Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

Zum Inhaltsverzeichnis


(20) Torsten erzählt

Sie hatte mich auf dem Kieker. Ich konnte sagen, was ich wollte, es war immer verkehrt. Ich war verkehrt. Dabei war ich vor einer Weile noch nicht verkehrt gewesen, oder sie hatte mich an der Nase herumgeführt, aber dazu fehlte ihr eindeutig die Kraft.

Vielleicht wäre ich ja richtig gewesen, damals, als sie keine Kraft hatte.

Vor dem puren Gedanken schrak ich zurück.

Wenn ich sie auf den Wechsel in unserer Beziehung ansprach, wurde sie böse.

Böse, das hieß bei ihr leider: belehrend. Hätte sie zu schreien oder zu toben angefangen, dann hätte ich sie in den Arm nehmen können. Um sie zu beruhigen, versteht sich.

So richtig konnte ich auch nicht aus meiner Haut.

Ich kann dir gar nichts mehr recht machen, sagte ich in der absurden Hoffnung, sie würde mir eine Aufgabe zuweisen, von so abenteuerlicher Schwierigkeit, daß wir die Koordinaten unseres Lebens darüber vergaßen: wen wir liebten, wo wir gebunden waren und so weiter.

Ich liebte solche Augenblicke des Vergessens. Sehenden Auges, das ging nicht. Aber sie dachte nicht daran zu widersprechen, und schon gar nicht stellte sie mir eine Aufgabe. Sie wollte nicht geholfen kriegen.

Von mir schon gar nicht. Von ihrem Freund Bernhard vielleicht. Aber von mir am allerwenigsten.

E., sagte ich leise, warum?

Nur die Antworten haben einen Sinn, die man sich selbst gibt, sagte sie belehrend; ich kannte diesen Ton und ertrug ihn bei ihr nur, weil ich ihn für nicht echt hielt. (An dem Tag, an dem ich mich von seiner Echtheit überzeugt hätte, wäre E. kein Problem mehr für mich gewesen.)

Wird einem die Antwort geschenkt, ergänzte sie, nützt sie nichts. Man nimmt sie so in Empfang, wie man ist. Du kannst es auch anders ausdrücken: Man versteht sie nicht.

Da war er, der Einwand gegen meine Person. Ich sollte mich ändern. Früher war ich recht gewesen.

Um sie zu verstehen, müßte man nämlich über seinen Schatten springen, sagte sie.

Aber das kannst du nicht, wollte sie sagen. Der vollständige Text lautete: Wenn du mich liebst, kannst du dich ändern (aber du liebst mich eben nicht). Oder, weil du dich ändern wolltest, hast du dich in mich verliebt (aber du kannst eben nicht).

Du wirst dich nie ändern, das war die Botschaft. Sie traf und traf nicht. Aber weh tat sie in jedem Fall.

Wenn ich die Antwort wüßte, würde ich doch nicht fragen, murmelte ich.

Dann arbeite an der Frage, sagte sie ungeduldig.

Haben wir nicht immer gesagt, daß es opportunistisch ist, sich nach den verfügbaren Antworten zu richten? Ich hätte gedacht, du mit deinem Rigorismus wärst als erste dagegen.

Sie merkte sofort, daß ich um gut Wetter bemüht war. Durch ihren Beruf war sie mit allen Formen der Heuchelei vertraut, man konnte ihr nichts vormachen. Trotzdem war sie – na ja, sie hätte allen Schutz der Welt gebraucht.

Sie meine nicht verfügbare Antworten, sondern richtige Antworten, erklärte sie kühl.

Richtige Antworten, erklärte sie, erkannte man an ihrer Einfachheit. Wenn sie so einfach waren, daß man sich fragte, warum man nicht schon früher darauf gekommen war, dann waren sie richtig. Richtige Antworten machten den Eindruck, als hätten sie schon immer, direkt vor einem, auf der Straße gelegen; man hätte sie nur aufheben brauchen.

Das war die Auskunft für Anfänger. Ob ich auch die Erklärung für Fortgeschrittene wollte?

Natürlich wollte ich.

Auf die Antwort kommen hieß, merken, daß man sie schon immer gewußt hatte. Es hieß, einen Zugang zum eigenen Wissen bekommen, sich das Gewußte klarmachen, nicht etwas spektakulär Neues erfahren.

Es hieß, sich den praktisch-ethischen Bezug zur eigenen Person klarmachen.

Du und praktisch-ethischer Bezug? fragte ich entgeistert.

Aber sie meinte natürlich nicht die Antwort auf die famose Frage »Was soll ich tun?«, sondern so etwas wie die Aufgabe des Widerstands gegen die Wahrheit.

Letztendlich bedeutete es natürlich, daß man die Frage kapierte.

Es gab auch eine Auskunft für Philosophen. Keine akademischen, sondern echte Philosophen wie sie. Ob ich die auch wollte?

Eigentlich wollte ich nicht, aber das spielte keine Rolle.

Wäre die Antwort wirklich neu, erklärte sie – und jetzt war die Aversion gegen mich wie weggefegt, sie war strahlender Laune –, dann wäre es unmöglich, ihren Wahrheitsgehalt zu bestimmen. Sie schien diese Aussicht wirklich aufregend zu finden. Es gäbe keine Möglichkeit, sie richtig oder falsch zu nennen. Ob ich das verstand?

Sie war in ihrem Lieblingsgebiet, Erkenntnistheorie, angekommen und schoß darin herum wie ein munterer Fisch in seinem Aquarium.

Nein, sagte ich.

Neu, sagte sie, wäre gleichbedeutend mit willkürlich. Willkürlich gleichbedeutend mit sinnlos.

Erkenntnistheoretisch sinnlos vielleicht, sagte ich aufs Geratewohl – ich hatte den Begriff noch nie verwendet –, aber doch nicht wirklich. Ich merke es ja, ob eine Antwort stimmig ist, ob sie mich einen Schritt voranbringt oder, wie du sagst, sinnlos ist. Das hängt von meiner Erfahrung ab, aber zum Beispiel auch davon, wie weit meine Kompetenz sich auf Unbekanntes erstreckt; ob ich neugierig bin, verstehst du?

Einerseits merkst du es logisch, dann hat es nichts mit Wahrheit, nur mit Widerspruchsfreiheit zu tun. Kommt die Erfahrung hinzu; für manche ist vieles noch sinnvoll, was für andere schon willkürlich ist, weil ihnen das intellektuelle Vertrauen fehlt, eben die Neugier.

Oder aber, ergänzte sie träumerisch, die Wahrheitsfindung lief über ganz andere Kanäle als über den Verstand. »Richtig« und »falsch« gäbe es nicht, nur Dinge, die man miteinander teilt. Wahr wäre, was man miteinander zu teilen imstande ist, falsch, was sich sperrt. Es gäbe auch keine Antwort und keine Frage, nur einen entfremdeten Kommentar, der das, was mit dem Verstand nichts zu tun hat, nachträglich in den Griff zu kriegen sucht; eine unnötige Anstrengung, solange es läuft, eine ohnmächtige, sobald es schiefgegangen ist.

Plötzlich war mir, als hätte sie meine Frage beantwortet: Sie war verliebt.

Es war, wie sie gesagt hatte: Ich konnte die Antwort nicht ertragen, aber ich wußte sie trotzdem. Ich hatte die richtige Frage gestellt.

Sie war verliebt, und zwar nicht in mich.

Weil sie verliebt war, pfiff sie auf Erkenntnistheorie, schwärmte von anderen Möglichkeiten als denen des Verstands. Mir war die Erkenntnistheorie an sich egal, ihr nur, weil sie sich verliebt hatte.

Ich pfiff ohnehin darauf, und ich hätte mich durchaus in sie verlieben können.

Oh, ich verstand sie gut, wir waren einander ziemlich ähnlich!

Zum Beispiel glaubte sie, daß ich sie gar nicht um ihrer selbst, sondern um meinetwillen liebte. Aus Selbstliebe. Und damit aus niederen Motiven. Nicht weil sie so war, wie sie war, sondern weil ich so war, wie ich war. Ihr zufolge war ich vor allem eins: süchtig, ein Liebender zu sein (das war in ihren Augen wie eifern, nicht streben). Mit meiner Liebe wollte ich sie erobern, glaubte sie. Wenn man ein Eroberer war, dann mußte es jemanden geben, den man erobern wollte. Das war wie im Krieg. Wie im Kolonialismus war, daß es dabei um die Erweiterung meiner Person ging; sie wollte gar nicht von Herrschaft reden – von ihr aus um Icherweiterung. Sie hielt das für eine Strategie, und daß sie mir nicht bewußt war, verschlimmerte die Sünde, rückte sie in den Bereich des Verächtlichen. Für das Glück, von mir geliebt zu werden, meinte sie, sollte sie ablegen, was sie ausmachte; sie war nämlich der felsenfesten Überzeugung, daß sie gar nicht mein Typ war. Meine Verliebtheit hielt sie für eine Illusion, um nicht zu sagen für blanken Unsinn. Sie sah ja, daß ich brannte, aber sie glaubte mir einfach nicht. Manchmal mußte sie mitten in einer heiklen Situation lachen, dann haßte ich sie (ich spreche vom Haß der Liebenden, nicht von Haß). Später, als sie anfing, mich zu hassen, fand sie in meinem Irrtum einen bösen Sinn: je weniger ich sie mochte, einen desto besseren Grund hatte ich, sie auf diese missionarische Weise zu lieben. Dadurch daß ich sie liebte, glaubte ich, würde sie eine andere, sie würde »mein« werden oder »die Meine«. Im Grunde war sie überzeugt, daß ich es auf ihre Philosophie abgesehen hatte, und das war ja auch nicht falsch: wenn sie sich von mir lieben ließ, dann würde sie das ganze Zeug, diese Krücken der Selbstbehauptung, nicht mehr brauchen.

Aber dazu hätte sie sich entschließen müssen, mich ebenfalls zu lieben. Und sie liebte einen andern.

Ich hatte keine Ahnung, wen.

So wie die Dinge standen – rebus sic stantibus! – war sie verliebt, aber nicht in mich; und ich war tatsächlich auch ein bißchen verliebt, und zwar in sie.

Es ging uns also gar nicht so verschieden. Der Unterschied war nur, wenn ich verliebt war, dann fühlte ich mich wunderbar belebt, ich war lebendig. Ich spürte, daß ich Berge versetzen konnte, und ich fühlte brüderlich. Ich war ein guter Mensch. Wenn sie sich verliebte – und ich vermutete stark, daß sie immer verliebt war, meistens in andere und gelegentlich auch in mich –, war sie verwirrt, blockiert, aus den Fugen. Sie war scharfzüngig und ungerecht, mehr tot als lebendig, zugleich ein lebender Vorwurf an alle, von denen sie sich partout nicht helfen lassen wollte. Sie verurteilte die Menschen, die Kompromisse eingingen, für sie hieß das, ihre Liebe opferten oder zerredeten. Am schärfsten verurteilte sie es, wenn jemand Anspruch auf sie erhob, ihr Vorhaltungen und sogar Vorwürfe machte, weil er sie gern hatte. Die von ihr beachtet, gewürdigt, ja geliebt werden wollten, stieß sie systematisch vor den Kopf. Davon abgesehen, trat sie alles mit Füßen, was das Leben zu bieten hatte, was Geduld und Sorgfalt, eine sachkundige Freude am Genuß und ein wenig Ruhe, kurz eine freundliche, sagen wir zum Technischen hingeneigte Neutralität erforderte. Sonne? Wein? Und gute Freunde? Beinahe hätte sie sich bekreuzigt! Ihr Lieblingsschimpfwort war ersatz, natürlich kleingeschrieben, französisch. Es gab nichts Schlechtes auf der Welt, räsonierte sie. Nicht einmal ein prügelnder Liebhaber mußte schlecht sein. Aber ersatz war immer miserabel.

Ich konnte kein Französisch. In wen mochte sie sich bloß verliebt haben?

Hatte sie wirklich? Sie verliebte sich, wenn nicht geradezu in die unmöglichsten Leute, so in der undurchschaubarsten Weise. Man konnte ihre Entscheidungen absolut nicht nachvollziehen. Sie verliebte sich nicht nach den Regeln der Vernunft, auch wenn man Schönheit, körperliche Anziehung noch zur Vernunft rechnete. Es war einfach nicht klar, nach welchen Regeln sie sich verliebte. Das Schicksal dafür haftbar zu machen war für mich kein gangbarer Weg.

Für sie war es klar wie Kloßbrühe; clair et simple, um es in ihrem Lieblingsfranzösisch zu sagen. Tatsächlich blieb sie immer dieselbe. Und wenn man sich dann anschaute, in wen sie sich verliebt hatte, begriff man gar nichts mehr.

Am gescheitesten wäre noch gewesen, man hätte sich, um wenigstens die Fremdheit zu vermeiden, mitverliebt. Aber das war bei ihrer – wenn ich mich so ausdrücken darf – Objektwahl nicht so einfach.

Alles Gewollte, was Schweiß kostete, war ihrer Ansicht nach sowieso zum Scheitern verurteilt und völlig sinnlos.

Mir war eine finstere Ahnung aufgegangen von der merkwürdig asymmetrischen Symmetrie, in der wir uns befanden – über dem Streß war ich selbst zum Denker geworden! Von meiner Liebe zu ihr war ich nämlich keineswegs überzeugt. Zwar hatte ich immer gespürt, daß ich mich in sie verlieben könnte, hatte es aber aus diversen Gründen unterlassen und gehofft, sie würde sich statt dessen in mich verlieben. Dann hätte ich mich ihr gegenüber so verhalten können, wie wenn ich sie auch liebte, und die Dinge wären unter Kontrolle geblieben. Sie hätte mich in ihren Grenzen geliebt und ich, in meiner grenzenlosen Natur, hätte so getan als ob; der Rubikon wäre nicht überschritten worden. Ich hätte ihre Liebe mit der Tatkraft beschützt, derer ich wie kein anderer fähig war, und das Ergebnis wäre schöner gewesen, als wenn ich sie selbst geliebt hätte; denn dann war ich empfindsam und haute auch mal daneben.

Wenn ich sie aber nicht wirklich liebte – nur in der Form eben, daß ich ihre Liebe erwiderte –, dann war es eine Katastrophe, wenn sie nicht mich, sondern einen anderen liebte. Liebte sie bloß mich nicht, konnte sie doch jeden Augenblick damit beginnen, und indem ich meine Liebe zu ihr simulierte, hätte ich erheblich dazu beitragen können. Wenn sie aber einen anderen liebte – und ich sie nicht –, hatten wir überhaupt nichts miteinander zu tun. Es war keine Liebe zwischen uns. Wir waren wie Fremde (denn, das muß ich sagen, Freunde waren wir nicht).

Dieses Nichts erschien mir schlimmer als Eifersucht und schwarzer Betrug. Es hatte Ähnlichkeit mit meinen schwärzesten Stimmungen.

Sie verurteilte übrigens schwarze Stimmungen und litt selbst darunter. Aber sie kämpfte dagegen an, erklärte sie – indem sie sich verliebte, vermute ich –, ich nicht, sonst hätte ich ihr nicht Vorwürfe gemacht, sie mit Forderungen überzogen. Dabei kämpfte ich immer und gegen alles.

Aber das war verkehrt, sagte sie. Sie hatte mich eben auf dem Kieker.

Während ich damit beschäftigt war, meine Erkenntnisse zu verdauen, amüsierte sie sich logisch, sie amüsierte sich königlich. Ungerührt verfolgte sie ihren Gedanken.

Auf die richtige Antwort kommen hieß also mit der irrigen Ansicht aufräumen, man wisse sie nicht. Letztendlich war es eine ethische Frage: wollte man Verantwortung übernehmen oder nicht?

Verantwortungssucht hatte man mir öfter vorgeworfen, daß ich Verantwortung scheute, noch nie. Aber sie verstand offenbar darunter etwas anderes.

Verantwortung übernehmen hieß den Schleier der Undurchdringlichkeit zerreißen, den Schleier der Rätselhaftigkeit, der uns so teuer war.

Nun übertreib mal nicht, sagte ich. Du redest Brokat.

Nein, wirklich, sagte sie begeistert. Das Leben ist nur dann rätselhaft, wenn man sich willkürlich darüber täuscht.

Das heißt nicht, daß du darüber verfügen kannst. Sondern es verfügt über dich!

Über mich hat noch niemand verfügt, wollte ich einwerfen.

Verantwortung übernehmen heißt über sich verfügen lassen. Sie lachte.

Willkürlich heißt, daß etwas nicht notwendig ist. Ebensogut könnte es anders sein, darum wirkt es so kompliziert. Die Notwendigkeit ist ganz einfach.

Clair et simple, sagte ich, das hatten wir schon.

Du kannst die Wahrheit nicht vertragen, lachte sie.

Sie war penetrant. Aber ich mochte sie verdammt gern. Ich konnte mir einbilden, daß wir ein Spiel spielten: uns die Beleidigungen wie Bälle zuwarfen und nur deshalb so geschickt retournierten, weil wir uns gern hatten. Solange es um Liebe ging, war es keine Kunst, auf dem Grat zwischen Zuneigung und Feindseligkeit nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Aber innerlich war ich traurig.

Warum hole ich eigentlich die Kastanien für dich aus dem Feuer? wunderte sie sich, eine Spur gereizt. Denk doch selbst nach, wenn du ein Problem hast!

Ich bin nun mal kein Philosoph, sagte ich. Sie lachte.

Du verstehst mich nicht, E., sagte ich. Aber ich mag dich.

Ihr Blick sprach Bände. Verwechsle das nicht, sagte er: wir sind uns bloß ähnlich, aber wir sind uns nicht nahe.

Stimmt, dachte ich, und das war die erste Antwort, die ich mir selbst gab. Ich begann das Prinzip zu verstehen.


 ← Zurück |  → Weiter

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.