es keine festen Bestandteile enthält. »Ich konnte die Suppe nicht essen«, klagt sie »die Pilze gehen doch nicht durch.« »Die Suppe war eiskalt«, klagt sie, »ich konnte sie nicht essen.« Und das, wo sie sonst nichts essen kann. »Hätten Sie doch nach den Schwestern geklingelt«, sagt die Diätassistentin bestürzt, »die hätten sie Ihnen bestimmt heiß gemacht.« »Ich traute mich nicht«, erklärt sie unverfroren, sie, die sich das Essen dreimal aufwärmen läßt, »wo die Schwestern mit den Operierten soviel zu tun haben.« Auch der Kartoffelbrei ist selten gelungen. Manchmal ist er zu dünn, dann ekelt ihr, manchmal zu fest, dann kriegt sie ihn nicht herunter. »Ich kann doch nur Kartoffelbrei essen«, sagt sie klagend. »Stellen Sie sich vor«, sagt sie zu der Bettnachbarin, die ihre Operation vor sich hat, »seit August kann ich nur Kartoffelbrei essen.«

Sie weiß auch nicht, was mit ihrem Bauch los ist. Sie hatte nie etwas mit dem Darm, mit dem Magen übrigens auch nicht. Sie konnte alles essen, auch Eisbein und Erbsenpüree. Bestimmt haben sie beim Operieren etwas angestellt. Man bekommt ja nichts heraus. Die halten doch alle zusammen. »Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen«, hat der Chefarzt zu ihr gesagt. Er kann es sich auch nicht erklären, warum sie immer weniger wird, und will den Bauch wieder aufmachen. Aber davon hat sie genug. Auch zum Spiegeln geht sie nicht. Quälen läßt sie sich nicht mehr. Sie hat sich für Morphium und Kartoffelbrei entschieden. Später, als sich herausstellt, daß sie auf diese Weise verhungert und verdurstet, wird sie sich die künstliche Ernährung ertrotzen, indem sie noch weniger trinkt als bisher beziehungsweise die unerläßliche Erhöhung der Trinkmenge verweigert. »Ich kann nicht«, wird sie so lange sagen, bis sie ihren Port bekommt. »Für den müssen sie sorgen wie für ein Kind«, sagt der Chefanästhesist, »damit er sich nicht infiziert.« Sie strahlt. Jetzt braucht sie nicht mehr zu essen und kann nach Hause.

»Die haben mich umgebracht«, erzählt sie der Bettnachbarin, die auf ihre Operation wartet. Ein andermal wird sie ganz unvermittelt sagen: »Ich glaube, die haben mir das Leben gerettet«, so wie sie manchmal herzhaft feststellt: »Das Süppchen gestern hat mir richtig gut geschmeckt. Pilzsüppchen, mmh!« Sie unternimmt nie einen Versuch, die auseinanderklaffenden Standpunkte ins Verhältnis zu setzen. Sie bedient sich ihrer so, wie ihr jeweils zumute ist. Eher würde sie noch zugeben, daß sie gelogen hat, als daß sie sich aufs Abwägen und In-Bezug-Setzen einließe. Zuzugeben, daß sie »Scheiße gebaut« hat, dazu könnte sie sich eher verstehen. »Ich glaube, ich bin manchmal ungerecht«, erklärt sie eines Abends in der friedvollen Stunde vor dem Einschlafen, der Stunde der großen Geständnisse. »Vielleicht haben sie mir ja das Leben gerettet.« Die Einsicht hindert sie nicht, beim großen Show-down vor Weihnachten, als sie ihre Entlassung ertrotzt, noch einmal alle Register zu ziehen.

Ihr Mann und ihre Schwester holen sie ab. Die Schwester heult, als sie die Kranke zum ersten Mal seit Monaten wieder in bürgerlichen Klamotten sieht, Hose und Pullover schlotternd, nur das Hütchen mit einem Anflug von Verwegenheit, offenbar aus alter Gewohnheit, schräg über die Stirn gezogen. »Was haben sie aus dir gemacht«, sagt sie. Ihr Mann, ein stiller, ruhiger Mensch, verliert die Fasson. »Ich warne Sie«, sagt er feierlich zur Bettnachbarin, die wegen einer Komplikation über Weihnachten bleibt. »Eine Komplikation«, sagt er erregt, »das kennen wir.« Bislang war er unauffällig, offensichtlich stand er unter der Fuchtel seiner Frau, die das Heft in der Hand hält. Aber die letzten Monate haben ihm zugesetzt. Die täglichen Besuche im Krankenhaus erträgt er nicht länger, die ständigen Überlegungen, wo er den Hund läßt und wann er die Besorgungen machen soll. Vor ihrer Heimkehr als Pflegefall hat er Angst. Daß es mit ihr nicht voranging, während alle andern wieder auf die Beine kamen, das hat ihn fertiggemacht. Auf eine vertrackte Weise fühlt er sich aussortiert. »Ich warne Sie«, sagt er zu mir, »das hier« – mit einer Armbewegung umfaßt er das Krankenhaus – »ist die Hölle.«

Woher weiß er, wie die Hölle ist? Sie haben einen Sohn, einen Garten und einen Hund. Vielleicht kennt er die Hölle des Trinkers, seine Frau hat Andeutungen gemacht. Aber er und das Wort passen nicht zusammen. Berlin ist heidnisch, durch und durch, und er ist Berliner. Nichts paßt weniger zu ihm als die Hölle.

Den Garten werden sie abschaffen. Noch besser wär's, auch den Hund abzuschaffen.

Zwischen seiner Frau und mir kam es zu einer Mißstimmung. Sie wollte es wegen ihres elenden Zustands warm haben und ich wegen meines Fiebers kalt. Wenn sie zu einer Behandlung gefahren wurde, drehte ich die Heizung ab, wenn sie zurückkam, drehte sie sie wieder auf. Da sie am Fenster, neben der Heizung lag, war sie am längeren Hebel.

Während sie mir grollte, bewahrte sie meinen Töchter ihre Zuneigung, ja, war ihnen eher noch mehr zugetan. Besuchern gegenüber rühmte sie, wie lieb sie wären. In meinen Ohren klang es wie: Aber die Mutter ist ein Aas. Immerhin wahrte sie so eine erträgliche Atmosphäre, bis wir eines Abends die Feindseligkeiten beendeten. Als Versöhnungsgeschenk bekam ich ihre Geschichte erzählt.

Sie war gar nicht in Berlin aufgewachsen, obwohl sie das reinste Berlinisch sprach, das ich jemals gehört hatte, so daß ich, wenn ich in den ersten Tagen nach der Operation, unfähig zu irgendeiner Lektüre, ihren Tiraden lauschte, von einer Berlinischen Grammatik nach ihren Vorgaben träumte. Ich glaube, sie stammte aus Bremen. Ihre jüdische Mutter entkam der Deportation, indem sie mit ihren beiden Töchtern aufs Land floh. »Die Deutschen haben uns gerettet«, sagte sie. Bauern nahmen sie auf. Die Kinder gingen regulär zur Schule. Eine Gemeindeschwester hätte sie gern denunziert, traute sich aber nicht gegen das Dorf.

In der Schule hatten die beiden Mädchen viel auszustehen, weil die Mitschüler bald heraushatten, dass man sie ungestraft piesacken konnte. Sich wehren war zu gefährlich.

Nach dem Zusammenbruch fanden sie ihre Berliner Großmutter wieder. Als Überlebende von Theresienstadt hatte sie Anrecht auf gute Lebensmittel. Sie selbst hatten keins. Wie hungrige Tiere scharten sie sich um die Oma. Als sie versuchten, Lebensmittelkarten zu bekommen, wurde ihnen eine Liste gezeigt, auf der sie als deportiert verzeichnet waren, als tot oder verschollen, also so gut wie tot. Aufgrund dieser Liste hatten die Nazis nicht nach ihnen gesucht und wollte man sie jetzt, nach dem Krieg, nicht ernähren. Sie hatten Mühe, die Behörden von ihrer Existenz zu überzeugen.

Kein Wunder, dachte ich, daß in ihrem Kopf Mörder und Retter keinen verläßlichen Gegensatz bildeten, daß die Schwester zugleich weinerlich und aggressiv, sie selbst gleichzeitig tapfer und quengelig war. In den entscheidenden Katastrophen ihres Lebens hatten sie zwar stets mit denselben Deutschen zu tun, aber die betätigten sich abwechselnd als Retter und als Mörder. Sie selbst hatten sich aus dem deutschen Dunstkreis nicht befreien können. Nach dem Modell ihres Überlebens hatten sie sich nach dem Krieg in die deutsche Existenz hineingewühlt, sie waren zu gar nicht mal politischen, sondern regionalen, ethnischen, berlinischen und, last not least, kleinbürgerlichen oder prolligen Deutschen geworden. Sie hatten Jahrzehnte auf demselben Fleck gelebt und waren zu Ur-Berlinern geworden. Als Hausmeisterin (und Dackelbesitzerin) hatte die Kranke sich eine bombensichere Identität, ein makelloses Incognito besorgt. Um sie auszurotten, hatte sie vielleicht gedacht, hätte Berlin sich selbst ausrotten müssen. Aber wenn etwas nachhaltig schiefging, so wie jetzt, dann stürzte ihre Orientierung zusammen. Dann witterte sie in ihren Rettern ihre Mörder und umgekehrt, und sie durfte auch nichts klären, sonst hätte sie sich nämlich ihre seltsame Symbiose mit den Deutschen klarmachen müssen.

Woher ihr Mann die Verbindung zur Hölle hatte, ob er sich vom chaotischen Weltbild seiner Frau hatte anstecken lassen, oder ob sie sich von vornherein einen schwachen Mann gesucht hatte, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hatten sie in der klassischen Arbeitsteilung gelebt. Als sie erkrankte, zerfiel er.

Kurz vor ihrer Entlassung, wir hatten uns gerade versöhnt, ließ ich mich mit ihr fotografieren. Auf dem Bild stehen wir seltsam entfernt beieinander: Sie hat sich in ihrem Bett aufgerichtet, ich stehe mit meinem Infusionsständer neben ihr. Beide tragen wir zu große Krankenhaushemden, in denen wir noch kleiner aussehen, als wir sind. Obwohl nachdrücklich zum Zusammenrücken animiert, ist zwischen uns unermeßlich viel Raum.

Ich schickte ihr einen Abzug, und sie rief sofort zurück. Ein paar Monate waren ins Land gegangen, bevor ich mich aufgerafft hatte, den Film zu Ende zu knipsen. »Wie geht es Ihnen?« fragte ich.

Sie war dem Tod noch ein weiteres Mal von der Schippe gesprungen, aber jetzt war sie wieder gesund. In akuter Lebensgefahr wegen einer schweren Thrombose, war sie wieder im Krankenhaus gelandet. Kaum war die akute Gefahr beseitigt, knöpfte der Oberarzt sie sich vor und schiß sie so zusammen, daß sie weinend in eine erneute Operation einwilligte, bei der dann mit einem einfachen Schnitt die enge Stelle im Darm beseitigt wurde. Danach konnte sie sofort wieder essen.

Wieder einmal hatten die Mörder sie gerettet.

»Sie würden mich nicht wiedererkennen«, sagte sie. »Wenn ich mich im Spiegel sehe, dann kann ich es einfach nicht glauben. Einen richtig dicken Hintern habe ich bekommen.«

Sie wollte wissen, wie es mir ging. Ich gestand, daß meine Operation nicht erfolgreich war und wiederholt werden mußte, zu Weihnachten, wie gehabt.

»Ich komme Sie besuchen«, sagte sie sofort, »rufen Sie mich an, wenn es soweit ist.«

Die nächste Operation verlief dann auch nicht besonders gut, und ich brachte es nicht über mich, ihr Bescheid zu sagen.


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