Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Tatsachen (und Konstruktionen) – ein Porträt

Konstruiert sind sie nicht weniger als die Konstruktionen – das ist nicht der Punkt. Dennoch gelten sogenannte Tatsachenmenschen als die härtesten Gegner der Philosophen, von denen sie sich angegriffen fühlen und die sie gnadenlos angreifen; es geht hier um mehr, spürt man sofort, als um Positionen.

Zwei Dinge bringen den Anhänger der Tatsache in Rage: daß seine Tatsachen ›auch bloß‹ Konstruktionen sein sollen und daß man im Leben – oder daß das Leben – noch anderes braucht als bloß Tatsachen. Was ihn also in Rage bringt, ist die mangelnde Vollständigkeit und die mangelnde Unmittelbarkeit der Tatsache, wobei Vollständigkeit natürlich eine reichlich metaphysische Kategorie darstellt, aber im Zusammenhang mit Unmittelbarkeit bedeutet sie ›wirklich‹.

Vom Standpunkt des Rationalisten, als den sich der Tatsachenmensch gern bezeichnet, fallen Gefühl und Verstand beinahe zusammen. Getrennt, sind sie überflüssig in einer Welt, in der es auf Tatsachen ankommt. Er, der Tatsachenmensch, ist geradezu triebhaft vernünftig. Nicht selten ist er ein Vertreter des cholerischen Temperaments.

Insofern die Tatsache vom Verstand zusammengebastelt wird, ist sie natürlich konstruiert. Aber sie soll so perfekt sein wie die Dinge und Lebewesen, die Gott nicht konstruiert, sondern geschaffen hat: geschöpft, nicht gebastelt. Schließlich – auf gut cartesianisch – ist der Verstand im Menschen das göttliche Vermögen, Inbegriff seiner Ebenbildlichkeit, also für Unmittelbarkeit zuständig. Oder, da es Gott bekanntlich nicht gibt, soll sie so perfekt sein wie die Naturdinge, die dem Verstand als Gegenstand und Betätigungsfeld zugewiesen sind. Schließlich ist die Natur das Objekt menschlicher Tatkraft par excellence und per Definition also unmittelbar.

Das ist der Standpunkt, den der Tatsachenmensch gar nicht aggressiv genug verteidigen kann: daß der Tatsache derselbe Status zukommt, wie er Natur- und göttlichen Dingen längst abgesprochen worden ist. Sie wäre demnach im strikten Sinn der Nachfolger der Gottesgeschöpfe. Als solcher wäre sie ›vorkritisch‹, geradezu mittelalterlich, auch wenn sie in ihrem Gehabe natürlich ›nachkritisch‹ ist. Aber was anderes könnte damit gemeint sein, sofern der Begriff des Fortschritts irgend etwas taugt, als eine verinnerlichte Kritik, die die Tatsache in allen ihren Erscheinungsformen als zusammengesetzt zeigt.

Vorkritisch ist sie, insofern in ihr das Bedürfnis nach einer adäquatio rei et intellectus, der Köhlerglaube an die Identität von Sache und Begriff, sich unbewußt durchsetzt. Nicht uneitel bezeichnet der Tatsachenmensch sich auch als Realisten und meint damit, daß er auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist, da, wo sich die Spreu vom Weizen getrennt oder das Machbare sich sedimentiert, der Rest als Hirngespinst entlarvt habe. Er gibt sich deshalb als Kritiker aus, als Verfechter des Möglichen. Aber unter der Vorgabe der Resignation hat sich längst die Wiedergeburt der Metaphysik vollzogen; der Realist taumelt in den Größenwahn und hält wenigstens auf diese Weise den abgewehrten Wünschen die Treue.

Als cartesianisch ist das Bedürfnis nach Unmittelbarkeit im Grunde gar nicht gut charakterisiert, weil unter dem Furor der Naturalisierung des Verstands die Freude an seiner Konstitution, die ›Gründungsfreude‹, vollständig verschwindet, so daß der Größenwahn nicht ohne Grund mit Resignation einhergeht. Wer gründet, konstruiert, und wer nicht konstruiert, gründet nicht. Nicht untätig ist auch der angewandte Verstand, im Gegenteil, aber von der Reflexion dessen, was er ununterbrochen betreibt (oder was ihn ununterbrochen betätigt), ist er gründlich abgeschnitten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn der Tatsachenmensch stets und mit traumwandlerischer Sicherheit angeben kann, wo die Tatsache aufhört und die Spekulation anfängt, ist es doch seine Bestimmung und bestimmte Form, nicht über den Gegenstand nachzudenken; wie könnte ihm das zufällig passieren?

Ebensowenig ist ›mittelalterlich‹ wörtlich zu nehmen, da die Anstrengung der mittelalterlichen Welt, sich und das Jenseits zu vermitteln, völlig getilgt ist. Offenbar ist es wenig aufwendig, die Tatsache anzuerkennen – nicht im erkenntniskritischen Sinn, daß mehr sich beim bestem Willen nicht behaupten läßt und man sich alles, was darüber hinausgeht, abschminken muß, sondern im metaphysischen einer umfassenden Existenz –, handelt es sich bei diesem Vorgang doch bloß um eine Behauptung, um die Verkündung einer Auffassung, und nicht um Arbeit. Doppeldeutig ist denn auch davon die Rede, daß Tatsachen so sind, wie sie sind, nicht nur beschränkt, nämlich, sondern im umfassenden Sinn wirklich, der Kritik entzogen (die wirft sich auf ein anderes Feld). Zwar sind sie konstruiert, aber im Prinzip nicht anders als das, was »auf der Wiese wächst«, spontan gedeiht, »dasselbe in Grün« also.

Obwohl weit verbreitet, ist diese Auffassung ›steinzeitlich‹, einfach nicht auf der Höhe zeitgenössischer Abstraktion. Sie bedeutet einen Rückfall hinter den erreichten Stand des gesellschaftlichen Bewußtseins oder eine Verleugnung der Abstraktheit dessen, was wir mit dem beinahe körperlichen Begriff der Gesellschaft bezeichnen, eine vermeintlich höchst alltagstaugliche Vereinfachung hochkomplizierter Verhältnisse. Steinzeitlich ist so etwas wie kleinbürgerlich, spießig; es ist spießig, an Tatsachen zu glauben wie an den Weihnachtsmann (nachdem es lange genug spießig war, an den Weihnachtsmann zu glauben wie an eine Tatsache). Gleichzeitig – und durchaus nicht im Widerspruch dazu – dient es vermutlich als Paradigma des Überlebens, das überflüssige Wissen muß vom unentbehrlichen getrennt werden, sage niemand, daß das keine wahre Sisyphusarbeit ist, diese auf Aufwandsersparnis zielende Arbeit selbst eine Aufwandsersparnis! Im Grunde ist es ja heroisch, was der Tatsachenmensch leistet und persönlich mit Ressentiment bezahlt. Nicht ohne Grund hält er sich ein bißchen für den Neurochirurgen der Gesellschaft, der ihre intellektuellen Auswüchse beschneidet, oder für einen General, der strategisch denkt, wo andere mit Gründen und Bedürfnissen argumentieren. Entsprechend danken die Mitmenschen ihm seine Aufopferung mit allem möglichen, nur nicht mit Zuneigung, oder wenn mit Zuneigung, dann mit allem Möglichen nicht. Es passiert ihm auch, daß er als Spießer identifiziert wird, er, der fürs Allgemeine sorgt, auch gegen die Reflexion. Spießig ist es, das, was ist, noch eigens zu bekräftigen; nicht spießig wäre es, seine Existenz in Frage zu stellen und die Affirmation fürs Nichtsein zu reservieren. Spießig ist die sture Selbstbehauptung gegenüber den Menschen, auch der selbstherrliche Umgang mit den Dingen. Nicht spießig wäre die eigene Demontage; schließlich ist man und muß in Frage gestellt werden.

Auf eine bezaubernde Weise nicht spießig ist die Art, wie der Tatsachenmensch mit den Dingen umgeht, wenn er mit ihnen allein ist, im tête-à-tête; wie er in freier Probehandlung realisiert, was er dem Denken verweigert. Hier ist er bei sich, im Dialog mit den Gegenständen, zu denen er keinen andern Bezug hat als ein So-könnte-es-Gehen. Im gelösten Umgang darf er sich unautoritär geben, »nur so herumspielen«, muß er nicht Grenzen verteidigen, Resignation predigen, seinen Größenwahn herauskehren.

Epilog

Die Eigentümlichkeit Gottes ist Notwendigkeit, die Alternative, von der er bedroht ist, Überflüssigkeit. Die Eigentümlichkeit der Natur ist Regelmäßigkeit, ein immer wieder neu austarierter Kompromiß zwischen Gottes Notwendigkeit und des Verstandes Vorbehaltlichkeit. Ihr Damoklesschwert ist das Wirre, alles was durch die Vorsilbe Miß… eingeleitet wird, was aus der Abweichung entstehen soll, tatsächlich aber aus der Regelmäßigkeit entsteht. Der Verstand ist ein Kompromiß zwischen Gott und Natur; nie gelingt ihm der Sprung von der Regelmäßigkeit in die Notwendigkeit. Zwar sind seine Produkte regelmäßiger als die der Natur, weil sie von der Regel her gedacht und diese nicht aus ihnen extrahiert, vielmehr in sie hineingelegt worden sind, entsprechend explizit sind. Da aber der Weg von der Regelmäßigkeit zur Notwendigkeit nicht nur in die Gottähnlichkeit, sondern gleichzeitig in die Sklaverei führt, sträubt sich etwas im Verstand, sich als Zwischenstation zu installieren, fühlt er, der die Sache immer auch anders sehen oder eine andere Sache machen kann, sich doch frei; freier als die Natur und freier als Gott. Nicht Überflüssigkeit und nicht Wirrnis bedrohen den Verstand, sondern Zwang! Oder es ist die Wirrnis auf der ureigenen Ebene des Verstands; »er (oder sie) redet wirr«. Es ist die psychiatrische Wirrnis, in der der nackte Zwang regiert und der Verstand ›rattert‹.

Stellt man den Verstand zwischen Gott und Natur, aber nicht auf einer aufsteigenden Linie, sondern – in einem kontemplativen Modell – in einem möglichst gleichseitigen Dreieck als einen dritten Punkt, dann wäre im selben Dreieck auch Gott zwischen Natur und Verstand gestellt, und die Natur wäre zwischen Gott und Verstand gestellt, sie wäre gewissermaßen Gott und Verstand, von deren jeweiligen Risiken befreit, eben regelmäßig. Da für jeden religiös denkenden Menschen weder die Natur noch der Verstand sich zu Gott hin emanzipieren, dieser sich vielmehr auf ihr Niveau herabgesetzt hat, muß die Bewegung von ihm zu ihnen gesondert gefaßt werden können. Besteht womöglich auch für ihn eine Chance, sich auf dem Weg zur Natur und dem Weg zum Verstand von der drohenden Überflüssigkeit zu befreien? Regelmäßig ist natürlich schöner als notwendig; denn das Regelmäßige weiß man nicht nur, man kann es auch betrachten, man kann es genießen, das Notwendige kann man nur wissen, das heißt, man muß es glauben. »Er sah, daß es gut war«: hier profitiert Gott bereits am 7. Schöpfungstag von der lieblichen Regelmäßigkeit der Natur, dem berühmten Zusammenspiel von Farben und Formen. Auch vorbehaltlich ist natürlich reizvoller als notwendig; es steckt ein Spielraum darin, freilich auch die Drohung eines leerlaufenden Vorbehalts. Im besseren Fall bedeutet es die Integration des Sonntags in die Schöpfungswoche, eine Mischung von Arbeit und Spiel, von Schaffen und Aufheben. – Natürlich kann man das Verhältnis von Natur, Gott und Verstand auch ganz anders fassen; an jedem Begriff ist ein ›Schräubchen‹.

Man kann darüber debattieren, ob es zu den ethischen oder den rein verstandesmäßigen Anforderungen an den Verstand gehört, sich des Prinzips der Veränderlichkeit stets bewußt zu sein. Verlangen können möchte man von ihm, daß er etwa weiß, daß Schizophrenie eine haltbare Erscheinung, aber eine fragile Konstruktion, daß es bloß eine Diagnose, aber keine Tatsache ist (schon gar nicht eine ›verschärfte‹ Tatsache, lediglich vielmehr eine scharfe Konstruktion); daß er weiß, daß 2 + 2 = 4 zwar eine haltbare Konstruktion, aber nie mehr als eine fragile Tatsache ist. Zur Natur des Verstandes gehört es, den Dingen, denen er sich zuwendet, mit einem System zu begegnen; so drückt er seine Zuwendung aus. Zur Kultur des Verstandes gehört, daß er sich dessen bewußt ist. Heute hat sich die Debatte, ob zum Gebrauch des Verstands Kultur erforderlich sei, schon beinahe erledigt; die Vereinfachung des Gebrauchs von immer komplizierteren Dingen scheint die Frage beantwortet zu haben. Ob das Wissen den Gebrauch eines Gegenstands – so wie etwa die sinnliche Empfindung des Brillengestells das Sehen – stört, ob es letztlich auch den naturwüchsigen Gang von Wirtschaft und Gesellschaft hemmt, kann nur theoretisch entschieden werden. Die postmoderne Gesellschaft wacht jedenfalls ebenso über ›idiotensicheren‹ technischen Gebrauchsanweisungen wie darüber, daß die ausufernde Kenntnis von Problemlagen die politische Entscheidung nicht hintertreibt. Wer sich ›hinaufgeschafft‹ hat, in jener Mischung aus Kenntnisreichtum und gewollter Blindheit, die den Tatsachenmenschen auszeichnet, hält das mühsam Erarbeitete für die Krone der Wirklichkeit; aber ein Idealist ist er allemal, und zur Wirklichkeit hat er es mehr als nur weit.


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