Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(19) E. erzählt

Peu à peu tauchte ich wieder auf.

Ich überraschte mich dabei, daß ich ein Buch las; erst einen Krimi auf französisch, dann ein Buch über Auschwitz und dann noch ein ganz schlechtes Buch.

Der Kriminalroman spielte in den französischen Seealpen und ich sogleich mit dem Gedanken, in den Sommerferien dorthin zu fahren. Wer weiß, vielleicht sah ich einen Wolf; vielleicht bekam ich ja einen zu Gesicht. Ich roch den Duft von Lavendel, von Thymian und Rosmarin, den trockenen Duft der Provence und spürte das zarte Licht, das durch das Kuppelzelt fiel, hell, wenn das Wetter schlecht, gedämpft, wenn es sonnig und heiß war – es war mein Zelt, von niemandem sonst trug es Spuren. Kein Bedürfnis nach Wärme oder Nähe hauste darin, nicht ein einziger lasziver Gedanke brach sich Bahn, auch kein sehnsuchtsvoller Traum, der sich als Botschaft aus dem Innern aufgespreizt und meinem Tag eine verhängnisvolle Richtung verpaßt hätte. Dabei hatte ich mit meinem Liebsten orgiastische Tage und Nächte im Zelt verbracht. Aber das war eben nur die eine der beiden möglichen Existenzformen gewesen, zu zweit, eine dritte – ich erinnerte mich – war im Kuddelmuddel der Freundinnen. Nicht im entferntesten machten die drei sich Konkurrenz oder bestritten einander die Berechtigung. Ich kannte Momente finsterster Einsamkeit, aber nicht an einem Ort, wo ich die Füße jederzeit ins Gras setzen und die Nase in den Wind halten konnte und die Haushaltsdinge da erledigte, wo ich ohnehin zu arbeiten pflegte und am liebsten gelebt hätte: in aller Öffentlichkeit.

Wenn ich von der Welt nur durch die hauchdünnen Zeltwände getrennt war, wurde ich ganz Ohr und Auge, ganz Sinne. Ich gab die zentrale Orientierung auf, die auf das Innerste des Körpers, und richtete mich in den peripheren Organen ein, die für den Kontakt mit der Außenwelt zuständig waren, den kleinen Grenzverkehr bewerkstelligten. Ich schaltete um: vom Wahrheits- auf den Wahrnehmungsanspruch, nicht von Philosophie auf Leben, sondern auf Askese, von Konstruktion auf Rezeption (vielleicht weil ich in der ersteren bereits enorme Fortschritte gemacht hatte, mein Kopf ein Hohlkörper, der Körper kaum mehr als eine Bewegung).

Wenn ich auf den Spuren des Wolfsmenschen reiste, würde ich nicht eine Minute allein oder unbeschäftigt sein.

Den Bericht über Auschwitz las ich in einem Zug, und die hunderttausend Bücher, die ich über das Vernichtungslager gelesen hatte, blätterten sich in meinem Gedächtnis auf. Es gab diese Abteilung in meinem Kopf, auch wenn ich mit ihr in letzter Zeit nicht in Berührung gekommen und mir ihrer Existenz nicht mehr gewiß war – war sie mir abhanden gekommen (oder hatte ich mich gegen sie entschieden)? Man merkte es immer erst zu spät. Abgekapselt hatte sie den Aufruhr überstanden. Ich traf auf die alten Kenntnisse und Gefühle, knüpfte Erinnerungen an Erinnerungen. Sogleich verfiel ich ins Pläneschmieden, entwarf eine Abschlußreise mit den Abiturienten nach Bergen-Belsen.

Ich hatte einen Krimi und einen ganz schlechten Roman gelesen, und dann in einem einzigen Zug ein Buch über Auschwitz. Damit man mich nicht mißversteht, es ging nicht um die Welt der Bücher. Von dieser Lebensform war ich meilenweit entfernt; bin noch zu unruhig, sagte ich mir. Es ging wie immer um mein Leben. Aber ich spürte, wie ich mich erholte. Ich war noch nicht gesund, aber es ging bergauf, und ich beschloß, an S. nur noch zu denken, wenn ich an S. denken wollte.

S. war ein Planer, ein Stratege. Aber in meinem Leben war er ein Zufall geblieben; ich ein kontrolliertes, beherrschbares Teilchen in seinem. Kurz, es war nichts daraus entstanden.

Wohlgemut machte ich einen Spaziergang in den Wald, und schon nach den ersten Schritten hatte S. sich zu mir gesellt; die Schultern breit, die Arme leicht gerundet, die Finger dicht bei dicht. Auf liebe und angenehme Weise stellte sich das Trugbild ein, so als hätte mich ein verläßlicher Freund eingeholt, unter wohltuende Kuratel gestellt; als wäre die Welt nicht aus den Fugen geraten, sondern in die alte, die richtige Lage zurückgekehrt.

Ich fühlte mich vervollständigt, nicht im mindesten verfolgt.

Er ging mit seinem Körper so um, wie er ihn von Gott entgegengenommen hatte: damit er bei ihm existierte, nicht damit er ihn unablässig gebrauchte. Er rannte nicht, ging vielmehr geruhsam, ein wandelnder Schild, nicht ein verdünntes Sein. Nicht eilfertig oder beflissen wie ein Sklave, drückte seine Haltung aus; hin- und herspringend wie ein Lohndiener. Kein Verwalter von Interessen oder Vermittler zwischen Interessenten, sondern ein Verweigerer; dafür ein wandelnder Schutz. Ein Sein, keine Funktion. Und wenn überhaupt ein Diener, dann einer der Bewegung, ein Partisan des Gehens nach Gesetzen, hingegeben an alles, was sich noch langsamer gestalten ließ, in radikaler Weise entschleunigt. Nicht langsam, aus dem Stillstand kommend und sich allmählich in Bewegung versetzend, im Gegenteil vom Schnellen ausgehend und es in Stille zurückverwandelnd, in Kraft, nicht Stehendes in Bewegtes, sondern Bewegtes in Gebändigtes. Auch an allem eher als am Beschützen interessiert, vielmehr am Schutz, und auf alles eher achtend als auf die Schutzbefohlene, auf einen Vogel, zum Beispiel, ein Blatt, eine redende Spur, und deshalb besonders fürsorglich, ein Sein eben.

Ich zügelte mein Bedürfnis, vor- und zurückzulaufen, aus purer Freude, wie ein Hündchen. Augenblicklich gab ich den Stoffwechsel mit der Natur auf und schaltete um auf Stoffwechsel mit S.

Ich träumte.

Aus der Tiefe ihrer Zusammenhanglosigkeit, ihrer Zufälligkeit tauchte die Erinnerung an einen Spaziergang an der Elbe auf, und im Nu war mir alles verleidet. Ich wollte nicht mehr spazieren gehen, weder allein noch mit dem geträumten Mann an meiner Seite. Ich wollte auch keine Tiere sehen; surtout keine Vögel.

Ich wollte keine Tierbeobachtungen mehr machen.

Mich keiner entschleunigten Bewegung hingeben. Nirgendwo hingehen.

Ich stellte fest, ich hatte in glücklicher Amnesie gelebt

Mit dem Lesen war es schon wieder vorbei. Die Tür zum unendlichen Verweisungszusammenhang Auschwitz hatte sich geschlossen. Es arbeitete in mir. Alle Hände voll hatte ich damit zu tun, mich auf meinem ureigenen Terrain zu behaupten, die Zügel nicht gänzlich aus der Hand zu geben, mich mit einem Minimum an Subjektivität auszustatten, damit ich noch »ich« sagen konnte. Die Bedürfnisse, die S. in mein Leben hineingetragen hatte, das Anlehnungs-, das Einnistungs-, das Verschmelzungsbedürfnis, mußte ich zur Kenntnis nehmen. Ich mußte mich mit ihnen auseinandersetzen, auch wenn mir dabei klar werden sollte, daß mein Leben einer eigenen Begründung entbehrte. Aber es war mein Leben, und es brauchte einen Grund. Vielleicht war es ja so, daß S. für mich und alle, die ihn liebten, eine Verkörperung wesentlicher Bedürfnisse war, daß er aber nichts von dem, was er verkörperte, wirklich besaß. Ich dagegen, die nichts besaß, hätte womöglich eine wesentliche Verkörperung sein können von anderem als Bedürfnisse.

Komisch, als ich noch glücksversessen war, galt ich als zugewandt und herzlich; seit ich mich um Schadensbegrenzung bemühte, meinen Phantasien Einhalt gebot, die Träumereien auf die Stunde vor Mitternacht zu beschränken suchte, als egoistisch und irgendwie fanatisch. Als unfreundlich und finster.

Lächeln, sagte S., wenn wir übten.

Wann war ich umgeschlagen? Seit jenem billigen Streit auf der Fähre, wo ich nicht weglaufen konnte und S. auch nicht? Oder seit dem dummen Mißgeschick mit der Sauce, als ich mich – er sagte ihn – bis auf die Knochen blamiert hatte? Oder seit dem Wendemanöver auf der engen Straße? Er fühlte sich bei mir im Auto nicht mehr sicher, behauptete er. (Aber das war nur, weil er selbst den Boden unter den Füßen verloren hatte.)

Oder aber nachdem ich allen feierlichen Bekundungen zum Trotz in Tränen ausgebrochen war und mich damit nicht besser als meine zahllosen Vorgängerinnen erwiesen hatte, die ebenfalls nicht weinen wollten und es dann doch getan hatten? Seit sich also so etwas wie ein reales Leben entwickelt hatte? Es hatte meine Träume widerlegt, den Traum von der unbedingten Zweisamkeit ebenso wie von, der tapferen Einsamkeit. Die erstere war in Wirklichkeit ganz anders, die letztere vom richtigen Leben dagegen nur ein Schatten, noch der selbstkritischste Monolog ein ermüdender, nie an die Wirklichkeit heranreichender Kampf mit sich selbst.

Die Zusammenstöße mit S. waren böse, aber unanfechtbar. Wenn ich stritt, mich schämte, angebrüllt wurde, träumte ich nicht.

Ich war das Träumen leid.

Wie geht's, fragte Faro, der mich überraschend besuchte. Er umarmte mich. Faro hatte einen festen Platz in meinem Herzen. Aber er verstand nicht, was ich an seiner Brust murmelte.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
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