Ilse Bindseil

Erleuchtung

Erzählfragment

Sie war 58 Jahre und 11 Monate alt, als ihr Erleuchtung widerfuhr. In den letzten Wochen waren ihr Veränderungen an sich aufgefallen, eine größere Extrovertiertheit, eine größere Direktheit, ein Verlust an Innerlichkeit, und an einem langweiligen Tag beziehungsweise am Abend eines langweiligen Tages wurde ihr mit einem Mal das Wesen dieser Veränderungen klar: es war Erleuchtung!

Das war wie eine Schlußfolgerung, ein logisches Begreifen, und darüber hätte sie schon enttäuscht sein können. War Erleuchtung, bei Intellektuellen, nun einmal intellektuell? An dem Abend schlief sie trotz der Inanspruchnahme der gewohnten Hilfsmittel nicht wie sonst ein, grämte sich aber nicht darüber, sondern fühlte sich beschäftigt und immer noch frisch, und als sie mitten in der Nacht erwachte, war es in ihrem Kopf taghell, wenn auch die Erinnerung an das Ereignis sich fast daraus verloren hatte, und sie sagte sich: Vorsicht! Auch Erleuchtung konnte wieder aufhören – wenn man nicht an sie dachte, wenn man zuviel an sie dachte, wenn sie sich nicht erneuerte. Sie war kein Besitz, sie war, na ja, eine Praxis. Es bedurfte des Einsatzes eines ganzen Hilfsmenüs, um sie erneut in den Schlaf zu wiegen; denn obwohl sie sich immer noch frisch fühlte, wollte sie das neue Leben doch nicht unausgeschlafen beginnen, und sie wollte den »anderen Zustand«, von dem sie bereits in ihrer Jugend gelesen hatte, um keinen Preis mit Übernächtigung verwechseln.

Als sie an diesem späten Abend aus dem Kino trat, war es ihr, als wäre die Sonne aufgegangen, oder eine Gesellschaft wäre vorbeigezogen und hätte sie entführt, oder als wäre die Sonne aufgegangen und der Festzug hätte sie entführt; denn in der Tat hatte sie schon seit dem Moment, wo sie das stille Kino verließ, Geräusche gehört und bewegte sich nun absichtslos, aber zielsicher auf die hüpfenden und zuckenden Lichter zu, ob von einem Polizeieinsatz oder einem Fest, wer wollte das bei dieser Gegend schon wissen. Sie kam denn auch an etlichen Wannen vorbei, ehe sie vor die behelfsmäßige Bühne eines Straßenfests gelangte, das seinem Ende entgegenging, und in den Bann der Verstärker geriet, die eine in undurchdringliche Schwärze getauchte Umgebung in ein ebenso undurchdringliches Schweigen stießen. Geschickt umrundete sie die Kinder, die sich in Trance gespielt hatten, nicht mehr von dieser Welt waren, jedenfalls nicht auf der gleichen Etage, und wich auch den Bierflaschen schwingenden Erwachsenen aus. Furchtlos bahnte sie sich ihren Weg. Einen Augenblick schwankte sie, ob sie sich ebenfalls ein Bier kaufen und vor die Bühne stellen sollte, aber das hätte die Situation überstrapaziert, und außerdem mußte sie bereits auf die Toilette. Im Kino hatte sie es zu eilig gehabt, die Spannung machte es ihr unmöglich, sich zu erleichtern. Die Erleuchtung hatte auf sie gewartet! Auf sie führte sie es übrigens zurück, daß die autonome Szene sie gelassen und großzügig aufnahm, und nicht nur darauf, daß sie früher dazugehört hatte und sich auf eine unterirdische Art immer noch zugehörig fühlte. Nicht nur an der natürlichen Generosität der andern lag es, daß ihr weder die Stocknüchternheit noch die Einsamkeit verargt wurde, weder Alter oder Einkommen noch Bienenfleiß, ebenso an ihrer eigenen Trunkenheit. Sonst hätte sie den Asphalt ja nicht mit den Augen der Kinder gesehen und nicht mit deren Füßen gespürt, und das lebhafte Sicherheitsgefühl hätte sich auch nicht eingestellt, die Gewißheit, von nichts und niemandem bedroht zu werden, weder von dem Besoffenen noch von den Drogen, weil schließlich auch sie niemanden mit ihren Erwartungen und Wünschen überzog, an nichts ihren Frust und ihre Sehnsucht heftete. Zum ersten Mal in ihrer unendlichen alternativen Geschichte blieb das Umkippen von Glück in Groll aus, dieses Umzentrieren des Blicks von der Fülle des Ganzen auf die Armseligkeit der Details, von der Aura auf die Realien, auch dieses Hin- und Herkippen aus der Verzweiflung ins Hochgefühl, dieses Umkippen der Bewertung.

Im Rückblick ergaben sich Zeichen, die auf das Ereignis hindeuteten. Für sich allein waren sie nichtssagend und unerreichbar. Addiert, verwandelten sie sich in Zeichen.

Da war die Sache mit Sartre. In ihrer Lesegruppe hatte sie den Widerstand gegen diesen »trivialen Philosophen des 20.Jahrhunderts« aufgegeben und in die Lektüre eingewilligt, obwohl der Anblick des dickleibigen Werks sie beleidigte; sie schwärmte für Wittgensteins Tractatus und darin besonders für den letzten Satz. Bereits auf den ersten Seiten von Das Sein und das Nichts war ihr die entscheidende These entgegengesprungen. Zwischen Wesen und Erscheinung sei kein Keil zu treiben – im Auffassen formulierte sie die Sätze nach ihren Vorstellungen um, aber so ungefähr hieß es. Nun hatten weder ›Wesen‹ noch ›Erscheinung‹ in ihren Überlegungen je eine Rolle gespielt, kamen in ihrem Wortschatz auch gar nicht vor, und es war schon erstaunlich, wie selbstverständlich, ja zupackend sie mit diesem abgegriffenen Paar umging, beziehungsweise es mit ihr. Offenbar hatte sich etwas verändert. Die Begriffe hatten ihre Anstößigkeit verloren, oder sie hatte einen andern Zugang zu ihnen bekommen. Sie waren Tatsachen geworden.

Dann die häßliche kleine Unterhaltung über Erleuchtung, diese Karikatur von einem Gespräch. Es konnte ja niemand ahnen, daß Jakob auf die dumme Bemerkung einsteigen würde, er, der auf nichts reagierte!

Sie pflegte sonst nicht mit großen Worten um sich zu werfen; sie fühlte sich von ihnen in ihrer Winzigkeit entlarvt, noch kleiner, als sie war. Aber gegen die unvorstellbare Enttäuschung, die Perspektivlosigkeit hatte sie das Wort wie eine Panzerfaust geworfen, auch wenn sie kein bißchen an Erleuchtung glaubte, nur andere damit blenden wollte. Jakob, jedenfalls, sollte nicht denken, daß ihre Welt leer war ohne ihn, daß es keine anderen Zwecke für sie gab. Sie wollte ihm etwas verweigern, so wie er sich ihr verweigert hatte, aber dazu mußte sie etwas haben! Zuerst hatte er nicht reagiert, er reagierte nie, wenn man ihn in die Pflicht nahm, und ihr Bekenntnis, daß sie nicht aufhören werde, nach Erleuchtung zu streben, hatte höchstens den Praktikanten beeindruckt. Hinterher aber, als sie noch ein Stück zu zweit gingen, kam er darauf zurück. Was sie sich eigentlich davon verspreche, sie, eine Skeptikerin und Rationalistin wie er, und ob es ihr ernst sei; wobei er ›ernst‹ im Sinn von ›konventionell‹ verwendete und an Klöster und Mönchskutten dachte und an die Verehrung der Frommen und an den Stolz derer, die zur Demut verpflichtet waren und genau darauf ihre Arroganz gründeten – er haßte Betrug!

Er hatte sich in Rage geredet, dabei waren in den letzten beiden Wochen nur noch belanglose Worte zwischen ihnen gefallen. Sie fühlte sich vor den Kadi gezerrt, fing an zu stottern – ihre Art, dem Gegner die Kehle hinzuhalten. Mit Esoterik hatte es nichts zu tun, beteuerte sie, und sie hatte auch alles andere als das Jenseits im Auge. Nicht im Traum hatte sie an Mönche und Klöster gedacht, sie, eine Frau!

Er hatte den Faden verloren und die Unterhaltung abgebrochen, kein Wunder. Zwei Tage später aber fing er wieder an. Der Himmel mochte wissen, wie es in der Zwischenzeit in ihm gearbeitet hatte. Seine Wut war dieselbe, die Verletzung, die sie ihm zugefügt hatte, immer noch frisch, wogegen sie sich kaum mehr an den Gegenstand erinnerte. Erleuchtung, was mochte das sein? Hatte wirklich sie das Wort in die Debatte geworfen und er sich seiner bemächtigt? Rächte es sich so, daß sie es als Waffe benutzt hatte, und sei es, um sich zu verteidigen?

Es hatte noch eine andere, mindestens ebenso wichtige Vorgeschichte gegeben. Das war die Öde dieses Samstagnachmittags, die erste als solche empfundene Langeweile, seitdem sie allein lebte; bis dahin hatte sie immer nur Verlassenheit gespürt oder einfach Depression. Sie hatte das ganze Programm durchgemacht, das Eßprogramm, das Unterhaltungsprogramm, das Leseprogramm, das Einkaufsprogramm und dann auch noch das Hygieneprogramm und war schließlich ins Kino gegangen. Auf den ersten Blick hatte sie gesehen, daß der Film auf der gleichen Wellenlänge war wie sie. Zwischen seine und ihre Langeweile paßte kein Löschblatt. Träge schritt er voran, und träge ging sie mit ihm mit. Nur an dem hohen Busen der Hauptdarstellerin beckmesserte sie ein wenig herum. Die Hauptperson war nämlich eine Untote und das Thema des Films vielleicht die Ohnmacht der Zeit. Sie wußte nicht, was ›untot‹ und ›Ohnmacht‹ oder überhaupt ›Zeit‹ und ›Langeweile‹ mit einem hohen Busen zu tun hatten. Er war da und mußte verarbeitet werden; aber warum ihn durch den Film tragen? Oder es steckte eine männliche Phantasie dahinter, von der Ohnmacht der Zeit gegenüber der Räumlichkeit des Busens, eine Art Unsterblichkeitsphantasie, ein Rettungstraum! Sie hatte sich ausgeschlossen gefühlt, aber hinterher war ihr Erleuchtung zuteil geworden.

Auf den gefährlichen Gitterstufen vor der Kinotür war sie einen Moment stehengeblieben und hatte in die Dunkelheit hineingehorcht, war dann tapfer losmarschiert, den hüpfenden Lichtern entgegen, dem Klang von Zimbeln und Trompeten. Daß sie nicht wußte, worum es sich handelte, hatte ihr weder angst gemacht, noch hatte es sie übermäßig angezogen. Sie war einfach hingegangen, und zum ersten Mal in ihrem Leben ging alles an ihr mit. Mit keinem Gedanken verweilte sie beim Film, keine Ängstlichkeit verknüpfte sie mit ihren bürgerlichen Wurzeln, kein Kalkül mit dem nächsten Tag. Nichts hielt das Heute im Gestern fest oder kastrierte es im Namen einer umfassenden Problematisierung, eines allumgreifenden Verständnisses. Sie hatte Lichter gesehen: »Da hat man ein Geräusch gehört!« Wie der kleine Held aus dem Bilderbuch war sie hingegangen, voller Freude, daß nichts zögerte und zurückblieb, nichts hinkte. Das Unklare lag vor ihr, es würde sich klären. Bin ich das? Bin das wirklich ich? (C’est vous, mademoiselle, c’est vraiment vous, la nouvelle élève?) Nicht einmal diese Frage schien es ihr wert, daß sie verweilte; früher hätte es nichts Wichtigeres gegeben.

Alles an ihr ging, stellte sie fest.

Die Heiligen Drei Könige und ihr Stern: es sah aus, als ob der Komet sie hinter sich herzog. Dabei waren sie in der Bewegung angekommen, im Tun oder im Prädikat. Im Prädikat ankommen bedeutete, daß man nichts zurückließ, auch nicht davonstolperte. Hätte sie Recht auf ein Wappen, sie würde die Szene hineinweben.

Sie hatte den Erkelenzdamm überquert und war in die O-Straße gelangt.

Allem voran ging eine längere Periode, in der sie sich das Sprechen abgewöhnt hatte (das Essen übrigens auch). Sie war gewissermaßen verstummt, erst taktisch und vorläufig, dann for good. Jakobs Tiraden hatten ihr die Sprache verschlagen. Je schlimmer die Reden, die sie zu hören bekam, desto mehr hörte sie bloß zu. Am Anfang war das noch schwer, denn sie war lebhaft und gesprächig. Allmählich gewöhnte sie sich, konnte sich kaum noch erinnern, daß sie jemals geredet hatte.

Sie war jetzt das, was man einen stillen, ruhigen Menschen nennt.

Wenn es um einen Anfang ging, dann konnte sie die Geschichte ihrer Erleuchtung auch mit Zen in der Kunst des Bogenschießens beginnen lassen; das war nie verkehrt. Wenn sie weitergrub, nicht in der Tiefe, sondern im Tagebau schürfend, dann kam noch viel zutage: ihre Leidenschaft für Musik zum Beispiel, ihre ganz neue Toleranz gegenüber Lärm. Oder ihre Vorliebe für Tabak und seine Ingredienzien, für alles, was den Tag unterbrach und den Kopf stillstellte, was sie äußerlich und innerlich aus der Gesellschaft herauslöste, sie Freunden, Interessen und Projekten entfremdete.

Hatte sie lange genug in der Waagrechten geschürft, ging es noch ein Stockwerk tiefer hinunter. Alles fing damit an, daß sie sich traute, allein zu leben, daß sie dem keinen Widerstand entgegensetzte, Angst und Einsamkeit hinnahm, aufkommende Panik niederkämpfte. Hätte die Sprache es zugelassen, sie hätte es so ausgedrückt: Das mit der Erleuchtung hatte begonnen, seitdem sie allein geworden war. Ich wurde allein, hätte sie am liebsten gesagt, damit fing alles an. Das war als Lösung weiß Gott nicht originell und als Tatsache erst kürzlich passiert und als Experiment noch lange nicht zu Ende, aber von der Ausbreitung her jetzt schon beklemmend.

Bei dieser Gelegenheit erinnerte sie sich an den Silvestervorsatz vom vorigen Jahr, den sie zwar nicht begriffen, in der Folge aber treulich befolgt hatte: Ich will mit meinen Schattenseiten leben!

Insgeheim hegte sie nämlich Zweifel, ob das Alleinsein nicht von den Schatten herrührte, statt umgekehrt. Sie hatten unterirdisch so lange gewühlt, bis sie schließlich an die Oberfläche traten und die Zweisamkeit hinwegfegten samt allen zauberhaften Früchten, als da waren Nachgiebigkeit, Freundlichkeit, Friedfertigkeit. Wenn das stimmte, dann war das Alleinsein nur eine Schattenseite unter anderen, keine Ursache, und dann konnte es auch nicht so schwer sein, dahinter zurück-, kurz einen Schritt weiterzugehen.

War wichtiger als das spätere Alleinsein nicht, daß sie früher mit Menschen gelebt hatte, die sie nicht verstand und die wiederum sie anders verstanden, als sie sich selbst verstand? War das nicht der Beginn der Erleuchtung gewesen, daß sie sich aus allem Vertrauten herausgelöst und dem Fremden den Vorzug gegeben hatte vor dem Verwandten, der Betrachtung vor dem Gebrauch?

Gehörte in die Vorgeschichte der Erleuchtung alles, was keine irreführende Ähnlichkeit verkörperte und keinen falschen Anknüpfungspunkt lieferte, auf keine vorgegebene Ordnung, keinen Plan, überhaupt kein System verwies? Also fast alles nicht?

So weit wollte sie nicht gehen. Fast alles nicht war fast so wie alles. Alles, das war so gut wie nichts. Auch Erleuchtung würde schließlich wie nichts sein.

Sie hatte überhaupt keinen Bock darauf.

Es gab bereits so etwas wie eine Verfallsgeschichte der Erleuchtung, die mit dem glanzlosen Kung-Fu-Film am Tag danach begann. Mit einer Ergebenheit sondergleichen hatte sie die beiden Irrtümer über sich ergehen lassen, erst den Mitschnitt von der Galavorstellung der Shaolin-Mönche und dann noch die Amateuraufnahmen vom Alltag in der Berliner Dependance des Klosters. Am hellichten Nachmittag hatte sich das Kino bis auf den letzten Platz mit Adepten gefüllt. Nur sie hatte mit dem allen nichts zu tun, war im Wortsinn im falschen Film, empfand ihre mangelnde Zugehörigkeit aber merkwürdig undramatisch. Das Ausbleiben der Qual bezog sie auf die Erleuchtung, vor deren Richterstuhl der Unterschied zwischen Ein- und Ausgeschlossensein keinen Bestand hatte. Nicht einmal die Anwesenheit der Mönche konnte sie sonderlich beeindrucken; früher hätte sie zu ihnen gesagt, nehmt mich mit, oder wo ihr hingeht, da will auch ich hin. Behaglich hatte sie sich in ihrem Sessel zurechtgesetzt, und hinterher wollte sie dann so schnell wie möglich nach Hause.

Am U-Bahnhof war ein Fest im Gang, das nahm sie auf. Auf dem Anrufbeantworter fand sie irritierte Anfragen vor: Wo konnte sie am Sonntagnachmittag sein? Warum war es nicht möglich, sie zu erreichen?

Alles in allem war das Wochenende ein Erfolg gewesen. Sie war vom Schema abgewichen und sogar zweimal hintereinander ins Kino gegangen, dabei kriegte sie sonst den Hintern nicht hoch. Der erste Film war ein cineastisch anspruchsvoller Mißgriff, der zur Erleuchtung führte; der zweite einfach ein Irrtum, und der Tag wäre in einem Desaster geendet, hätte es sich nicht um einen in all seiner Trübseligkeit himmlischen Sonntag gehandelt. Dazu paßte, daß das Hermannstraßenfest der Hermannstraße ähnlicher war als einem Fest. Aber die Schausteller nahmen es nicht persönlich, und am späten Abend räumten die Händler die Klamotten behutsam von der Stange und betteten sie in die bereitgestellten Kartons. Zufrieden war sie nach Hause gegangen, und erst die irritierten Bemerkungen auf dem Anrufbeantworter hatten in ihr eine seltsame Leere, eine Mischung sozusagen aus Triumph und Zweifel erzeugt. War es möglich, daß sie, scheinbar erleuchtet, im Zustand der Spaltung lebte? Daß ihr Dinge abhanden kamen, Verwandte, Freunde, eine ganze Welt?

Am nächsten Sonntag verlor sie die Brille, und das Wiederfinden glich einer Höllenfahrt durch alle Etagen der Demütigung und Hilflosigkeit. Es geschah wiederum auf dem U-Bahnhof, diesmal am Vormittag, kurz vor halb neun; um neun öffnete ihr Stammcafé am Gendarmenmarkt, da wollte sie lesen. Für ein paar Minuten hatte sie sich auf die Bank gesetzt und in der Zeitung geblättert. Als sie im Zug dann die Brille nicht auf ihrer Nase spürte, sprang sie bei der nächsten Station auf den Bahnsteig und sah die Gegenbahn abfahren wie einen Gespensterzug. In Panik stürzte sie zu ihrem Wagen zurück; nichts fürchtete sie mehr als das Unglück, das sie anrichtete, um ein vermeintliches wiedergutzumachen. Hatte sie die Brille etwa auf den Platz neben sich gelegt, brauchte sie nur aufzusetzen, weiterzufahren, Kaffee zu trinken, das Malheur zu vergessen? Aber drei gewichtige Hintern hätten sie längst plattgesessen. Umsonst bat sie den Zugführer um Hilfe und wandte sich dann ebenso vergeblich an den Notruf. Sie solle mit dem nächsten Zug zurückfahren, hieß es, dann wäre sie so schnell wie jeder mögliche Helfer.

Während sie auf- und abging, versuchte sie sich auf das Schlimmste einzustellen: daß die Brille weg war und sie für Ersatz sorgen, das hieß ohne Brille nach der alten fahnden mußte. Wie und wo sollte sie suchen, wen belästigen, in welchen Kartons kramen; sie waren auf dem Hängeboden, fremde Leute in ihrer alten Wohnung – einmal mußte es sich rächen, daß sie das meiste verpackt hatte, bevor sie für eine Weile wegzog, weil sie sich einbildete, sie käme fast ohne alles aus; mit leichterem Gepäck wollte sie leben.

Als sie in heller Verzweiflung aus der U-Bahn sprang, rissen in ihrem Kopf etliche Verknüpfungen. Sie wußte in dem Moment nicht mehr, woher sie kam, wohin sie wollte. Was ihr einfiel, schien ihr gleichermaßen fremd, und daran merkte sie schließlich, daß sie im falschen System dachte. Am Hermannplatz kreuzten sich zwei Linien; mit der einen war sie früher gefahren, und die andere benutzte sie jetzt. In ihrer Aufregung hatte die alte Linie die Oberhand bekommen, und es hatte sich ihr alles verwirrt. Mühselig tastete sie sich bis in die Gegenwart zurück, nicht stürmisch die Grenzen überspringend wie damals, als sie von heute auf morgen ihre Wohnung verlassen hatte, sondern Schritt um Schritt, eher logisch als wirklich und daher ohne rechte Überzeugung, wenn auch in unanfechtbarem Beweisgang. Sie kam von der Hermannstraße, zu dieser Einsicht gelangte sie schließlich, und wollte in die Stadt (aber bitte mit Brille). Mit Spandau und Rudow hatte das nichts zu tun; kein Wunder, daß die Namen zu ihrer Orientierung nichts beitrugen. Mit der puren Kraft des Gedankens hob sie die Kreuzung aus ihrem Kopf, ließ sie wie das Element einer Spielzeugeisenbahn über dem Bahnsteig schweben und setzte sie exakt im richtigen Winkel ab, so daß sie in die äußeren Verhältnisse hinübergleiten und sie die Verantwortung abgeben konnte. Dann atmete sie auf. Der Hermannplatz war übersichtlich und geräumig; was in ihrem Kopf zur Kollision geführt hatte, hier kreuzte es sich bloß. Andererseits war das eine mutige Lösung, wenn sie bedachte, was es in ihrem Kopf angerichtet hatte: sie war in das frühere Leben gesprungen, Raum hatte gegen Zeit gesiegt. Überdies betrug der Kreuzungswinkel nur auf dem Plan beruhigende neunzig Grad; sie, jedenfalls, zog das Schema vor. Überhaupt erschien ihr das Auseinanderlegen in dem Moment als die Lösung für alle existentiellen Probleme, wenn es sie auch traurig stimmte, daß Ordnung eine Sache der Geometrie war, und wo die Geometrie zusammenbrach, passierte dann so etwas.

Offenbar hatte sie mit ihrer Sehkraft vorübergehend auch ihr Zeitgefühl eingebüßt, also einen wichtigen Teil jener allgemeinen Instanz, die die Realität bildete. Gott sei Dank bestand diese nicht nur in der Zeit und nicht nur in ihrem Kopf, der U-Bahnhof Hermannplatz war der Beweis dafür. Aber einen Augenblick hatte sie die Wahrheit der Kantischen Behauptung gespürt, daß die Wirklichkeit im Verstand synthetisiert werde. Als sie »nichts mehr gesehen« hatte, waren die Daten nicht mehr in ihren Verstand gelangt, und prompt war die Wirklichkeit zusammengebrochen; oder vielmehr weil sie ein bißchen zusammengebrochen war, hatte die Wirklichkeit in ihrem Kopf für Sekunden das gleiche getan. Erst in einem zweiten Schritt, einem rechten Kraftakt, bei dem es ihr vorkam, als müßte sie ein physisches Gewicht mit purer geistiger Anspannung heben, war ihr klar geworden, daß die Wirklichkeit auch ohne sie existierte. Gleichzeitig hatte sie sie noch einmal geschaffen, nur mit Hilfe ihres Verstands und der Gewohnheit, also jenes allgemeinen Kopfes, dessen Existenz ihr in dem Moment bewußt wurde, wo sie das Versagen des eigenen überwand. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, die Lust zu weinen überkam sie. Sie versuchte die Zeiger der riesigen Uhr zu erkennen, und in dem Moment fragte sie ein junger Russe – was weiß ich, ein junger Bulgare –, ob sie ein bißchen Geld hätte. Ich will jetzt nicht an Geld denken, sagte sie, ich habe meine Brille verloren. Erschreckt sagte er ihr die Uhrzeit, und sie ärgerte sich. Mit ein wenig Anstrengung hätte sie es selbst geschafft. Er hielt sie wohl für blind. Als sie ihm etwas geben wollte – um das Schicksal gnädig zu stimmen, wegen der Brille, oder aus Respekt, weil er über ihrer seine Not vergessen hatte –, war er verschwunden. Die Bahn fuhr ein und sie in gespannter Erwartung zurück. Schon von weitem – das sah sie schemenhaft – blickte ihr ein Mann entgegen, winkte mit dem dünnen Gestell. Lächelnd hielt er ihr die Brille hin. Auch die Frau neben ihm wandte sich ihr zu. Nun konnte auch sie selbst ihre Freude nicht mehr bezähmen, ihr Gesicht öffnete sich, sie hätte am liebsten gejauchzt. Die Hände legte sie ineinander zu frommem Dank und mußte schon wieder lachen, als wäre das Ganze eine Komödie. Woran haben Sie erkannt, daß ich die mit der Brille bin? fragte sie. Aus dem Gesicht der Frau schwand jedes Verständnis, der Mann aber antwortete in einer slawischen Sprache, und jetzt erkannte sie auch, daß sie nichts miteinander zu tun hatten. Als die Frau sich auch noch wegwandte, weil ihr Interesse an dem kleinen Vorfall restlos aufgebraucht war, sah man nicht nur den leeren Platz, sondern den Abgrund an Beziehungslosigkeit zwischen den beiden. Sie waren einander so gleichgültig, daß sie nebeneinander auf derselben Bank sitzen konnten.

Sie bedankte sich in langsamem Deutsch und wechselte auf die Gegenseite hinüber, wanderte den Bahnsteig entlang, die Brille in den Händen, während ihr Tränen der Erleichterung und eines allgemeinen Wehs aus den Augen stürzten.

Als sie zwei, drei Stunden später, vom Kaffeetrinken heimkommend und wieder guter Dinge, erneut über den Bahnsteig ging, sah sie in einiger Entfernung den Rücken des Mannes, der ihr mit der Brille gewunken hatte, und, in nicht zu übersehendem Abstand, den der Frau. Hastig und ohne sich noch einmal in Erinnerung zu bringen, stieg sie nach oben, an die frische Luft.

Eine Woche später – es waren nun mal die Sonntage, wo sie sich Einsamkeit leistete – hatte sie eine Begegnung, die sie erneut an einen Film erinnerte. Aus einer Gruppe türkischer oder arabischer Männer, die vor einem der in der Hermannstraße aus dem Boden sprießenden Wettbüros standen, faßte ein Mann sie ins Auge; sie sah es von weitem. Der Abend war hereingebrochen und sie heiter und selbstbewußt, da sie eine lästige Arbeit beendet hatte. Jetzt war sie auf dem Heimweg und freute sich darauf, sich, wie es ihre Gewohnheit geworden war, mit ihren Schattenseiten zu beschäftigen, bevor sie schlafen ging, die Beine hochzulegen und ein wenig zu dösen, als ihr Blick auf den Mann fiel oder vielmehr sein Blick auf sie. Er war eher klobig und unschön, beides aber mit Fasson und auf eine selbständige Art. Er hatte les yeux durs, harte Augen, und sie Gelegenheit genug, sich davon zu überzeugen; denn solange sie auf die Gruppe zuging, die von ihr natürlich nicht die geringste Notiz nahm und von der er sich nicht zuletzt durch einen äußerlichen Abstand unterschied, blickte er ihr nicht nur entgegen, auch direkt ins Gesicht. Sie beschloß die Konfrontation zu riskieren und das eherne Gebot des muslimischen Kiezes zu brechen, wandte ihren Blick, der von seinem angezogen wurde, nicht ab, als sie vorbeiging, und so war es, als prallten ihre Augen an der spiegelglatten, harten Außenfläche der andern ab und glitten zur Seite. Der Augenblick hatte etwas von zügelloser Libertinage und die unverbrüchliche Einsamkeit der Beteiligten etwas vom Letzten Tango in Paris. Sie war nach Hause gegangen im Bewußtsein, mit diesem Zug ein neues Match eröffnet zu haben, jenseits der Grenzen, innerhalb derer sie sich normalerweise bewegte, im Revier eines fremden Spielpartners, der, da es um jene durch und durch fremde Sache Liebe ging, wohl besser als Sexpartner bezeichnet wurde. Noch im Dunkeln, kurz vor dem Einschlafen, war sie mit Staunen beschäftigt, von einem Fremden als Kreatur gewürdigt worden zu sein, und irgendwie ganz aufgeregt. Da war nichts gewesen, was die Absicht verschleiert oder einen Zugang eröffnet hätte, nur blanke Konfrontation. Hätte er sich ihr in den Weg gestellt, vor seinen Freunden, ihr, der älteren, deutschen Frau, und sie angesprochen, sie wäre natürlich ausgewichen, oder nicht? Umgekehrt, war gar nicht auszudenken. Gern hätte sie sich eingebildet, daß es um Liebe ging, und dachte einen Moment an jene weiche Stimme, an einem anderen Sonntagabend, die am Telefon nach Mustafa fragte. Ich glaube, Sie haben sich verwählt, hatte sie freundlich gesagt. Das glaube ich auch, hatte die weiche Stimme erwidert; es war, als kennten sie sich seit langem. Als er eine halbe Stunde später erneut nach Mustafa fragte, erkundigte sie sich nach der Telefonnummer, die er hatte wählen wollen, und er nannte ihr ihre. Das war hübsch. Aber sie nahm sich vor, ihn zu bitten, erst am nächsten Tag wieder nach Mustafa zu fragen, falls er noch einmal anrief. Ich will schlafen gehen, wollte sie sagen, versuchen Sie es bitte morgen wieder.

Es ging nicht um Liebe. Es ging um Erleuchtung.

Es ging nicht um Versöhnung; da mochte die Telefonstimme noch so vertraut klingen, das Fremde in Verwandtes verwandeln, das private in allgemeines Schicksal. Es ging um den Körper.

Sie wußte alles über Versöhnung und nichts über den Körper.

Über Kreatürlichkeit wußte sie gar nichts.

Sie konnte nicht darüber nachdenken – sie fand keine Form! –, und sie konnte es auch nicht lassen, darüber nachzudenken. In früher Jugend war sie dem Ammenmärchen aufgesessen, daß der Körper hinter dem Geist zurückzutreten habe, und hatte ihren Instinkt verloren. Und das war noch eine unglaublich beschönigende Version, die den wahren Hergang verschwieg: daß der Körper sich vor dem Geist in den Staub geworfen hatte, vor langer Zeit, in einer feierlichen Orgie, die nicht ohne Genuß war, und wenn sie sich das vorstellte (das tat sie aber nicht), dann erhaschte sie auch einen Blick auf den hochaufgerichteten, gefräßigen Vogel, der mit den Flügeln schlug und von dem sie gar nicht zu denken wagte, daß es der Geist war; aber ein anderer kam in dem Drama ja nicht vor.

Kein Wunder, jedenfalls, daß sie den Körper nicht verstand und von Kreatürlichkeit keinen blassen Dunst hatte. Er war vom Radar verschwunden, vor langer Zeit. Um auf Kant zurückzukommen, synthetisiert wurden nun mal nur andere Körper.

Eine Woche später, im Mariendom von Kolobrzeg, vor der vollendeten Scheußlichkeit eines Heiligenbilds in einem Seitenschiff, im Schatten einer Säule, die durch ihre unangenehme Farbgebung ebenso auffiel wie durch die von ihr ausströmende Kälte, ihre alles verstellende Klobigkeit, nur in Gesellschaft eines Mannes, dem die Häßlichkeit des Bildes, vor dem er kniete, ebenso gleichgültig war wie seine eigene Männlichkeit und die daran gekoppelte Urteilsfähigkeit und Kritik, da suchte Erleuchtung sie noch einmal heim. Als sie nämlich nach dem Taschentuch in ihrer Jackentasche griff, um die von der Kälte tränenden Augen abzuwischen und sich die Nase zu schneuzen, stieß sie auf das feuchte Tüchlein ihrer Mutter, das Schnupptüchlein. Ihre Mutter war eine spröde Frau gewesen, niemand durfte sie anfassen. Sie liebte die frische Luft, hatte aber mit dem berühmten Tröpfchen aus den Nebenhöhlen zu tun, das so komisch war und auch wenig tragisch; denn keine noch so gute Erziehung konnte es aufhalten. Wenn sie das Haus verließ, hatte sie auf die Taschen der robusten Jacke mit den groben Karos geklopft, um zu prüfen, ob sie Hausschlüssel und Taschentuch eingesteckt hatte. Dann erst hatte sie die Tür hinter sich zugezogen und war in den Garten gegangen.

So hatte sie sich die fällige Aufklärung nicht gedacht: daß sie Mutters Nase in ihrem Gesicht spürte. Sie glaubte sich mit ihren Tabus wohlvertraut und stellte sich die Befreiung anders vor. Von der Hingabe an einen Mann träumte sie, der von ihr nichts als den Körper wollte. Nicht die lichte Seele noch den klaren Geist, den scharfen Verstand oder das fröhliche Herz, sondern den Körper. Aber den sollte er wollen müssen, das verlangte sie gewissermaßen von sich. Dabei war sie natürlich der falsche Adressat; denn der gute Wille, der Berge versetzen konnte, und das unveräußerliche Gesetz des Tabus, daß es gebrochen werden mußte, waren alles andere als ein und dasselbe. Aber genauso hatte sie sich die Aufgabe gedacht, die der Körper beinhaltete: daß er jemand übergeben werden mußte. Er samt dem andern, der nicht diesen Körper da, sondern das Kreatürliche an ihm zu schätzen wußte, bildete die Dyade der Körperlichkeit.

Freiwillig war sie in die Heimat ihrer Eltern zurückgekehrt, als Reiseleiterin. Im Angesicht der Kirche hatte sie sich für einen Augenblick von allen Verpflichtungen losgesagt. Kirche war Kirche. Barhäuptig – Kapuze runter! –, Herz und Seele blank, so hatte sie das Gotteshaus betreten und vergeblich das Weihwasserbecken gesucht. Schließlich war sie unbekreuzigt nach vorn gegangen und der Stillosigkeit in die Arme gelaufen. Konsterniert hatte sie vor der Bild gewordenen Scheußlichkeit über dem vorderen Seitenaltar haltgemacht. Die Mischung aus Realismus und dreister Symbolik war ihr fremd. Ihr kam es vor, als stünde sie dem Grund für den eklatanten Mangel an ästhetischer Urteilskraft gegenüber, der ihr an ihren Eltern schon immer aufgefallen war, und damit am Anfang ihrer eigenen Geschichte.

Auch im Mariendom war seltsamerweise eine weitere Person im Spiel, erst dieser fromme Mann, der so ganz anders war als sie und sich dennoch vor demselben Altar eingefunden hatte, und dann natürlich ihre Mutter. Über die Mutter zu weinen ergab süße Tränen, sofern sie geweint werden konnten. In der Kälte des Kircheninnern, die jeden Widerstand zersetzte, ergab es eine ganze Flut; die schwemmte die Reste der Skepsis hinweg. Über den Körper und die ihm angesonnene Pflicht zur Hingabe nachzudenken war ihr tagtägliche Gewohnheit; meist glitt es in Seligkeit hinüber. Das gleichgültige Nebeneinander der beiden Aufgaben wurde mit trockenem Geschluchz quittiert.

Insgesamt hatte sie zuwenig bedacht, daß der Körper eine weitere Aufgabe bereithielt. Vor der verflüchtigten sich die Demütigungen, das fatale Gesehen-Werden, das fatale Erkannt-Werden. Aber auch sie hatte mit der Zweiheit zu tun.

In ihrem ganzen Leben fand sie keine Aufgabe als diese beiden, die horizontale der Hingabe an einen andern und die vertikale der Hingabe an den Tod.

Hier mußt du weiterdenken, sagte sie sich, bereit, aus allem eine Lehre zu ziehen, unfähig, das Böse stehenzulassen; auch seltsam erholt.

Aber weiterdenken war ein letztes, kein erstes Wort.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt6.html.

Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© 2004 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt (siehe http://www.ilsebindseil.de/imp.html).