Ilse Bindseil

Knast, Familie, Staat

Verschwörungstheorien in Zeiten der Fürsorge

1

Kommt jemand in den Knast, hat ihn der Staat am Hals. Ist für ihn verantwortlich rund um die Uhr. Muss für ihn sorgen und ihn am Leben erhalten. Stößt ihm etwas zu, ist der Staat rechenschaftspflichtig, er kann nie unschuldig, zumindest nicht unbeteiligt sein. Kein Wunder daher, wenn er nicht alle in seine Obhut nimmt, die ihm die Leute aufdrängen wollen, und manche Untat mit Geld oder Bewährung abgelten lässt. Schließlich ist jeder einzelne eine Last und darüber hinaus ein Prüfstein für den Rechtsstaat, ob er hält, was er verspricht. Dabei lässt das Gefängnis die Aporien der Gesellschaft sich durchaus zuspitzen. Denn fragt man nicht nur, wie Freiheitsentzug sich mit den Grundrechten, der Menschenwürde eines jeden, sondern auch wie unumschränkte Verantwortung und Fürsorge sich mit den Pflichten und Grenzen des Staates verträgt, kann man nur zu dem Schluss gelangen: Gar nicht.

Umso erstaunlicher, wie tagtäglich an die Fürsorge des Staates appelliert wird, gerade so, als säße man im Knast und hätte, da der Freiheit und der Mittel zur Selbsterhaltung beraubt, einen unumschränkten Anspruch darauf. Handelt es sich hierbei bloß um ein Hirngespinst oder hat die unumschränkte Verantwortung des Staates nicht doch einen handfesten Grund? Ist sie nicht die notwendige Folge des allerdings feinst verteilten Freiheitsentzugs durch die verstaatlichte Gesellschaft? Und wenn Letzteres der Fall ist: Muss ein Staat, der alles bestimmt, nicht tatsächlich auch für alle sorgen? Muss man sich deshalb nicht an ihn halten und darf solches Verhalten auch nicht verurteilen, allein schon, weil solches Urteil eine Alternative suggeriert, die gar nicht existiert?

Womöglich liegt die einzige Chance, sich von der Symbiose zu befreien, in der Übertreibung, von Seiten des Staates, zu versprechen, was er nicht halten kann, von Seiten seiner Klienten, ihn zu solchen Versprechen zu verführen, um ihm sodann Versagen vorzuwerfen. Geht man davon aus, dass die faktische Symbiose mit dem Staat den Spielraum beseitigt, der das Nachdenken über ihn allererst ermöglicht, dann kann solches Verhalten nur als vernünftig bezeichnet werden. Schließlich muss der fehlende Reflexionsspielraum durch so etwas wie praktisches Nachdenken ersetzt, weniger paradox formuliert, die Symbiose als die Naturbasis der eigenen Existenz akzeptiert und, als die einzig verbliebene Art, sie sich abzugewöhnen, polemisch auf die Spitze getrieben werden. Sollte eine solche in praxi beweglichere Perspektive nicht zum Vorbild taugen, um über den Staat und seine vermeintlichen Schützlinge frei zu sinnieren, und sei es zu dem einzigen Zweck, verlorenen Spielraum zurückzugewinnen?

Apropos vermeintliche Schützlinge: Die auf der Straße leben haben den Staat nicht im Blick, folglich müssen sie auch nicht über ihn nachdenken. Nachdenken müssten über ihn diejenigen, die sich bei ihrem Anblick über den Staat entrüsten, nur um nicht nachdenken zu müssen.

2

Harmloser als der Vergleich mit dem Knast scheint der mit der Familie: Als pater familias ist der Staat zu umfassender Fürsorge verpflichtet. Dass Eltern und Erziehende vom ersten Tag an, an dem sie es sind, das Ambivalente und Notlösungshafte der eigenen Rolle empfinden, das Missverhältnis zwischen der Realität und ihren Wünschen, ihrer Verantwortung und ihren Möglichkeiten, die Unmöglichkeit, die Risiken des Aufwachsens zu beherrschen, überhaupt die Sinnhaftigkeit zu domestizieren, damit sie nicht in Sinnlosigkeit umkippt, bleibt dabei ausgeblendet. Man wird nicht wieder zum Kind oder man wird kindisch: Marx’ Statement ist hier einschlägig. Die von Vater Staat eingeforderte Fürsorge spiegelt die Perspektive des Kleinkinds, das väterliches Müssen und Können nicht trennt und, wo ihm solche Spaltung begegnet, sie sich lieber mit Bosheit als mit Unvermögen erklärt: Vater will mich verhungern lassen. Solche Bosheit setzt umfassende Macht voraus, Allmacht. Eine wahrhaft kindische Auffassung, ist sie rückwärts gelesen beinah plausibler als vorwärts: Die Eltern sind für mich so verantwortlich wie der Staat für uns alle. Kindisch kann daran nur heißen, die eigene Vorstellung nicht in den Blick zu nehmen. Alles, was in den Blick gerät, ist vielmehr im Draußen, da wo bereits der Staat ist. Es ist ein Gegenstand von Projektionen und vom Begreifen abgeschnitten.

Die offiziellen Versionen, denen zufolge der Staat entweder, in einer Bewegung von unten hinauf, der zentralisierte Volkswille, oder, in einer Bewegung von oben herunter, die Versachlichung ursprünglich nackter Gewalt ist, werden hier als mitverantwortlich für das trostlose Ineinander beiseitegelassen. Sie täuschen eine Bewegung vor, die, denkt man an den Knast, so nicht existiert und auch durch die Familienkonstellation nicht legitimiert wird, ist die eigentliche Aufgabe Heranwachsender doch sich abzunabeln, nicht sich anzuschmiegen. Der Staat ist kein Knast, Beweis: Immer hat in ihm noch ein Knast Platz. Wenn er sich zum Wohlfahrtsstaat aufgeschwungen hat, um die Menschen zu versorgen, denen er die Möglichkeit versperrt, es selbst zu tun, so ist das kein Grund, sich dies Endergebnis eines verwickelten Prozesses in ein schlichtes Sosein umzudeuten und sich an den Staat zu hängen, so als wäre, dass man etwas bekommt, gut und die Verweigerung schimpflich. Eine solche Erklärung ist eine Ausrede. Sie ist der Abglanz jener Mechanismen, die schon Kant in scheinbarer Naivität Faulheit und Feigheit genannt hat. Für den Fall, dass der Druck zu groß wird, hält sie die Flucht in die Verschwörungstheorie offen, so als wäre auch die eine Form des Nachdenkens; wenn sie schon nicht das Übel beseitigt, klärt sie doch immerhin die Schuldfrage. Wie in jeder ideologischen Aussage tritt dabei das Wissen vor die Erklärung. Bereits in der Rede vom »Staat« bringt es sich zum Ausdruck und pflanzt sich fort in allen seinen Zuschreibungen.

3

Es ist nicht zufällig der liberale Staat, der mit Forderungen überhäuft wird. Der autoritäre drückt mehr. Man käme sich dumm vor, von ihm etwas zu verlangen. Aber nur weil der Staat liberal ist, sind die Forderungen an ihn noch lange nicht erleuchtet. Berechtigt wären sie immerhin, wenn er wirklich nur der Verteiler wäre, als der er sich gibt. Bereits ein Blick in den öffentlichen Haushalt zeigt aber, dass er eigene Interessen, und zwar definit andere, im Auge hat. Rüstungsausgaben können nicht vom sicheren Port eines humanistischen Standpunkts als sinnlos denunziert werden; denn in solchem Vorwurf kommt der Staat gar nicht vor. Sie müssen als Wegweiser in »Die Welt des Staates« begriffen werden. Dass sie sogleich ein ungeschminktes Bild von seinen Bedürfnissen liefern, ist nur zusätzlicher Profit einer Betrachtung, die vor allem auf Distanz zielt. Der Bruch mit der Unmittelbarkeit und der aus ihr folgenden eigenen Maßstäblichkeit hilft auf die Sprünge und verschafft Freiheit. Der Staat ist totaliter aliter, wie es im Witz über das Leben im Himmel heißt. Die Folge ist, man kann sich nicht an ihn wenden, wie man sich an seinesgleichen wendet, übrigens – dies an die Adresse der Möchtegern-Politiker – auch nicht in seiner Tonart sprechen, ohne dass man sich zum Papagei macht; wenn man den Staat etwa auffordert, »Geld in die Hand zu nehmen« oder »klare Kante zu zeigen«. Solche Töne sind Ausdruck der Symbiose, die den Paradigmensprung leugnet. Eine angemessene Haltung würde dagegen verlangen, dass man den Hang zum Fraternisieren bekämpft, übrigens nicht nur mit dem Staat, auch mit der eigenen Person, denn auch die ist nicht unverbrüchlich man selbst, in der kindischen Form, in der man sich das Ich zurechtgelegt und die Voraussetzungen für die Symbiose geschaffen hat, dieses nicht stillbare Bedürfnis.

Der Gewinn ist so minimal wie grundsätzlich. Er bedeutet Arbeit an sich selbst, Verweigerung gegenüber dem Angebot an Projektionen, von Seiten des Staates wie von der eigenen Seite. Er ist, in der Sprache der Praktischen Philosophie, eine »Freiheit von«, nicht eine »Freiheit zu«. Ob das etwas bringt, ist eine Frage schon wieder aus dem Arsenal der erhabenen Zwecke. Der profane Profit, etwas lassen zu können, was so nicht existiert, nimmt sich im Vergleich damit langweilig aus. Er ist wie gesagt geringfügig, dafür real.


Die Überlegungen knüpfen an meine Thesen aus der Reihe »In meinem Staat« an.



Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt35.html.

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