Ilse Bindseil

Worauf es ankommt

Caroline Alexanders Untersuchungen zu Krieg und Expedition


In der Tagesschau vom 9.3.2022 wird vom Aufspüren des Wracks des Expeditionsschiffs Endurance vor der Küste der Antarktis berichtet. 1915 sank es, vom Eis zerquetscht, und wurde dafür berühmt, dass es seine Besatzung in den Untergang nicht mitnahm. Jetzt ist es, wie betont wird, in ausgezeichnetem Zustand und soll an seinem Fundort, in 3008 Metern Tiefe, als in seinem natürlichen Museum gelassen werden. Ich nutze das Ereignis, um an Caroline Alexander zu erinnern, die die Expedition und andere höchst männliche Unternehmen beschrieben hat. Sie ist eine Frau, die sich traut …


Ich war mir nicht sicher, ob ich mich trauen würde, meine Begeisterung über Caroline Alexander, erfolgreiche Autorin historischer Werke wie Die Bounty, Die Endurance, Der Krieg des Achill – dies die Bücher, die in deutscher Übersetzung vorliegen – in Worte zu fassen, als mir in Maggie Nelsons famosem Buch Die Argonauten (München 2017) ein Satz über Eve Kosofsky Sedgwick zu Hilfe kam: »Manch einer empfand es als regressiv, dass sie Männer und männliche Sexualität ins Zentrum ihrer Betrachtung stellte [wie in ihrem Buch Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire], selbst wenn sie es im Dienst der feministischen Kritik tat« (40/41). Caroline Alexander ist zwar nicht »im Dienst der feministischen Kritik« tätig, weiß Gott nicht, stellt aber ebenfalls »Männer … ins Zentrum ihrer Betrachtung«, wenn auch ebenso auffällig nicht deren Sexualität. An ihr imponiert, dass sie sich in einer Weise für ihren Gegenstand interessiert, für die man noch vor wenigen Jahrzehnten nur ein passendes Wort zur Verfügung gehabt hätte: wie ein Mann.

Interesse wäre der Begriff, unter den ich eine Untersuchung über Caroline Alexander stellen würde über das, was sie interessiert, natürlich, aber vor allem über die Tatsache, dass sie sich für eine Sache so entschlossen interessiert, so als stünde sie nicht in einer Tradition männlicher und weiblicher Arbeitsteilung und Identität, die den Mann auf die Sache, die Frau auf den Menschen verpflichtet. Vermutlich ebenfalls »beinahe sadistisch intelligent«, so Nelsons Charakteristik der »Queen der Queer Theory«, wählt Caroline Alexander, dabei ganz im konventionellen Rahmen einer nicht gender-konnotierten Literaturproduktion, ihren Gegenstand ohne Angst vor der erdrückenden Dominanz der gelehrten Welt (Ilias) oder dem männlichen Vorrecht auf Expedition (Endurance, Bounty). Ohne Scheu vor dem Wissensapparat der historischen Forschung, auch ohne Sorge, angesichts überbordender Fakten das eigene Interesse, überhaupt das Selbstgefühl zu verlieren, vertieft sie sich in die Quellen und verliert nicht einen winzigen Moment ihr Interesse aus den Augen, ja wird nicht eine Sekunde wankelmütig in der Überzeugung, dass ihr Interesse und die historische Wahrheit eins sind und dass, je genauer sie sich in der Sache orientiert, desto präziser ihr Interesse sich artikulieren wird.

Was interessiert Caroline Alexander so, dass sie sich durch Logbuch- und Tagebuchaufzeichnungen, auch durch Tausende von Seiten Sekundärliteratur wühlt? An der Meuterei auf der Bounty interessiert sie, wie der Titel ihres Buches Die Bounty. Die wahre [im Original: the true] Geschichte der Meuterei auf der Bounty (deutsch Berlin 2004) kundgibt, die Wahrheit, und dies angesichts einer Faktenlage, die den Begriff der Wahrheit und das Zutrauen zu ihr durchaus ins Zwielicht rücken kann. Denn wie Versionen von vermeintlich kompakten Tatsachen es an sich haben: sie lösen einander auf bis zu dem Punkt, an dem das Interesse an ihnen erlischt. Was hatte man doch gleich in Erfahrung bringen, woran sich erbauen wollen? Caroline Alexander hat, so scheint es, ein unbändiges Vertrauen in die Wahrheit als vernünftiges Urteil, also nicht nur als Faktum. Von dem Zersetzungsprozess ist sie daher weniger bedroht, bleibt, wenn die schlichte Tatsache in Frage steht, gewissermaßen als Statthalter und Nachfolger doch immer noch ihre eigene Kunst, die Dinge ans Licht zu heben und in die Balance zu bringen; sie knickt nicht ein. Was sie an der Meuterei auf der Bounty interessiert, ist die Frage nach der Integrität des Kapitäns und dem möglichen Grund für die Auflehnung. Letzterer wird dunkler, je deutlicher die erstere wird. Es ist nahezu unmöglich, angesichts dieser Dynamik das Spannungsfeld zwischen formaler und persönlicher Integrität nicht in den Blick zu bekommen, mit Foucault gesprochen zwischen der Sorge um das Schiff und der Sorge um sich selbst. Caroline Alexander hat es nicht nötig, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen, aber wenn eine ihr besonderes Interesse weckt, dann ist es die formale. Kapitän Bright, so ihr Urteil, ist vielleicht zwar kein toller Hecht, aber er weiß, dass das Überleben eines Schiffs umfangreichere, auch abstraktere Maßnahmen erfordert als das Überleben eines Menschen, dass aber das Ziel gleich ist. Die Mannschaft möglichst vollständig und in gutem Gesundheitszustand nach Hause zu bringen, so versteht er, abgesehen von dem Transport der Brotbäume von Tahiti in die koloniale Karibik, seinen Auftrag. Auf dem Schiff den zivilisierten Umgang zu wahren, wie er ihn auch an Land gewöhnt ist, ist vielleicht sein persönlicher Ehrgeiz. Da er entgegen dem zeitgenössischen Usus ohne eine militärische Hilfstruppe in See stechen muss, ist es sicher auch eine Notwendigkeit. Kapitän eines Schiffs will er sein, nicht eines Gefängnisses, und wie weit ihm dies gelingt, erkennt er an der Zahl der Strafen, die er zur Aufrechterhaltung seiner Autorität, aber unter Minderung seines Ansehens verhängen muss. All dies interessiert Caroline Alexander und arbeitet sie heraus. Es sind Gesichtspunkte, um noch einmal Maggie Nelson zu zitieren, die »viel kraftvoller […], viel spezieller und fesselnder« sind, »als die polaren Fixpunkte von maskulin und feminin es jemals zulassen könnten« (41). Und wer weiß, vielleicht braucht es angesichts der unverstellten Männlichkeit des Gegenstands ja eine Frau, um ihnen ein Interesse abzugewinnen.

Auf dem Cover von »Die Bounty« wirbt der Berlin-Verlag mit dem Satz »Von der Autorin des Bestsellers »Die Endurance. Shackletons legendäre Expedition in die Antarktis« (1998). Gibt es in »Die Bounty« noch ein vielfältiges Umfeld, eine durch Abfahrts- und Ankunftsort gedoppelte Festland-Szenerie, bei der, Caroline Alexander macht es deutlich, auf abstruse Art sogar Frauen eine Rolle spielen, so ist der Expeditionsbericht der Inbegriff des von allem Überflüssigen befreiten männlichen Kampfes mit der Natur. »Wir waren reich an Erinnerungen. Wir hatten die Außenseite der Dinge durchstoßen. […] Wir hatten Gott in seinem Glanz gesehen, hatten den Text gehört, den die Natur schreibt. Wir hatten die nackte Seele des Menschen erreicht« (175), zitiert Caroline Alexander Shackleton. Was wie ein Ausflug ins Metaphysische erscheint, wird von ihr, ich würde am liebsten sagen, Wort für Wort in den Zusammenhang zurückübersetzt, aus dem es entstanden ist, so dass unmittelbar deutlich wird, worauf es ankommt und man für sich selbst die Überforderung sieht. Ist bereits die gesamte Expedition ein einziger Kampf oder Krampf, so zeigt die darin eingebettete Rettungsfahrt in der James Caird, »eine der größten Fahrten aller Zeiten im offenen Boot« (163), wie unter einem Vergrößerungsglas, dass der Grundbestandteil des Heroismus – Sachlichkeit ist. Was das ist, lässt sich »unter den härtesten Bedingungen […], denen ein Seefahrer ausgesetzt sein« kann (162), erkennen und im Einzelnen, nach handwerklichen und sozialen Fähigkeiten sortiert, benennen. Es sind »Ruhe, Umsicht und Können« (163): »Das Werk von Mc Nishs Händen [das von ihm gefertigte Boot] hatte allem standgehalten, was die Elemente ihm entgegengeschleudert hatten. Alle siebzehn Tage ihrer schweren Prüfung hatte Worsley [der Skipper] sich keinen Moment erlaubt, zu ermüden und seine Berechnungen abzubrechen. Zusammen hatten die sechs Männer immer die Disziplin aufrechterhalten, die das Boot rettete, sie hatten die Kommandostruktur nie in Frage gestellt, und sie hatten ihre Wachen genau nach Plan abgeleistet. Sie hatten ihre Seemannschaft […] unter dem höchsten vorstellbaren Druck« bewiesen (162 f.).

Es kommen ein paar Elemente hinzu, die deutlicher als andere Caroline Alexanders Interesse hervorheben. Dank des täglichen Verzehrs von frischem Robbenfleisch bleiben seine Männer, im Gegensatz zu den Teilnehmern berühmterer und erfolgreicherer Expeditionen, von Skorbut verschont; dies nur ein Beispiel für die Kategorie »Können«. Stellt er in seiner Mannschaft Animositäten fest, die sich rasch zu einer Belastung für die Expedition auswachsen können, zieht er den schwierigsten Mannschaftskameraden in seine Nähe, nimmt ihn auf sich; so viel zur Kategorie »Soziales«. Es geht um den Anteil an der sogenannten Menschenführung, der meistens unterschlagen wird, einen nüchterner Altruismus, der es den Geführten ermöglicht, ihrerseits das Beste zu geben. Shackleton »sollte weniger aufgrund seiner eigenen Leistung – vor allem der Expedition von 1909, in der er dem Südpol so nahe gekommen war – im Gedächtnis bleiben als aufgrund dessen, was er an Leistung in anderen wachzurufen vermochte.« (203 f.)

Der Krieg des Achill. Die ILIAS und ihre Geschichte (Berlin 2009) ist in hervorragender Weise das, was ich unter einer Lektüre verstehe: ein durch ein lebhaftes Interesse legitimierter und strukturierter Durchgang durch ein (in diesem Fall weiß Gott zerlesenes) Buch. Gefragt, woran der Kampf um Troja sie am meisten erinnert, könnte Caroline Alexander unbefangen antworten: an den Ersten Weltkrieg. Was dabei die Analogie am ehesten stören könnte, wird für sie zum Antrieb des Vergleichs. Die Einmischung der Götter, die sich »unaufgefordert und ungebeten … auf der Ebene Trojas« einfinden, »begeistert über das große Spiel des tödlichen Krieges« (139), bringt sie auf den »Engel von Mons« (140), eine »ungewöhnliche Legende, die zu Anfang des ersten Weltkriegs 1914 aufkam«, um die plötzliche Verzögerung in einem aus eigener Kraft nicht mehr abzuwendenden Vormarsch der deutschen Kavallerie zu begründen. (139)

»Philos; hetairos – ›Kamerad‹, ›Kumpel‹, ›Freund‹ – ›mein Lieber‹, ›mein Bester‹, ›mein geliebter Gefährte‹. Die Begriffe, die die Beziehung zwischen Patroklos und Achill definieren, besitzen in der zivilen Welt keine echten Entsprechungen, sondern gehören vielmehr zur bleibenden Terminologie des Kriege« (166). »Heute«, berichtet Caroline Alexander, sei der »›Verlust eines Kameraden‹ neben der ›Angst vor dem Tod‹ als eine der Hauptursachen für Kriegstraumata anerkannt (166). Sie hebt den Vietnam- und den Irakkrieg hervor und kommt doch auf den Ersten Weltkrieg zurück. »Männer,« zitiert sie John Keegan, »die in den Unterständen auf engstem Raum zusammenleben mussten, gingen Bindungen ein, die weit stärker waren als Freundschaften in Friedenszeiten.« Der Erste Weltkrieg, stellt Keegan fest, »brachte nicht nur Gefühle des Hasses, sondern auch der Liebe hervor« (167). Caroline Alexander interessiert sich für dieses Abfallprodukt des organisierten Tötens. Indem sie die Ilias als Folie für die Erklärung moderner Kriege nutzt, fügt sie das Schreckliche und das Erhabene, das sich als Inbegriff ambivalenten Erlebens durch die europäische Kulturgeschichte zieht, auf eine so zwanglose Weise zusammen, dass das Weiterdenken Spaß macht. Sind die der Todesangst abgewonnenen »Gefühle« vielleicht unlautere, aber desto erfolgreichere Konkurrenten im Wettbewerb der Lebensziele, die, wie der Name sagt, doch dem Leben und nicht dem Tod einen Sinn geben sollen? Macht nicht nur der Krieg, sondern auch die Expedition Anleihen beim Tod, indem sie die komplizierten Strategien zur Aufrechterhaltung des bürgerlichen Lebens einer doppelten Vereinfachung unterwerfen: einer Ersetzung sozialer durch sachliche Prioritäten, sexueller Konfrontation durch Anlehnung? So weit, so Freud. »Manchmal denke ich, daß ich nichts wirklich kann, außer mich mit ein paar Männern durch die Wildnis zu schlagen«, hatte Shackleton seiner Frau 1919 geschrieben (204). Dank der von einem unbezwingbaren Realismus geprägten Darstellung Caroline Alexanders dämmert einem, dass das ernst gemeint ist. Der Held der Antarktis mag im bürgerlichen Leben »wirklich« eine Niete sein. Das bürgerliche Leben, wiederum, ist in einem überwältigenden Maß von Maßstäben geprägt, die mit ihm gar nichts zu tun haben, von Zielen, die nicht auf seinem Mist gewachsen sind und die Leistungen ermöglichen, mit denen es unmöglich mithalten kann. In seinem ganzen Wesen strebt das Bürgertum einem ihm fremden Vorbild nach.

Indem Caroline Alexander für die Deutung des Heroischen – ein nach heutigen Maßstäben geradezu peinlich männlicher Gegenstand – die realistische Methode in Anspruch nimmt, vermittelt sie eine Vorstellung von den Möglichkeiten eines weiblichen Interesses, das sich zu seiner männlichen Prägung bekennt. Wem zufällig Maggie Nelsons Buch Die Argonauten danebengerät, kann sehen, wie die Gegensätze durchaus gleichrangig sein können: die einem unbedingten Interesse folgende Rekonstruktion und das feministische Wimmelbild.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt33.html.

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