Apropos Mathilde

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III. Teil

1

Nach meiner Rückkehr aus Frankreich geriet ich in Turbulenzen. Ich fing etwas mit Gabriele an, einer Kollegin, deren Mann ebenfalls bei uns arbeitete, und machte mir Vorwürfe; zumal es sich nicht um die Liebe meines Lebens handelte und die Sache den Schaden, den sie anrichtete, nicht wert war. Ich dachte sogar daran, wieder nach Frankreich zu gehen, aber nicht ernsthaft. Gerade in der ersten Zeit war ich moralisch gewissermaßen geschwächt. Klar, das ist ein Zeichen für Verliebtheit: man möchte widerstehen, aber man kann nicht. Kaum war das Porzellan zerschlagen, fühlte ich mich soweit wiederhergestellt, daß ich es geschafft hätte, wäre noch alles in der Schwebe gewesen.

Das war undankbar gegenüber Gabriele, denn die Liebe tat mir gut. Daß ich beweglicher war und mich für alles mögliche interessierte, mochte noch auf das Konto der Heimkehr gehen. Aber ich verspürte auch die Kraft, etwas in Angriff zu nehmen: ein Regal zu bauen oder meine Briefmarkensammlung in Ordnung zu bringen. So wie mit vorrückendem Alter das Bedürfnis sich einstellt, den Stammbaum der Familie zu erforschen, so wollte ich, noch jung und mehr auf Taten aus (auch mehr an mir als an den Angehörigen interessiert), die abgestorbenen Teile in meiner Biographie ausschneiden und durch neue, lebendige Verknüpfungen ersetzen. Ich muß mal Inge anrufen, sagte ich mir. (Das war meine geschiedene Frau.) Und ich erkundigte mich nach Mathilde.

Ich fing bei Gabriel an. Aber der ließ sich bitten. Ich hatte in der letzten Zeit viel erlebt, und davor war ich in Frankreich gewesen; beides hatte meinem Gedächtnis zugesetzt. Daß zwischen ihm und Mathilde etwas war, wußte ich noch. Aber ich erinnerte mich nicht mehr genau, was, schließlich war ich damals im Aufbruch, und was es für mich bedeutete, den Hintern hochzukriegen und für ein Jahr ins Ausland zu gehen, das kann man gar nicht schildern. Da Frankreich sich als Papiertiger herausgestellt hatte, kam ich zu dem Schluß, daß auch das Schuldgefühl, das sich um meine Trennung von Mathilde rankte, mehr oder weniger unbegründet war. Diese Empfindung war vermutlich aus dem Zusammenfluß der unterschiedlichsten Quellen entstanden, man denke nur an die berühmten kindlichen Prägungen (ich konnte mich an keine einzige erinnern), offenkundige Einsamkeit (aber ich war schon immer gern für mich gewesen), wozu sich theoretisch eine nicht heilende Verletzung von der gescheiterten Ehe (ich war mir keiner bewußt), aber ebensogut die klassische Midlife-crisis, Ärger im Beruf und so weiter gesellt hatten. Wenn ich Ordnung in meine Gefühle brachte, dachte ich, dann käme auch die Sache selbst in Ordnung. Wenn ich keine Ressentiments mehr hatte, dann würde sich auch das Unrecht erledigt haben.

Gabriel teilte meine Ansicht nicht. In meiner Naivität dachte ich, er mißtraute meinem guten Willen. Aber als ich versicherte, daß ich mich aus echtem Interesse nach Mathilde erkundigte, wurde er regelrecht feindselig.

Du glaubst wohl, daß euch das Schicksal getrennt hat, sagte er. Frankreich, zum Beispiel, fügte er höhnisch hinzu.

Ansonsten wußte er auch nicht, wo sie abgeblieben war. Wahrscheinlich war sie wieder nach Hause gefahren.

Da konnte sie nicht hin, sagte ich. Sonst wäre sie ja mit nach Frankreich gekommen.

Er runzelte die Stirn. Vor Anstrengung vergaß er, daß er böse auf mich war.

Irgendeine Kurzschlußhandlung, sagte ich, weil sie ihr Konto überzogen hatte oder weil man sie beim Ladendiebstahl erwischt hat. Vermutlich ist sie untergetaucht. Auch in diesem Fall, wie in so vielen, dürfte sie die Bedeutung ihrer Taten weit überschätzt haben.

Gabriel lächelte.

Die paar Male, wo er mit ihr ausgegangen war – vorher, meinte er schulterzuckend (also bevor ich und Mathilde) –, da war immer etwas passiert. Einmal hatte der alte Herr am Nebentisch einen Herzinfarkt bekommen. Sie hatte sich gleich um ihn gekümmert. Erst als der Kellner das Essen an Gabriels Tisch brachte, wurde klar, daß sie gar nicht zu dem alten Mann gehörte. Aber da war sie schon mit der Feuerwehr in die Klinik gefahren. Ein andermal hatte sie auf der Toilette eine Brieftasche mit Geld und Kreditkarten gefunden: mit Ausweisen und dem ganzen Kram.

Natürlich hatte sie die Brieftasche zurückgegeben und die Verliererin glücklich gemacht. Sie hatte sich überschwenglich bedankt. Gabriel fand das peinlich, schon das Zuhören war ihm eine Zumutung. Aber wenn man bedachte, wieviel Bürokratie Mathilde der Frau ersparte, ging es völlig in Ordnung. Abgesehen von dem Vertrauen in die Menschheit, das sie ihr zurückgegeben hatte. Gabriel meinte, sie hätte auf dem Finderlohn bestehen sollen. Aber das hatte sie schon damals nicht gemacht, als sie die Krokodillederhandtasche fand, auch wenn sie sich über die Besitzerin aufgeregt hatte. Wenn Sie glauben, daß Sie mich erpressen können! hatte die am Telefon geschrieen. Vor Wut hatte Mathilde ihr das Täschchen ohne Angabe des Absenders geschickt. Damit sie gar nicht erst in Versuchung kam, sich zu bedanken, sagte sie, aber in Wirklichkeit, damit die Verweigerung des Danks von ihr ausging, hatte sie doch genug eingesteckt. Gabriel glaubte, vor dieser Frau hatte Mathilde Angst gehabt. Sie liebte Zufallskontakte und war bereit, etwas aus ihnen zu machen, reagierte aber hilflos, wenn sie schiefgingen. Der andere mußte sich doch auch freuen, sie verstand das nicht, und bei Männern passierte es ihr übrigens nie. (Nur bei mir.) Nie wäre ihr der Gedanke an Geld gekommen. Geld fand sie auf der Straße, und sie war dann nicht so blöd, es liegenzulassen.

Wirklich, sagte Gabriel, sie fand unglaublich oft Geld.

Bestimmt hat sie ihre Miete nicht bezahlt, sagte ich, und ist deshalb an die Luft gesetzt worden. Wenn du mich fragst, dann war es nicht das erste Mal.

Und wenn du mich fragst, sagte Gabriel, dann hast du dir die Liebe deines Lebens vermasselt. Das war mal eine, die dich gern hatte.

Wahrscheinlich hatte sie eine Odyssee hinter sich; ich meine, in Frankreich. Ein paar Tage hier, ein paar Tage da, immer bei irgendwelchen Bekannten. Und bei mir war sie dann auf etwas Festes aus. In Deutschland war es mit dem Herumtingeln nicht so einfach. Also hat sie etwas Neues probiert.

Er zwinkerte vor Aufregung.

Sie hat sich von dir verarscht gefühlt. Kaum seid ihr zusammen, schon fängst du an, von Veränderung zu reden. Das alte Gesetz der Zentrifuge: du drehst dich so lange, bis sie von dir weggeschleudert wird. Und dann auch noch Frankreich! Eine andere hätte sich vielleicht geschmeichelt gefühlt. Aber Mathilde hat buchstäblich die Handschellen klirren gehört.

Natürlich hatte es ihr nicht in den Kram gepaßt. Sie hatte mit dem Bauch gesiegt, ich mit dem Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte, mit dem Kopf zu siegen. Der Kopf arbeitete dem Bauch zu, aber doch nicht umgekehrt. Worauf sollte das hinauslaufen? (Wann war das jemals zu Ende?) Ebensowenig sah sie einen Sinn darin, daß man, nachdem man in beider Namen gesiegt hatte, noch für sich allein siegen wollte, es sei denn, es ging gegen den andern. Da es gleichzeitig gegen einen selbst ging, mußte die Wut erheblich sein, da konnte man gleich von Haß reden.

Aber das mit der Miete, sagte ich, ich schwöre, daß es so abgelaufen ist. Erst hat sie sie monatelang nicht bezahlt, dann ist sie aus der Wohnung rausgeflogen. Sie hat ihre Sachen verscherbelt beziehungsweise irgendwo untergestellt und ist zu Freunden gezogen. Als die immer ungeduldiger und die nächsten immer unzuverlässiger wurden, hat sie die Notbremse gezogen. Vielleicht ist sie auch das Herumziehen leid gewesen. (Es war eintönig, hatte sie nicht umhin können festzustellen, noch eintöniger, als zu bleiben.) Sie hatte Sehnsucht nach einer festen Bleibe bekommen, nach den Freuden der Zweisamkeit, kurz nach einem Zuhause.

Ob da noch mehr war und sie sich während ihrer Odyssee, an die ich immer fester glaubte, an der Kreditkarte eines ihrer Gastgeber vergriffen hatte: mit mir nach Frankreich zu gehen kam jedenfalls nicht in Frage. Sagen wir, es hätte sie an zu vieles erinnert, und es war in jedem Fall nicht das, was sie im Auge hatte, als sie sich entschloß, mich, den tumben Deutschen, zu beglücken.

Du hast sie schauerlich im Stich gelassen, stellte Gabriel abschließend fest. Und warum du dich ausgerechnet jetzt für sie interessierst – er zwinkerte gewissermaßen im Kreis, um das kollegiale Umfeld anzudeuten, in dem ich seiner Ansicht nach wilderte –, das wissen die Götter. Was willst du eigentlich von ihr?

2

Auf der Arbeit war das Leben kompliziert geworden. Aber solange das kollegiale Verhältnis sich bewährte, fühlte ich mich wenig bedroht. Ich entwickelte sogar Familiengefühle. Je mehr ich Gabis Mann betrog, desto mehr schätzte ich ihn, ja ich wäre glücklich gewesen, wenn er mich als jüngeren Verwandten akzeptiert hätte; dabei war er gar nicht älter, aber schon länger mit Gabi zusammen als ich und hatte Besitzerfalten im Gesicht. Ich hoffte, er würde sich zu einer vernünftigen Einstellung durchringen, wenn er über den ersten Schock hinweg war. Ich hätte mich auch von ihm schurigeln lassen, so wie sich das unter Familienmitgliedern gehörte. Man vergab sich ja nichts dabei. Leider sahen wir uns zu selten, um uns an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen, ich glaube, er mied mich. Ich bedauerte das und hoffte, daß sich noch etwas ändern ließe. Offensichtlich überschätzte er die Beziehung zwischen seiner Frau und mir (so wie ich ihn überschätzt hatte). Ich war von ihm enttäuscht, hatte ich ihm doch mehr zugetraut: daß er das schicksalhaft Kleine dieser Beziehung begriff und sie als das akzeptierte, was sie war: eine Affäre.

Von den Kollegen fühlte ich mich eher gestützt, beinahe getragen. Je mehr sie mein Verhalten mißbilligten, desto lebendiger empfand ich, daß ich in einem Bezugssystem lebte. Ich wurde kritisiert? Um so besser. So wurde ich aufgefangen, noch während ich fiel. (Fallend verfing ich mich.) Die Trennung von meiner Frau war eine glasklare Angelegenheit, von uns ganz allein, im geometrischen Raum, jenseits des Grabes gewesen. Was ich jetzt erlebte, spielte sich eindeutig unter Menschen ab. (So lebte man!)

Auch deshalb nahm ich es anstandslos hin, daß ich von Gabriel niedergemacht wurde, wo immer sich die Gelegenheit dazu ergab, das heißt ich mich ihm aufdrängte. Ich begriff, daß Respekt womöglich etwas anderes bedeutete, als ich mir vorgestellt hatte. Vielleicht existierte er ja nur in der verquasten Form, in der ich Gabis Mann achtete, weil er seine Frau aushielt, und niedergemacht zu werden war eher die praktische Version davon, aber auch eine Respektbekundung sowie beides eine Form des Miteinanderlebens. Jedenfalls, wenn ich nach Hause kam, fand ich meine Wohnung unangenehm unbewohnt vor. Da war niemand, der mir seine Mißbilligung ausdrückte. Andererseits genoß ich es, daß ich sie blöd finden durfte, und morgens fand ich die Stiefel da, wo ich sie abends ausgezogen hatte, genau vor dem Sessel (wo ich sie wieder anziehen konnte). Ich führte einen stummen Kampf mit Gabi, die es verständlicherweise von zu Hause wegzog und mich für privilegiert hielt, weil ich, wo immer ich mich aufhielt, zu meiner Liebe stehen konnte. (So drückte sie es aus.) Die paarmal, wo sie bei mir war, räumte ich vorher auf. Bei mir ist nicht aufgeräumt, sagte ich sonst, und sie fand das absurd. Sie wollte ihren Lebensmittelpunkt verlegen, und ich kam ihr mit Aufräumen. Ein bißchen sollte es auch so klingen, sie sollte merken, daß ich ihre Strategie durchschaute. Vermutlich hatte sie das längst kapiert, deshalb kämpfte sie ja so zäh. (Und weil es zu Hause immer schwieriger wurde.) Die Arbeit war nicht ihr Lebensmittelpunkt und das Büro auch nicht der Mittelpunkt unserer Beziehung. Ihre Liebe war ihr Lebensmittelpunkt, da war sie ganz Frau. (Sonst schien sie mir alles mögliche zu sein, Muttergöttin, Kollegin und bessere Hälfte.) Wir hatten uns auf der Arbeit kennengelernt, und indem wir uns liebenlernten, trieb es uns von dort weg; so sah sie das. Sie hätte sich sogar einen neuen Job gesucht und ich den Teufel getan, sie darin zu unterstützen. (Man stelle sich die Verantwortung vor!) Wenn sie bei mir war, drückte ihr ganzes Verhalten Seligkeit aus, zugleich eine grenzenlose Bereitschaft, mich an sie zu gewöhnen, Geduld zu haben. In ihren Augen war ich ein Junggeselle, dem man die Mangelhaftigkeit seiner Existenz erst beibringen mußte (in meinen gar nichts, jedenfalls nichts Berichtenswertes). Erstaunlich genug, daß ich Gabriele trotzdem perfekt verstand. Wenn ich es auf eine Formel bringen müßte: So nahe war ich an den Dingen, daß ich meine Augen nicht zu benutzen brauchte.

So kurzsichtig, daß ich … Gabriele sah ich zum Beispiel erst, wenn sie dicht vor mir stand, und dann waren wir schon so gut wie im Bett. Auch ihren Mann sah ich erst, wenn ich ihm praktisch nicht mehr ausweichen konnte, und deshalb blieb die Mühe der Vermeidung an ihm hängen, und er war mir deshalb doppelt böse. Auch die Kollegen sah ich erst, wenn sie sich bemerkbar machten, und dann waren sie schon so nah, daß ich sie kaum noch von mir unterscheiden konnte. Verlegen fuhren Gabi und ich auseinander, wenn es neben uns hüstelte: sie erregt, ich benommen; sie tapfer, weil nun schon ohnehin alles seinen Gang ging, ich eher geschockt (aber das klingt zu dramatisch, bringt das Häusliche der Empfindung, die ungewohnte Wärme nicht heraus). Was ich anstellte, ging weit über mein Begriffsvermögen. Aber ich sagte mir, wenn die Kollegen nichts dabei finden, dann wird schon nichts dabei sein.

3

Mit Gabriels Hilfe fand ich immerhin heraus, daß Mathilde sich nicht einfach in Luft aufgelöst, sondern die eine oder andere Andeutung gemacht hatte, ehe sie genau das tat: sich in Luft auflösen.

Er soll sich nicht einbil-dön, daß ich auf ihn angewie-sön bin, hatte sie freizügig herumerzählt, und alle gaben ihr recht, nicht was den Grad ihrer Bedürftigkeit anging, aber daß es eine Arroganz sondergleichen von mir war, sie zu verlassen. Freilich waren die häuslichen Angelegenheiten bei keinem so, daß er sie ohne weiteres aufnehmen konnte. Vielleicht, meinte Gabriel, hatte sie vor ernstgemeinten Einladungen Horror. Vermutlich hatte er ihn zu spüren bekommen. Es war ihr noch alles zu nahe, sagte er und ließ keinen Zweifel daran, daß ich ihr zu nahe war. Kurz, sie konnte nicht bleiben, wo sie sich auf Schritt und Tritt an mich erinnerte.

Und ihre Klienten? In meinem eigenen Aufbruch hatte ich sie übersehen.

Sie hatte sich von jedem einzelnen von ihnen verabschiedet. Das Schicksal gestattete es ihr nicht, sich weiter um sie zu kümmern, hatte sie erklärt und Andeutungen über böse Mächte gemacht. (Das zielte auf mich.) Die alten Leute hatten geweint beziehungsweise, da sie nicht mehr über genügend Tränenflüssigkeit verfügten, hatte Mathilde für sie geweint, so wie sie immer alles für sie tat. Während sie Gabriel davon erzählte, weinte sie, und er, wie er mir aufrichtig mitteilte, bekam eine unbeschreibliche Wut auf mich, weil ich alles, nicht nur das, was mir, sondern auch das, was andern guttat, kaputtmachte.

Da ich schwieg, fügte er hinzu, er hätte auch ein bißchen geweint. In diesem Augenblick hatte er deutlich gespürt, wie Mathildes Festigkeit ins Wanken geriet. Wie wenn ihr zum ersten Mal bewußt geworden wäre, daß man sie ernsthaft vermissen könnte. Vielleicht, fügte er hellsichtig hinzu, dämmerte ihr auch nur, daß es noch andere Menschen gab, solche wie sie, mit Seele und Empfindung, die um sie litten. Was das anging, war sie ja immer reichlich cool gewesen, irgendwie unberührt. Leider war es ihm nicht gelungen, die menschliche Regung so zu verstärken, daß sie von ihren dunklen Plänen Abstand genommen hätte. Sie war einfach auf dich fixiert, sagte er resigniert. Er hätte auch keine Hemmungen gehabt, mich bei ihr schlechtzumachen, und durchaus gewußt, wie. Nur fehlte die Gelegenheit, das heißt Mathilde gab ihm keine. Darin waren wir uns ähnlich, sie und ich, daß man aus uns nichts herausbekam. Aus mir wegen meiner gottverdammten Schweigsamkeit, aus ihr ihrer gottverdammten Redseligkeit wegen nicht. Drohungen, ja, wüste Beschimpfungen, die in Tränenausbrüchen endeten, aber nichts Konkretes. Er war schließlich zu dem Ergebnis gekommen, daß es noch am meisten Sinn machte, wenn er mich überging und so tat, als gäbe es mich nicht.

Wie er es auch anstellte, er hatte sie nicht festhalten können. Sie ließ sich einfach nicht helfen. Wenn sie wirklich die Nassauerin war, als die ich sie präsentierte, war ihr Verhalten unverständlich. Und ich der letzte, es zu erklären, Gabriels Ansicht nach. Da ich für ihn jedoch eine Verbindung zu Mathilde und bei aller Kritik, die ich verdiente, ein Schlüssel zu ihrem Verständnis war, redete er gelegentlich mit mir über sie.

4

Ich hatte eine Erklärung. Sie tauchte am Horizont auf, und ich wußte, wenn ich mich nicht willkürlich von ihr entfernte, dann würde sie näherkommen und sich mir offenbaren. (Mir, der ich noch nie in meinem Leben etwas begriffen hatte!) Ich spielte gerade mit den Falten von Gabis Rock. Ich spielte Maus, glitt quer über die Wellen aus weichem, fließendem Stoff oder sauste in abenteuerlicher Fahrt durch einen Kamin. Gabi kicherte. Manchmal ließ sie den Gedanken an die Zukunft fallen und war richtig lustig.

Die Erklärung ging so: Mathilde war Ausländerin und mir ein wenig fremd. Sie nassauerte, was die Fremdheit verstärkte, denn ich tat es nicht (höchstens in Gabrieles Rockfalten). Sie hatte etwas ausgefressen, und das machte sie mir vollends fremd; denn ich wußte nicht einmal was, und sie womöglich nicht warum.

Um die Zeit hatten meine Finger sich an die Exploration des Untergrunds gemacht, der an einigen Stellen noch weicher schien als der Stoff, an anderen geradezu elektrisch. Bald hatten sie sich an die unsichtbare Topographie gewöhnt, fanden ihr Ziel und hörten mit dem Herumirren auf. Ich überließ sie ihrem Geschäft, das sie soviel besser versahen als ich, und konzentrierte mich auf meine Erklärung.

Da Mathilde Ausländerin war, erwarteten wir – das heißt die andern mehr als ich – von ihr nichts Bestimmtes, aber etwas Utopisches (und das war ganz schön bestimmt). Sie selbst konnte damit nichts anfangen, aber wir verlangten es nur um so mehr von ihr, denn nichts erschien uns so verheißungsvoll wie die plane Gewißheit, die von ihr ausstrahlte: wir glaubten, über den Schlüssel zur Himmelstür zu verfügen (sie hielt sich ohnehin für das höchste der Gefühle). Mit dem Nassauern war es etwas anderes, das war ihr gut bekannt, auch wenn sie es nicht so bezeichnet hätte, und auf ihre Weise stand sie dazu. Was schließlich die kriminelle Energie betraf, so existierte sie entweder bloß als Phantom in unsern Köpfen, oder Mathilde hatte diese Seite ihres Wesens fest unter Verschluß.

Da ich Mathilde für eine Nassauerin und kleine Betrügerin hielt, erklärte ich alles, was sie betraf, aus diesen beiden Bestimmungen. (Prompt ergab sich Unerklärliches.) Sie dagegen erklärte alles aus sich. Niemand, behauptete sie, war einfacher gestrickt als sie, die Anwendung einer analytischen Methode, ihr gegenüber, daher denkbar überflüssig. Sie kennen und verstehen (und lieben) – das war keine Tautologie, sondern die Präambel des Grundgesetzes, das ihre Beziehungen zu anderen regelte – war eins. Daß ich schon dieser elementarsten aller Aufgaben nicht gewachsen war, sprach nicht für mich. Sie kam mir wer weiß wie entgegen, aber ich war nun einmal ein égoïste. Je offener sie war, desto mehr mußte ich mich verschließen. Um den eigenen Mangel zu verbergen, klar.

Pech für sie, daß ihr auch noch die »Französin« anhaftete. Wenn sie Frankreich verlassen hatte – ich kam der Sache allmählich näher –, dann hieß das keineswegs, daß sie dort etwas hinterließ, ein Paradies oder ein Schlachtfeld, gleichviel. Die Bretagne war zwar ihre Heimat, doch bloß als Erzählhintergrund. Sie war der Schatz, aus dem sie schöpfte, aber nur atmosphärisch oder emotional und nicht wirklich. (Auch wenn ihre dogmatische Großmutter für alles eine Erklärung gehabt hatte und sie, für jede Erklärung, ihre Großmutter.) Zehren erneuerte, verzehren brauchte auf. (Ihre Großmutter sagte, das war wie mit Zinsen und Kapital.) Letzteres machten nur Leute, bei denen es am Lebenssinn haperte, sie mußten aus fremdem Quell schöpfen und behaupteten auch noch, es wäre der eigene. Sie hatte das nicht nötig, sie quoll über von Sinn, konnte anderen davon abgeben (wenn die wollten).

Hier atmete Gabriele auf. (Niemals hätte ich sie peinlich oder nicht schön gefunden; höchstens erstaunlich.) Was mich an Mathilde band, das war nichts Allgemeines, nichts, wovon sich jeder nehmen konnte, heute ich und morgen Gabriel. Sowenig es etwas Französisches war, sowenig konnte es übertragen werden. Es war, wie man so sagt, etwas Eigenes. Ich beschloß, energisch nach ihr zu suchen.

5

»Wenn du ein Pferd finden willst, mußt du denken wie ein Pferd«, sagen die Indianer. Ich dachte nicht, die Gedanken kamen zu mir, während ich auf Gabis üppigem Körper Geographie nachlernte. Ein gehorsamer Schüler, ließ ich genügend Platz zwischen ihr und mir, so daß die Hände Platz hatten und die Gedanken sich unbehelligt bilden konnten. Sie entstiegen den Tiefen von Gabis Rockfalten, schienen aber weder an ihrer Herkunft noch an ihrer Wirkung interessiert. Ich sah sie im Gänsemarsch daherkommen und dachte an gar nichts. (Früher hätte ich mir gesagt: Denk nicht.)

Tatsächlich war es Gabriele, die sich erinnerte, daß »meine Französin« die wildesten Drohungen ausgestoßen hatte, was ihre endgültige Etablierung in Deutschland auch ohne mich anging, die Karriere, mit der wir alle nicht gerechnet hatten, ein ausgedehntes Studium sämtlicher theoretischen Fächer, die die Universität bot. Nicht Altenpflege und Management, obwohl man ihr gerade auf organisatorischem Gebiet die erstaunlichsten Fähigkeiten nachsagte. Sondern Völkerkunde, vergleichende Religionssoziologie und natürlich Philosophie, letztere vor allem, die hatte ihr nie jemand zugetraut, vor allem – fügte Gabriele zu meiner Verblüffung hinzu – ein gewisser Dingsbums in Frankreich nicht – un con! –, der sie regelrecht für bildungsunfähig hielt (»une femme«) und wegen dem sie, man höre und staune, Frankreich verlassen hatte.

Hast du das nicht gewußt?

Nicht, weil sie ihn nicht mehr – oder immer noch – liebte, da hätte es gereicht, daß sie ihn verließ. Sondern weil sie in der Tiefe verletzt war, blessée, sie meinte wohl, sich beschädigt fühlte. Für sie war das übrigens ein und dasselbe, »verletzt« war immer »beschädigt«. Das kam daher, daß sie eine körperliche Vorstellung von »verletzt« hatte, und das deutsche »tzt«, so wie sie es aussprach, bestätigte sie in ihrer Auffassung, indem es den Vorgang vernehmbar machte. Vielleicht hatte sie deshalb nach Deutschland gehen müssen: um zu begreifen, was sie bis dahin bloß abgekriegt hatte. Dabei war es ihr zunächst nur darum gegangen, eine größtmögliche Entfernung zwischen sich und das Urteil zu legen und sich ihm damit zu entziehen. Sie hatte ihm nämlich geglaubt. Aber nicht Deutschland, sondern, wie sie allen, die es hören wollten, kundtat, meine Gefühllosigkeit hatte bewirkt, daß sie sich auf ihre ursprünglichen Absichten besann. Dabei wäre beinahe alles wieder so gelaufen wie zu Hause. Ah, les types!

Komisch, daß sich außer Gabriele keiner mehr daran erinnerte. Was hatte sie überhaupt mit ihr zu tun?

Gabriele lächelte.

Wußtest du, daß sie Krankenschwester gelernt hat? fragte sie.

Ach nee, sagte ich ungläubig. Aber ich glaubte es sofort. Manche Dinge passen auf Anhieb. Puzzleteile, zum Beispiel.

Doch, doch, sagte Gabriele.

Wenn das stimmt, kommt sie immer unter, sagte ich.

Erleichtert, was? fragte Gabriele lächelnd.

Sie wirkte überhaupt nicht geängstigt. Eine Vergangenheit hatten wir schließlich alle. Wenn ich mich neuerdings wieder für Mathilde interessierte, dann schrieb sie das sich zu – ich erkannte das an ihrem Lächeln – und sah keinen Grund, sich zu fürchten. Wahrscheinlich würde ich ihr jetzt auch bald die Geschichte meiner gescheiterten Ehe erzählen, als Zeichen meines Vertrauens und um einen soliden Grundstein für die Zukunft zu legen. Mathilde war die Vorstufe.

Gabis Information mochte der fehlende Stein in Mathildes Vergangenheit sein, aber er war kein Baustein für ihre Zukunft. Letztere lag – Gottverdammich – in dem, was sie für ihre Pläne hielt: Indogermanistik, Kulturanthropologie, Philosophie. Ich kannte sie schließlich und war kein bißchen erleichtert. Wenn sie Krankenschwester gelernt hatte, dann hatte sie das hinter sich (sonst wäre sie ja Krankenschwester geblieben). Warum um alles in der Welt hätte sie darauf zurückkommen sollen? Und wenn ein »type« sie von zu Hause vertrieben hatte, gab es wahrhaftig keinen Grund, besonders romantisch von der Heimat zu denken. Nichts Neues also im Staate Dänemark. Aber wie eine Antwort auf den »Weibertratsch« (und Gabriele hatte ihn auch noch mit der größten Selbstverständlichkeit wiedergegeben) spürte ich auf einmal Mathilde, ihre Eckigkeit, ihre Bockigkeit, ihre Widerständigkeit. Ihre Seele: ein Körper. Ihr Körper: eine Seele. (Komischerweise, so als hätte das andere das eine mehr als es selbst vollbracht.) Das Ganze nur in Ansätzen strukturiert, nicht embryonal, sondern unvollkommen (in Richtung auf einen Zweck) oder unvollständig (im Hinblick auf ein Ganzes), so etwas wie ein Vorganzes (aber das gab’s nicht), eine Vorteilung (das wäre ein Tun gewesen), ein Vorteil (das war etwas anderes, aber das war’s).

Ich grinste wie jemand, der eine Maske verkauft, mit der man grinsen kann. Was wollte ich mit den alten Kamellen? Meine Finger waren glücklich bei Gabriele und schon so schrecklich an den weichen Stoff gewöhnt.

Ja, sagte ich.

Eine glühende Sehnsucht packte ihn, so heißt es in den Büchern (ich las keine). Ich packte Gabriele, drückte sie gegen die Sofakissen, ihren Kopf über die Armlehne, schob das Kleid hoch und die Wäsche herunter, suchte unter ihren Röcken – Mathilde.

6

Wenn sie angekündigt hatte, sie würde studieren, dann tat sie das, auch wenn sie ihre Fächer nicht im Kopf behielt (und wir uns ihre Fächer nicht merken konnten). Sie meinte immer, was sie sagte, und tat, was sie sich vorgenommen hatte. »Wenn du ein Pferd suchst, dann mußt du denken wie ein Pferd.« Ich blieb bei meiner Devise: nicht denken. Aber etwas hielt mich davon ab, in der Uni nach Mathilde zu suchen, so als wüßte ich, daß das keinen Sinn machte. Jemand in der Uni suchen, wenn man sie selbst längst hinter sich hatte, kam der Selbstaufgabe gleich. (In die Uni zu gehen kam der Selbstaufgabe gleich. Jemand zu suchen kam der Selbstaufgabe gleich. Jemand zu finden auch.)

Ich fand sie woanders. Das heißt, ich hörte von ihr, und sogleich wußte ich, das konnte nur sie sein.

Immerhin hatte sie es fertiggebracht, von hier wegzukommen. Freilich, wo sie war, zählten Orte nicht, war man immer unterwegs. Zufällig war sie in W., genausogut hätte sie hierbleiben können.

Sie war bei einem Heiler gelandet: Institut für transzendentale und so weiter. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie sich in kürzester Zeit aus einer andächtigen Zuhörerin in eine selbstbewußte Dozentin verwandelt. Während sie von Abstraktion und Askese, den Grundpfeilern der Erleuchtung, schwadronierte, war sie unmerklich die rechte Hand des Chefs und ihm unentbehrlich geworden. Sie war eben zuverlässig, nicht bloß begabt, und man sprach mit Achtung von ihr (mit Ehrfurcht vom Meister). Mich interessierte nicht, ob sie mit ihm schlief. (Wie war ich bloß mit ihr dazu gekommen?) Aber ihre Karriere hätte ich aufsagen können. Mit praktischer Vernunft hatte sie das Irrenhaus erobert und war die Seele des Unternehmens geworden. Auf der Suche nach dem Geheimnis, »Philosophie«, hatte sie im Handumdrehen Ordnung in den verlotterten Laden gebracht, die Nebensache als solche behandelnd, aber getan. (Daran erkannte ich Mathilde.) Nebenbei hatte sie einen Terminkalender eingeführt und die Buchführung geregelt. Sie hatte dem Geschäftsprinzip ihrer Großmutter Geltung verschafft: Was man nicht hat, kann man nicht ausgeben. Mit dem Meister ging sie um wie mit den Alten in unserm Kiez. Sie antwortete ihm, bevor er etwas gefragt, gab ihm, noch ehe er etwas gewollt, geschweige denn verlangt hatte, und erklärte ihm, wie ihm zumute war. Was konnte ihn mehr bezaubern, als bevormundet zu werden, er, der Vormund von allen!

So zwanglos ordnete sich das Bild, daß ich mir schon wieder übelnahm, es nicht selbst entworfen zu haben. Was hieß denn »Universität«? Was auch immer Mathilde bei ihren Vorträgen zum besten gab – vielleicht Rezepte –, der Akzent würde ihre Zuhörer erleuchten.

Ich spürte, wie mir trotz einer umfassenden Vertrautheit mit den Tatsachen die Wirklichkeit ihres Lebens schon wieder entglitt. Ich war verdrossen. Alles Schwindel, dachte ich enttäuscht. Daß sie in der Nähe war, blieb ein Stachel. Aber einer von uns beiden lebte entschieden nicht, nur so war es zu erklären, daß ich nichts begriff. Oder lag es an dem Heiler? Gabriel litt körperlich bei dem Wort, und er gab mir die Schuld. So wie er nach der Polizei schrie, die »das Nest ausräuchern« sollte. Aber vorher würden wir Mathilde retten. Das heißt, ich würde sie retten, er hielt sich da raus. Mit dem Hokuspokus wollte er nichts zu tun haben. Das war wie Beelzebub, die Gegenmacht, das Krebsgeschwür der Vernunft. Er war auf die Vernunft angewiesen.

Den Heiler nahm er einfach nicht zur Kenntnis.

7

Seit wir erfahren hatten, daß es Mathilde noch gab, war die Welt für mich verdorben. Weder etwas zu wollen brachte ich fertig noch zu verzichten und angelte vergeblich nach einem Plan. Mein Selbstgefühl zerbröckelte. Gegenüber Gabriele brachte ich kein Wort heraus. Ich sah mich außerstande, ihr Mißtrauen zu beschwichtigen, geschweige denn für irgend etwas die Verantwortung zu übernehmen. Mein Blick wurde förmlich nach innen gezogen. (Nicht daß ich mich sonderlich für mich interessiert hätte!) Ich sah mich klar als Resultat, und schon daran hätte man den Grad meiner Benommenheit erkennen können. Meine Frau hatte mich meiner Familie entfremdet, und als sie das geschafft hatte, verließ sie mich. Mathilde nahm mir mein Zuhause und entzweite mich mit den Kollegen. Gabriele bemächtigte sich des Rests. Dabei hatte ich bis gestern noch geglaubt, über einigen Besitz zu verfügen: Frankreich (als Erinnerung), die Arbeit (als Zuhause), die Kollegen (als Familie), nicht zu vergessen, daß Gabi und ich auf einen gemeinsamen Urlaub hinsteuerten, und das war doch ein Stück Zukunft. (Ihr Mann hatte für unsere Pläne nur ein Achselzucken übrig.) Kam dazu, was man meine persönliche Reife nennen konnte: ich hatte meine Erwartungen heruntergeschraubt und mußte nicht mehr alles kontrollieren. Zum ersten Mal, das war die Empfindung der chaotischen Wochen, die hinter mir lagen, war ich dem Leben mehr zugewandt als der Logik.

Komisch, an Mathilde haftete ein Makel, so daß ich an sie nie ohne ein Gefühl der Peinlichkeit dachte. Sie war zwar klasse, eine ungewöhnliche Frau, mußte sich aber trotzdem überall aufdrängen. Daß nicht ich mich auf sie, die flüchtige Strandliebe, besonnen hatte, sondern sie sich auf mich, war wie der Geburtsfehler unserer Beziehung. Sie hatte mich eben gebraucht. Leider hätte ich sie nach meiner Trennung brauchen müssen, aber da war ich noch gar nicht in der Verfassung gewesen. Ich hatte gerade mal mit der Nubuk-Hose angefangen und spielte mit den allerersten Gedanken an Umräumen. Was Beziehungen betraf, so glaubte ich alle Zeit der Welt zu haben. Erst wollte ich herausbekommen, wozu man welche brauchte, dann mich erneut einlassen. Ich war eben gründlich und gewarnt. Ich muß mich besinnen, sagte ich mir. Ich hätte auch sagen können: Ich muß wollen. (Ich muß wollen!)

Ehrlich gesagt, hatte ich gar nicht an Mathilde gedacht. (Das war der Makel.) Aber dafür daß ich sie nicht gebraucht, auch nicht geholt hatte, brachte sie mein Leben ganz schön durcheinander, betrog mich um die verheißungsvollsten Ansätze und richtete die Aufmerksamkeit in unangenehmer Weise auf mich.

Später waren wir doch noch zusammengekommen, vermutlich wegen meinem Bruder. Was mich bei meinen Freunden kaltgelassen hatte, das funktionierte bei ihm. Es war, als wäre die entscheidende Barriere gefallen. Wenn er ohnehin davon überzeugt war, daß wir etwas miteinander hatten, Mathilde und ich, dann konnte es ebensogut sein. Dabei wußte ich nicht einmal, wie es passiert war. (Ich sage nur: Ohnmacht!) Wieder einmal war der Anfang ins Tabu gefallen. Als sie bei mir aufkreuzte, hatte Mathilde noch geplappert, was das Zeug hielt, aber ich empfand das ihrem Makel nicht angemessen. Wenigstens das Reden hatte ich ihr daher abgewöhnt, und später, als das mit der Bettdecke begann, war es auch nicht mehr nötig zu plappern. Bald darauf war ich nach Frankreich gegangen, hatte, wie es auf der Arbeit hieß, »Austausch gemacht«. Und Mathilde? Sie hatte sich in Luft aufgelöst. Als ich zurückkam, war sie verschwunden und auch sonst alles ganz anders.

Wenn du ein Pferd finden willst, mußt du denken wie ein Pferd. Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich zu einen echten Schluß. (Prompt war er verkehrt.) Wenn ich durch meinen Weggang ihr Verschwinden bewirkt hatte, dann durch meine Rückkehr ihr Wiederauftauchen. Nicht ihre Rückkehr, o nein, dazu hätte es einer echten Aufhebung bedurft, kurz eines so komplizierten Vorgangs, daß selbst Mathilde das nicht verlangen konnte. Nur eben so, daß man wieder wußte, wo sie sich aufhielt, und die Verhältnisse auf ihre romantische Verlorenheit verzichteten und in ihren bürgerlichen Zustand zurückschwappten.

Ich hatte in der letzten Zeit entschieden zuviel gegrübelt, und immer über dasselbe. Abgeerntetes Feld gab keine neue Frucht. (Aber wo war die Ernte?) Wenn man auf dem richtigen Weg ist, hieß es in der Labyrinthkunde, öffnet sich stets ein Türchen. Was von fern einer Sackgasse gleicht, erweist sich als Abbiegung. Wenn aber alle Wege verbarrikadiert sind, dann muß man eben zurück. (Stehenbleiben gab’s nicht. Gehen war das Prinzip. Grübeln war verboten.) Das Jahr in Frankreich rückgängig machen konnte und wollte ich nicht. (Das wäre die Aufhebung gewesen.) Meine Schuld büßen war eine ethische Forderung, aber kein Rezept, und ich konnte mir auch nichts darunter vorstellen. Sie wiedergutmachen, wäre schon eher etwas gewesen. Aber wie? Mich in eine fremde Welt wagen, nur mit umgekehrtem Ziel, nicht von Mathilde weg, sondern zu ihr hin? Gewiß, nur so, rückwärts analog, konnte es funktionieren. Was? Daß sie zu mir zurückkam, natürlich. Ob ich das wollte? (Gabriele sah mich fragend an.) Das würde ich daran merken, ob es klappte.

Unwillig erinnerte ich mich daran, daß es mir einmal besser gegangen war, damals, bevor mir irgendein Arsch von Mathilde erzählte. (Hatte ich ihn etwa gefragt?) Ich hatte alle Hände voll zu tun gehabt, Gabriel in seine Schranken zu weisen, Gabriele, indem ich im Relief ihrer Rockfalten stöberte, bei Laune zu halten, ihren schlechtgelaunten Mann zu ehren. Im Überschwang der Gefühle hatte ich sogar Pläne für ein eigenes Unternehmen entworfen. Nichts hätte Gabi lieber gesehen. (Zumal es mich rund um die Uhr beschäftigen würde.) Leider war sie (wie alle Frauen) nicht in der Lage, das, was sie liebte, auch zu stützen. Ihre Erwartungen zerrten an mir, bis ich die Lust verlor. So klein die Frau, und so groß ihre Wünsche!

Im Grunde ging nichts über die Freuden der Vergegenwärtigung: je nachdem sich zu erinnern oder zu träumen, einen Sinn zu entdecken. Daß auch Gabi eine Vergangenheit hatte, tat der Sache keinen Abbruch, im Gegenteil, die Vielfalt wurde gestärkt. Und wenn ihre Zukunft dürftig war (da sie sie ja mit mir teilen mußte), so kam mir die ihres Mannes, von ihr befreit, unendlich reich vor, ja, er schien mir ganz und gar aus Zukunft zu bestehen.

Es ging auch nichts über die Freuden der Verknüpfung: während man sich geduldig mit jemandem beschäftigt, geruhsam über den anderen zu grübeln, während man sich hier mit dem Körper auseinandersetzt, dort sich intensiv geistig auseinanderzusetzen, und so weiter.

Während ich so Gabis Vorzüge genoß, entdeckte sie (ohne mein Zutun) fatale Seiten an mir und entzog mir ihre Unterstützung.

Du mußt wissen, was du tust, sagte sie nur.

8

Hast du etwas im Kopf, mußt du immer daran denken, ganz gleich, wie es hineingekommen ist oder wie du dazu stehst. Besser, du tust es gleich.

Ich nahm den Zug nach H. Andere wußten stets, was sie erwartete. Nur ich fuhr wieder einmal ins Blaue.

Von Gabriele hatte ich mich gewissermaßen verabschiedet. Seit einiger Zeit trug sie einen angestrengten Ausdruck zur Schau. Lauthals verkündete der, daß man mit mir nun einmal nicht glücklich wurde. (Und ihr Mann brauchte ihr daher auch nicht böse zu sein.) Über das Gesicht hatte sich eine abweisende Blässe gelegt. Sie sah elend aus, aber sie besann sich auf ihre Kräfte und war alles in allem nicht schlechter dran als ich, auch wenn ihr das selbst nicht bewußt war (mir schon).

Je näher ich H. kam, desto schneller pochte mein Herz. In einer Panik sondergleichen langte ich an. Den Stadtplan konnte ich steckenlassen. Andere hatten dasselbe Ziel. Ich brauchte mich in den Gänsemarsch nur einzureihen. Mein Informant hatte mich korrekt unterrichtet: Mittwochs ist Veranstaltungstag, da kannst du deine Mathilde sehen. Er selbst hatte sie auf diese Weise entdeckt. (Was hatte er bei den Leuten gesucht?)

Laß alle Hoffnung fahren! Die berühmte Warnung überfiel mich, als ich den gutgefüllten Saal betrat: ich war in der Höhle des Löwen gelandet. Wie Blüten hatten sich die Gesichter von der noch leeren Bühne zur Tür gedreht. Unnachgiebige Blicke musterten die Ankömmlinge, konfrontierten mich mit den Tatsachen: Entweder ich gehörte dazu, oder man würde mich steinigen müssen. Wenn Mathilde mich nicht entdeckte – ein absurder Gedanke, gottlob! –, konnte ich ernstlich in die Klemme geraten.

Als der Meister, von seinen Gehilfen umgeben, die Bühne betrat, erkannte ich sie sofort. Jede ihrer Bewegungen verriet, daß sie ihn nie allein ließ. Wenn er der Genius war – und das war er, dem Raunen nach zu schließen –, dann sie die Seele. Nicht daß sie an seinem Rockzipfel hing! Beinahe schlendernd kam sie hinterdrein (die Unbeugsamkeit ihrer Absichten kaschierend), die Wasserflasche in der einen Hand, ein Glas samt Pillenschachtel in der andern. Während die Plätze im Hintergrund eingenommen wurden, ging sie mit den unbekümmerten Schritten der Hausfrau nach vorn, fuhr mit flinken Fingern über das Rednerpult, so als wäre da Staub, füllte das Glas zur Hälfte, legte die Schachtel (mit den Halstabletten? den medizinischen Lutschbonbons?) daneben und trat prüfend einen Schritt zurück. Es war nicht Mathilde.

Zuerst hielt ich das für nebensächlich. Ganz damit beschäftigt, die Angaben meines Informanten zu bestätigen, war ich froh, wenigstens etwas auf der Negativseite ankreuzen, irgendeinen Mangel melden zu können. Und so sehr war ich darauf geeicht, die fragliche Person für Mathilde zu halten, daß ich die eine oder andere Abweichung registrierte, ohne das Ergebnis in Frage zu stellen. Obwohl es sich eindeutig nicht um Mathilde handelte, war es Mathilde.

Schließlich drang die Wahrheit in mein Herz, und im Nu verwandelte sich die Szenerie. Solange nämlich Mathilde die Bühne beherrscht hatte, mit jedem ihrer festen kleinen Schritte signalisierend, daß das öffentliche seine Grenze am Privatleben, daher auch der missionarische Auftrag des nicht mehr jungen Heilers seine Grenze an seinem Befinden hatte, war der Saal für mich leer. Als sich herausstellte, daß Mathilde – der Grund meines Hierseins und Angelpunkt all der Beweggründe, die mich hergetrieben hatten – fehlte, füllte er sich augenblicklich. Das Publikum trat in mein Gesichtsfeld, und bis in das Arrangement der Mäntel und Jacken hinein, die teils ängstlich anbehalten, teils über die Lehne gehängt, aber zumeist sorgfältig über die Knie gebreitet waren, redete alles zu mir.

Von der Bühne war der Zauber gewichen. Vorn war einfach nur vorn, da mochten die Adepten noch so sehr um Kulisse bemüht sein. Das lag nicht nur an der ganz persönlichen Enttäuschung, sondern war offenbar der Anfang der Therapie, Erleuchtung begann mit Ernüchterung. Wie sonst konnte es passieren, daß das Publikum zu einem Haufen verschmolz (ich mittendrin), voller Vertrauen auf die Hilfe, die sich vorn am Pult in der in eine häusliche Strickweste gehüllten Gestalt materialisierte.

Noch hatte der Meister sich nicht verwandelt. Noch gehörte er ihr, die Mathilde hätte sein können. Während er sich ein wenig die Beine vertrat, zu seinen Assistenten hinüberlächelte, zu ihr eine vertrauliche Bemerkung machte, auf die sie mit Ungeduld antwortete, während er also sein Leben vor uns ausbreitete, spürten wir pflichtschuldig dem Verlust des unsrigen nach.

Von seinem Vortrag habe ich nichts mitbekommen. Schon beim ersten Satz wußte ich, er redete nur. Seine Worte wurden zur tönenden Kulisse meiner ersten, überaus einsamen Begegnung mit den Tatsachen. Während die Sitzung voranschritt – und die Anziehsachen ihren muffigen Geruch verströmten und manch unwillkürlicher Seufzer die Stille durchschnitt –, begrub ich die Hoffnungen, die mich hergebracht hatten, und nahm in aller Form Abschied von Mathilde.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt4.html.
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