Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Schatten boxen – Porträt des Tai Chi

Gott, der unersättliche Produzent, der noch das Ausgeschöpfte, das nicht mehr Variierbare variiert, hat ihn rücksichtslos zwischen A und B gesetzt. Er hat ihm da Platz verschafft, wo kein Fleck mehr frei war, und jetzt nimmt er die ganze Bank ein; sitzt, als hätte er schon immer dagesessen, langt sorglos nach rechts und links, vergreift sich ungeniert an den Nachbarn, den Vorbildern, den Urbildern, bedient sich beim Geformten, beim schon Bereitliegenden, nimmt sich da die kindliche Stirn, die hundertmal gefühlte, den launischen Mund, den geküßten, die Nase – ach, er greift sich die Nase heraus! Er langt ihnen unbekümmert ins Gesicht und wird, ursprünglich kaum mehr als ein Schatten, eine hingehuschte Zeichnung aus Grauingrau, von Tag zu Tag kompletter.

Wird von Tag zu Tag lebendiger! Bringt die andern, die von ihm Beerbten, zum Verblassen, räumt mit den Erinnerungen auf, läßt das ganze System einer sinnreich geordneten, an Träumen und Traumen entlang gesponnenen Vergangenheit zerplatzen, etabliert sich im Hier und Jetzt und macht, daß nichts Früheres mehr zählt, nichts Voriges mehr existiert, daß alle Existenz an ihm hängt, und wird von Tag zu Tag lebendiger.

Wird von Tag zu Tag schöner!

Wer hat es ihm geflüstert, daß ein zartes Gesicht erst durch Vergröberung aus seiner Schattenexistenz heraustritt und das nötige Volumen erhält, so daß man sagen kann: Dieses Gesicht hat nur ein einziges Thema: es selbst! oder: seine eigene Zartheit! Woher weiß er, daß Verwelken, Verrohen, Verwüsten, diese drei Elemente der Zerstörung von Lebendigem, das Zarte erst hervorbringen als ein gefährdetes Schicksal – und was wäre sonst die Definition von zart?

Es will sich seiner ja niemand bemächtigen, i wo; wenn das nicht schon Bemächtigen ist, daß du das Zarte berührst. Du willst es nur anfassen. Willst es in Händen halten, wenn es vergeht. Willst es auf seinem abschüssigen Weg begleiten. Willst sein Vergehen fühlen. Willst spüren, wie seine Zartheit entsteht.

Willst zart sein.

Bist roh.

Willst nicht abseits stehen.

Das normale Schema hat er umgedreht und erzeugt dadurch Sehnsucht. Das normale Schema lautet: Zuerst heil sein und dann erst kaputt. Wo willst du dich da einklinken? Das umgekehrte Schema heißt: Erst entzweigehen und dann sich neu konstruieren. So haben alle seine Bewegungen etwas Heilendes. Sie haben etwas Ordnendes. Etwas Zweckmäßiges. Etwas Ausmessendes, etwas Angemessenes. Bis auf die Grundmauern geschleift, konstruiert er sich jeden Tag neu. Konstruiert sich aus der Grundform heraus. Konstruiert sich als Kugel. Konstruiert sich konvex.

Nimmt dich auf.

Dreht sich um sich selbst und schließt die Welt. Öffnet sein Haus. Läßt dich eintreten. Läßt dich Platz nehmen. Läßt dich anlehnen. Bietet dir Schutz vor der Welt. Bietet dir Schutz vor dem Wind.

Öffnet sich für dich. Ist deine ganze Welt.

Läßt dich eintreten.

Dreht sich um sich selbst und wird von Tag zu Tag runder. Wird von Tag zu Tag vollkommener.

Wird von Tag zu Tag freimütiger. Wird von Tag zu Tag gröber.

Wird von Tag zu Tag feindseliger!

Streckt die Hände aus und klappt eins ums andere die Fenster der Welt zu. Dreht sich um die Welt und schließt ein ums andere Mal zu. Schließt die Welt. Konstruiert sie als Kugel. Konstruiert sie aus der Grundform heraus. Klappt die Arme aus und schließt zu.

Verschließt sich.

Klappt die Arme zu und schließt aus. Läßt dich im Regen stehen. Hast dich zu weit vorgewagt, Mädchen. Bist im Zwischenreich gelandet. Keine Welt mehr, kein Du. (Wenn schon, sagst du trotzig: Kein Du, keine Welt, wo wäre der Verlust?)

Klappt die Arme, macht die Schotten dicht und sagt: Werd Kugel.

Verweist dich auf die Grundform, sagt: Werde rund.

Dreh dich, sagt er.

Klapp die Arme, sagt er. So und so und so!

Bist traurig. Bist taumelig.

So, sagt er. So und so und so.

Hast dich zu weit vorgewagt, sagt er und tritt. Wo die Zehenspitze hinragt, siehst du, da ist das Ende der Kugel.

Bis hierhin und nicht weiter, sagt er und tritt.

Sagt: Besinn dich auf die Grundform. Klapp die Arme. Paß auf, wo du hintrittst. Los, dreh dich.

Bist taumelig. Stehst im Regen.

Das normale Schema hat er umgedreht und erzeugt dadurch Streß. Das normale Schema heißt: Erst allein sein und dann unter seinesgleichen. Unter seinesgleichen heißt: angefüllt mit dem und dem und dem. Heißt: erst leer sein und dann gefüllt. Das umgekehrte Schema heißt: Erst mit andern sein und dann allein. Mit andern heißt: gefüllt. Allein heißt: leer.

So haben alle seine Bewegungen etwas Wegwerfendes. Sie haben etwas Reinigendes. Etwas von Grund auf Säuberndes. Etwas Wegwedelndes, etwas Wegfegendes. Etwas Austreibendes. Etwas Hinaustreibendes. Bis in die Grundform hinein konstruiert, schleift er dich jeden Tag neu. Konstruiert dich als Scherben. Konstruiert dich als Segment. Konstruiert dich konkav.

Verpaßt dir einen Tritt, daß du taumelst. Tritt dich, daß du kippst.

Konvex-Konkav! lacht er.

Bleib mir vom Leib, sagt er.

Sagt: Bis hierhin und nicht weiter. Paß auf, daß du nicht strauchelst.

Tritt dich und dreht sich um sich selbst. Öffnet sich eine Welt. Öffnet sein Haus und wedelt dich nach draußen. Läßt dich gar nicht erst eintreten. Nur mal einen Blick reinwerfen, sagst du. Läßt dich gar nicht erst Platz nehmen. Sagt: Besser, du hältst dich nicht auf. Ist nicht windstill genug, hier, sagt er und bläst ein kaltes Lüftchen. Ich kenn mich aus! lacht er und schlägt den Kragen hoch, den von der Unterjacke über der nackten Haut, den von der Überjacke. Lacht gemütlich. Ich bin's gewohnt, sagt er. Klappt den Kragen hoch und lacht. Ist in seiner Welt. Findet es gemütlich.

Klappt die Arme und wedelt dich hinaus. Dies ist eine Ablehnung, sagt er, verstehst du kein Deutsch?

Dreht sich um sich selbst und wird Kugel. Wird von Tag zu Tag vollkommener. Wird von Tag zu Tag glatter. Wird von Tag zu Tag runder.

Wird von Tag zu Tag einsamer. Wird von Tag zu Tag hohler.

Wird von Tag zu Tag ängstlicher!

Dreht sich um sich selbst und streckt eine um die andere seine Hände aus. Streckt die Ärmchen aus und faßt ein ums andere Mal zu. Berührt dich. Faßt fest zu und sagt: Halt mich. Hältst du mich, sagt er, dann halt ich dich auch.

Faßt zu. Berührt dich. Läßt Ströme fließen. Beschwichtigt deine Wut. Faßt fest zu. Hält sich gar nicht erst auf mit Lamentieren und Reden.

Wie die Hälften ineinander passen, sagt er. Da war ein Zickzack-Riß, siehst du, hier eine schimmlige Wunde.

Eine Trümmerfraktur, lacht er, streicht über die Bruchkanten. Streichelt die Narben weg. Alles wieder heil, sagt er. Nichts mehr zu erkennen.

Alles heil, sagt er. Alles eins.

Alles meins, sagt er.

Vom vielen Zusehen bin ich aufgeregt. Vom vielen Vormachen ist er müde. Vom Reden ist er zornig.

Laß uns zusammen etwas anstellen, sage ich verliebt.

Laß mich in Ruh, sagt er.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 124 (2004), 83–85.

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