Ilse Bindseil

Späte Erzählungen

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Nach Combray und anderswohin

Wenn man wie ich regelmäßig zu Vergnügungsfahrten nach Frankreich aufbricht und sich die Wege im Kopf kreuzen, dann kann es einem passieren, dass man den falschen Grenzübergang wählt. Mir ist es schon passiert, da meine Vorstellungen aus dem Dialog zwischen mir entstanden sind und dem, was ich mir so denke. Ich muss dazu sagen, dass reine Anschauungen für mich so unmittelbar sind wie für andere ein Baum oder das dringende Bedürfnis auszutreten. Vielleicht hat mir ja Berlin mit seinen Transitwegen den Rest gegeben. Noch heute schaudert es mich bei dem Gedanken, dass Helmstedt und Hirschberg womöglich noch in einem anderen Bezug zueinander stehen, als in der unvermeidlichen Frage zum Ausdruck kommt: Über Helmstedt oder Hirschberg? In Gedanken gehe ich auf Zehenspitzen über die grüne Grenze, nicht weil mich die Geschichte ängstigt, sondern die Logik. Nur mit großem innerem Aufwand weiche ich von den alten Übergängen ab. So als könnte das Experiment ergeben, nicht die Grenze, sondern ich existiere nicht.

Aber nun denken Sie nicht, dass ich aus der DDR bin. »Ich komme vom Gebirge her«, wenn man meine Vorstellung teilt, dass die Begriffe oben und die Dinge unten sind oder die Begriffe nah, die Dinge aber fern. Es muss ein Geburtsschaden sein, dass ich mir die Welt nur als Linie vorstellen kann, als Verbindung zweier Ziele oder als Perlenschnur, auf der sich Kathedrale an Kathedrale reiht. Sie merken, ich rede wieder von Frankreich. Wenn die Neugier auf die Fläche übermächtig wird, dann kann es passieren, dass ich in irgendeinem tristen Ort Halt mache, der im système routier keine Rolle spielt, im système culturel übrigens auch nicht, und den ich deshalb mit dem Paradies verwechsele. Dass es an diesem Ort zwar die eine oder andere Sehenswürdigkeit, aber zum Beispiel kein Hotel und keinen Campingplatz, keine Möglichkeit, sich aufzuhalten, und von besagter Sehenswürdigkeit auch keine Ansichtskarte gibt, die ihre Existenz glaubwürdig machen würde, das finde ich verstörend und auch im tiefsten Sinn unlogisch. Wenn abseits vom Weg nichts liegt, warum gibt es dann Wege?

In dem Sommer, von dem ich berichten will, gab es an der Loire keine Stechmücken. Prompt fühlte ich mich auf meinem Zeltplatz von allem verlassen, was mir mein Unbehagen hätte erklären können. Vor Jahren, bei strömendem Regen, hatten sie es an urtümlicher Wucht mit der alten Abtei aufnehmen können, wegen der ich gekommen war. Jetzt musste ich mich gehörig anstrengen, dass mich beim Anblick der zum sonntäglichen Hochamt vorfahrenden Provinzkatholiken die festliche Stimmung nicht verließ, und den Eindruck von »la France profonde«, französischer Selbstgefälligkeit und Engstirnigkeit, zurückdrängen, um das geistige Ereignis wiederzubeleben, das mich hergebracht hatte, wie gesagt nicht zum ersten Mal.

In diesem Sommer gab es keine Stechmücken, ich könnte auch sagen, nichts von allem, was den Dingen eine Farbe verleiht, der Erinnerung einen Halt gibt, der Sehnsucht einen Grund. Ich hätte vorgewarnt sein können, weil ich mich, noch relativ ungeübt im Umgang mit dem Internet, vom Zeltplatz in Bourges durch die leidenschaftliche Warnung vor Stechmückenschwärmen – »von denen man uns vorher nichts gesagt hatte!« –, abhalten ließ und mich damit auf ein Terrain begeben hatte, das Überraschungen ausschloss. Ich hatte mich stattdessen, pas loin, in Sancerre niedergelassen oder dicht daneben; der Übergang vom berühmten, wie ein ganzes Bukett duftenden Ort zur namenlosen Nachbargemeinde, war, wie das in Frankreich häufig der Fall ist, kaum zu erkennen. Dort gab es nicht eine einzige Mücke, ebenso wenig wie in diesem Jahr vermutlich in Bourges, und sah man von den Asbestdächern auf den Waschräumen des Campingplatzes ab, sprach nichts dagegen, aber leider auch wenig dafür.

Wie allgemein bekannt, hatten die Mönche Sümpfe trocken gelegt, das war ja ihre zivilisatorische Aufgabe. Vermutlich waren sie von Stechmücken förmlich aufgefressen worden, und darum hätte man, wenn man die Ergebnisse ihres aufopfernden Fleißes besichtigen kam, sich über die Mücken nicht zu wundern brauchen. Jetzt waren keine da, und ich fragte mich, wenn ich ihnen nicht einmal aus dem Weg gehen konnte, was veredelte mir dann das Vergnügen? Ich kaprizierte mich auf ein Gebäude von ausnehmender Hässlichkeit zwischen dem Campingplatz und dem Ort, an dessen geschlossenen Geschäften ich den vielfach beschriebenen Übergang von la France profonde in la France fermée studieren konnte. Noch um Grade trister, da ungleich größer und als Zweckbau mehr einem Silo als einer menschlichen Behausung nachempfunden, passte es weder in die Landschaft noch in den Ort. Da es nicht tierlich und nicht menschlich, irgendwie unfertig und, wenn auch heruntergekommen, so doch nicht baufällig wirkte, ließ es sich überhaupt nicht einordnen. Ich beschloss, dass auf dieses Haus einzig das Wort erratisch passte, zumal es für mich durch das Fremdwort eine gewisse Anschaulichkeit bekam. Der Eindruck des Erratischen wurde noch dadurch verstärkt, dass es sich als Seniorenresidenz entpuppte, die, wie die wechselnden Einstellungen der Sonnenjalousien bewiesen, noch – oder schon? – bewohnt war. (Ich will damit sagen, dass Beton sich vor und nach dem Gebrauch am ähnlichsten sieht.) Über dieses Gebäude konnte ich mich als Mensch und Touristin gar nicht beruhigen; für den ersteren war er eine Bedrohung, für die letztere eine Beleidigung des Auges. Nicht nur überlegte ich in einem Anflug von Zynismus, ob hier wohl die ehemaligen Inhaber des kleinteiligen Gewerbes untergebracht waren, an das wenige Straßen weiter nur noch die Inschriften erinnerte, die Metzger, die Wäschepflegerinnen, die Meister der plomberie. Aber der Ort war klein, so kam es mir vor, obwohl in der Tiefe dicht bebaut, und das Haus groß. Ich hatte mich bei meinem beklagenswerten Ortssinn schon mehrfach nach ihm richten können und mein empörter Bezug zu ihm hatte sich dabei in Dankbarkeit gewandelt. Es war also ein nützliches Haus. Außerdem war ich selbst nur noch einen Steinwurf davon entfernt, bevor sich nämlich auch bei mir die Läden schlossen und ich ebenfalls Zuflucht in einem erratischen Gebäude suchen musste.

In ungewohnt nüchterner Stimmung lichtete ich die Anker, nachdem ich einige Male pflichtschuldigst vom Sancerre genippt und wie alle andern Campingplatzbewohner verbotenerweise in der Loire gebadet hatte. Im Geist leistete ich dem patron des kleinen Cafés Abbitte, weil ich ihn verließ. Er hatte mir, als ich zum dritten Mal zum Frühstückskaffee erschien, die Hand gegeben und mir damit bestätigt, dass ich nicht nur eine Frau (eine Ausländerin, Touristin) war, sondern ein Mensch; eine Spätfolge der Revolution, zweifellos, Ausdruck eines entschiedenen Republikanismus, zu dem ich als Deutsche allenfalls einen Bildungsbezug habe. Im grellsten Sonnenlicht und während die Lastwagen auf Kante an mir vorbeidonnerten, hatte ich den bitteren Kaffee getrunken, Libération und Le Monde gelesen und das umfassende Gefühl genossen, ein Mensch zu sein. Nur mühsam hatte ich mich unter dem Ansturm dieses Gefühls auf die Artikel konzentrieren können. Wie das Federvieh nach jedem Schlückchen Wasser den Schnabel zum Himmel hebt, um Gott zu danken, so hob ich, scheinbar um über das Gelesene nachzudenken, tatsächlich aber unter dem Druck einer überwältigenden Empfindung nach jeder Zeile den Kopf und dachte so etwas wie: »Hier«. Etwas wie: »Jetzt«.

Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Analyse, dass der Geschäftsinhaber, indem er mich ehrte, seinem Lokal lediglich eine touristische Empfehlung anheften wollte. Seine Absicht war durch und durch lauter, und meine Annahme, dass ich in der verbleibenden Zeit nie mehr auf einen solchen patron stoßen würde, hätte sich bewahrheitet, wäre ich nicht, achtzig oder hundertfünfzig Kilometer nordwestlich auf einen Zeltplatz geraten, der aufgrund seiner elenden Verfassung Anlass zu einer tiefgründigen Unterhaltung gab. Die anhaltende Trockenheit hatte dem Platz schauerlich zugesetzt, die Erde war geborsten, die ehemalige Wiese restlos zerstört, der Gedanke an eine Mondlandschaft unvermeidlich. »Hier, sehen Sie«, sagte der Verwalter, der mit mir über den Platz ging. Einträchtig, wie zurechtgewiesene Schüler, senkten wir die Köpfe. »Bei uns ist auch alles dürr«, erzählte ich ihm, natürlich auf Französisch. Im Freibad hatte der Rasen, früher nur gelegentlich gelb, den nackten Boden entblößt. Hier hatte es zum letzten Mal im Frühjahr geregnet und heute zum ersten Mal. War es Juli, oder schon August?

Ich war in diese Stadt gefahren, weil sie den klingendsten Namen der französischen Literatur und Geschichte trug, Vendôme, obwohl sie laut Wikipedia als Kleinstadt mit einer deutschen Partnerstadt verbandelt war, deren Namen ich zum ersten Mal hörte; Gevelsberg. Über die Trostlosigkeiten, die sich mit einer solchen Beschreibung verbinden, will ich kein Wort verlieren, Sie können ja selbst nachlesen. Aber jetzt stand es auf der Kippe, ob Wikipedia die Oberhand bekam. Wenn ich nur an die verreries der Kathedrale denke, von denen ich vergeblich Hunderte Fotos schoss, so als gäbe die Summe ein Ganzes, und an die Entchen, die sich zwischen zwei Wehren eingeklemmt hatten! Auf der winzigen Wasserfläche ruderten sie hin und her und jammerten nach ihrer Mutter, die die Staustufe gewechselt hatte und beharrlich nach ihnen rief. Hilft denn hier keiner, fragte ich mich und studierte mit hasserfülltem Blick die ungerührten französischen Mienen. Ein junger Holländer, auch er menschlich betroffen, schwang sich über das Brückengeländer, konnte aber die Tiere nicht erreichen, instinktiv wichen sie vor ihm zurück. Bedauernd hob er die Hände, ehe er auf die Brücke zurückkletterte. »Ne vous souciez-vous pas«, sagte eine ältere Dame, »sie zieht sie hier immer groß.« »Und die Kleinen kommen zurecht?«, fragte ich eher fassungslos als besorgt, denn meiner Ansicht nach konnte man, eingeklemmt zwischen zwei rauschenden Wehren, unmöglich zurechtkommen. Sie lachte. »Die auch«, sagte sie und trippelte davon, wie ältere Französinnen das so tun. Was für ein Ort, was für eine Sprache, was für ein Weltbild, dachte ich unwillkürlich und mit Neid. Denn es war unübersehbar, dass die Dame ebenfalls zurechtkam, dass sie sich à l’aise, fühlte, bien dans sa peau, tout à fait chez elle in dieser Stadt, die ich in der einzigen Absicht aufgesucht hatte, ihre Aura zu spüren, vielleicht dem Prinzen von Vendôme zu begegnen.

Mit den verreries war das so eine Sache. Sowenig sie wussten, warum ich sie unablässig fotografierte, sowenig konnte ich mir erklären, warum mein kranker Freund, den ich mit den Highlights meiner Reise versorgte, diesmal nicht reagierte. Hatte er sich in die Krankenschwester verguckt, die sich in einen andern? Bislang hatte er jede Distel am Straßenrand gelobt, wenn seinen Kommentaren auch anzumerken war, dass ihm die wahren Bezüge verschlossen blieben, er war eben nicht dabei. Je gründlicher er sich über die verreries ausschwieg, desto mehr schickte ich ihm davon. Er war ein viel feinerer Kenner von allem, was mit Kunsthistorie zu tun hat, als ich. Von daher hätte ich gar nicht reisen dürfen. Dafür war ich, sagte ich mir, angestachelt durch sein plötzliches Schweigen, ungleich stärker im Erleben, ich war lebendiger. Fluchend fuhr ich zur Villa von Ronsard, die dann auch meinem Freund wieder einen Kommentar entlockte. Zu sehr glänzte der Name, als dass man ihn übergehen konnte. Von der Örtlichkeit hatte der Freund offensichtlich keine Ahnung, denn die Villa schien mir auf einige Entfernung wie ein Altenheim, oder wer war es, der nach hinten hinaus in den großen Garten geschoben wurde? Doch nicht etwa der Dichter!

Sie merken, es war mal wieder Zeit, die Segel zu setzen, obwohl ich mich von Vendôme und der permanenten Enttäuschung, die mir der Ort bereitete, nur schwer trennen konnte. Bevor ich am nächsten Morgen aufbrach, warf ich noch einen Abschiedsblick auf das höchst merkwürdige Schauspiel, das sich jeden Abend wiederholte: ein Mini-Marathon quer durch die Stadt, der als offizielles Projekt des Ferienmonats die Stadt ins Guinessbuch der Rekorde bringen oder auch nur das Gesundheitsbewusstsein heben sollte. Weder das eine noch das andere hatte mit der Unsterblichkeit von Vendôme zu tun, und so war mein Blick auf die Menschen, die den Lauf absolvierten, ein befremdeter, und ich hatte schon am Ankunftstag um ein Haar mein Ziel nicht erreicht, da an der Einfahrt zum Zeltplatz ein Band mit der Aufschrift »Fin« aufgehängt war. Verwirrt war ich noch eine Ehrenrunde um die Stadt gefahren, bevor ich wie ein Läufer nach vollendetem Lauf an den Tapeziertischen der Honoratioren vorbei direkt auf das flatternde Band zuhielt und im letzten Moment in den Campingplatz einbog.

Im Rückblick schmerzt es mich doch, dass ich zwar den zerstörten Campingplatz, aber nicht die munteren Gänse erwähnt habe, die abends vom Fluss zum Weiden auf die karge Wiese kamen. Was der Boden nicht mehr hergab, das ersetzte die Fütterungslust der Camper, und was an Gras fehlte, die Hinterlassenschaft der Gänse. Ich will auch nicht verschweigen, dass ich den mit Hilfe des Navigationsgerätes vollzogenen Wechsel von der Loire zum Loir geistig nicht verarbeiten konnte und mir die Tatsache mehr als einmal auf der Karte vergegenwärtigen musste, obwohl ein offener Blick gereicht hätte. Denn es gibt keine unterschiedlicheren Flüsse als diese beiden. Und übrigens kein fließendes Gewässer, das ungeachtet der an seinem Ufer errichten Atommeiler und ihrer daraus resultierenden unnatürlichen Wärme so sehr bei sich ist wie die Loire. Sie ist eben keine Wasserstraße, trotz ihrer Größe. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Ich zögere ein wenig, und meine Worte zahlen mir mit barocken Ausblühungen die Unentschlossenheit heim. Es trieb mich nach Combray. Aber ehe ich dem inneren Kompass folge, will ich auf die Nacht bei Briare zurückkommen, die ich auf dem Deich hoch über der Loire verbrachte. Der Reiseführer hatte den Zeltplatz als unkonventionell und den Empfang als herzlich gerühmt. Dabei bin ich, wenn ich allein reise, unkonventionell genug und brauche Konventionen. Ich bin auch nicht herzlich gestimmt. Begegnet man mir mit überströmender Freundlichkeit, wirke ich verstockt. Zu allem Überfluss suchte mich ein Sturm heim, und ich verbrachte die Nacht aufrecht im Eskimozelt, summte »Eine feste Burg ist unser Gott« und fragte mich staunend, ob der Allwissende da oben mich noch im Blick hatte. Ich bog mich wie der Rosenstrauch in La Fontaines Fabel im Rhythmus der Böen, die das geblähte Zelttuch nach innen drückten, so dass Dach und Boden sich gefährlich nahe kamen. Von der Parabel überwölbt, von der Hyperbel zu Boden gedrückt, so ging es mir durch den Kopf, denn ich war nun einmal außerstande, den Ereignissen sans phrase zu begegnen. »Auch ein reicher Mann hat Ruh/hält sein Sarg von innen zu«, memorierte ich, denn die Nacht war lang, und umklammerte, wenn der Wind einatmete, die Zeltstange, denn er musste ja auch wieder ausatmen. Ich gab aber acht, dass ich die Stange nicht zu fest hielt. Weiß nicht mehr, wann ich aufs Lager sank. Aber daran erinnere ich mich genau: Der herzlich eingeschenkte Kaffee am nächsten Morgen schmeckte verbrannt.

Ich bin schon einmal ums Haar nach Briare gefahren, Sie erinnern sich an die Mücken! Da aber das Weltwunder, das der Ort versprach, mit Kathedralen und Klöstern nichts zu tun hatte, hatte ich es mir, in der Touristensprache ausgedrückt, geschenkt. Jetzt wollte ich das Versäumte nachholen. Vielleicht war aufgrund dieser Fehleinschätzung die Fallhöhe so groß, nicht die nach unten, sondern nach oben.

Fahren Sie selbst hin. Sehen Sie, was der Anblick in Ihnen auslöst. Mir hat er mein Inneres vorgeführt. Mein Weg nach innen ist ja der von Äußerlichem zu Metaphysischem. Ich sagte Ihnen bereits, mein Erleben bezieht sich auf die reine Anschauung. Auf das leere Verstandesförmige antworte ich mit lebhafter Gefühlstätigkeit. In der Begegnung mit der Abstraktion erlebe ich mich als empfindender Mensch.

Das halbe H, das es in Briare zu bestaunen gibt, entsteht ganz einfach dadurch, dass der Kanal qui longe la Loire, über eine Brücke von der einen auf die andere Seite geführt wird und die Parallelen sich an diesem Punkt schneiden, dass das eine Wasser dabei über das andere Wasser geführt und auf diesem Brückenabschnitt das Flüssige also wie Festes behandelt wird. Dass die Form über den Stoff siegt: das ist das Wunder von Briare, und nie werde ich mir verzeihen, dass ich bereits einmal daran vorbeigefahren bin und es deshalb für immer einmal zu wenig gesehen habe. Spießer, sage ich zu mir, Spießer!

Dabei fehlte dieser Lösung jegliches Erhabene. Auch darum war sie wie der Spiegel meiner armseligen Einbildungskraft. Sie reizte mich zur Versprachlichung nach Art meines Navigationsgerätes: »Erst rechts abbiegen, liebes Wasser, dann links abbiegen.« Den Unterbau dieser seltsamen Brücke mit seinen groben Quadern hatte übrigens der Baumeister des Eiffelturms ausgeführt. Er kam mir beinahe klobig vor, und ich musste an Garabit denken, die Eisenbahnüberführung über die Truyère und, laut Homepage, la plus belle réalisation de Gustave Eiffel, ein Halbrund mit Tangente, ein zierlicher Bogen aus ebenso zierlichem Stahl. Hier will ich bleiben, hatte ich mir seinerzeit gesagt. Aber es gab in der Nähe keinen Zeltplatz, und ich musste jeden Tag tüchtig fahren.

Combray. Der Ort liegt mir schwer im Magen. Wäre ich doch nicht noch einmal nach Combray gefahren. Hätte es – die Zeit drängte damals – beim flüchtigen Spaziergang du côté de Guermantes belassen. Ein paar Schritte, hatte ich mir gesagt, nur um zu sehen, ob der Weißdorn duftet, und um auf den Kirchturm zurückzublicken. Jauchzend umflatterten ihn die Dohlen, und ich wäre um alles in der Welt gern Dohle gewesen. Aber das Innere der Kirche hatte mich in seiner Stillosigkeit schon damals befremdet, und als ich die Verkäuferin der benachbarten Buchhandlung fragte, wo das Haus der Tante Léonie war, die berühmte Sommerresidenz des Knaben Marcel, da hatte sie mich feindselig angeblickt und mir nur unwirsch geantwortet, so als sei sie es endgültig leid, dass ihre Stadt bloß in Zusammenhang mit Proust existierte und ihre eigenen Geschäftsinteressen so gar nicht zählten. Und das, obwohl sie Buchhändlerin war!

Schon damals hatte ich gemerkt, dass der Ort, vorsichtig gesagt, etwas Unstimmiges hatte. Ich hätte es also sein lassen sollen. Konnte ich aber nicht, da ich in diesen Ferien von der Aura lebte, und wenn die Luft dünn wurde, wer weiß, dann brach ich die Reise ab und fuhr gleich nach Hause. Also musste es noch einmal Combray sein.

Es regnete, prompt sah es so aus, als hätte es seit Wochen geregnet. Kein Mensch auf der Straße. Eine Vielzahl von Läden nicht nur zugesperrt, sondern verrammelt: August.

Ich parkte auf dem leeren Platz unterhalb der Kirche, auf dem zwei gestandene Männer, unbekümmert um den Regen, über ein Geschäft verhandelten und mich keines Blickes würdigten. Sie hatten andere Interessen als ich. Ich war unruhig, weil ich ihnen mein vollgepacktes Auto auslieferte. Aber ich stieß mich auch an ihrer Gleichgültigkeit. Ich hatte nicht gedacht, dass die Sehnsucht einen äußeren Halt braucht. Ich meine nicht nur den Gegenstand der Sehnsucht, sondern auch Leute, die sie einem ansehen: Diese Frau ist wegen Proust gekommen, seht nur, wie sie strahlt!

Ärgerlich, weil ich mit meinen Gedanken von meinen Habseligkeiten nicht los kam, betrat ich die Kirche. Ich weiß nur noch, dunkles Gestühl und kein Licht, weder von außen noch von innen. Und trotzdem war ich da und versuchte, so etwas zu denken wie: Angekommen. Schon beim letzten Mal hatte ich mich gefragt, wie die mickrige Figur hoch oben im Fenster der furchterregende Gilbert sein konnte, von dem Proust seitenweise berichtet. Die Gestalt hatte ihm eine urtümliche Angst eingejagt, war aber von unten kaum zu erkennen. Mir machte auch etwas Angst, aber ich wusste nicht, was.

Während ich herumwanderte, spürte ich, dass ich nicht allein war. Eine Frau wanderte wie ich durch den Raum. Ich brauchte eine Weile, bis ich mir eingestehen konnte, dass sie nicht an der Kirche, sondern an mir interessiert war. Um mich schlich sie herum!

Das war absurd und entweder nicht wahr oder ich hatte neuerlichen Grund zur Beunruhigung, sogar zur Furcht, denn wir zwei – ich sage der Einfachheit halber »wir« – waren allein. Ich wusste nicht einmal, ob die Frau sich schon vor mir in der Kirche aufgehalten hatte oder ob sie mir gefolgt war; vielleicht, denke ich, wenn ich die Szene in Gedanken noch einmal erlebe, auf einen Wink jener beiden Männer hin, die auf dem Parkplatz verhandelten. Ich möchte schwören, als ich eintrat, war die Kirche leer. »Nobody inside« oder »Keine Sau da«, aber so einfach lagen die Dinge nicht, dass man sie durch Jargon bewältigen konnte.

Meiner Vertrauensseligkeit eingedenk, die mich bereits in die eine oder andere unangenehme Situation gebracht hat, achtete ich darauf, dass ich mir zwar eisern den Anschein gab, diese über alle Maßen uninteressante Kirche eingehend zu studieren, dass ich dabei aber nicht in Griffnähe der Frau geriet, die mich unermüdlich umwanderte. Zog sie von Mal zu Mal engere Kreise? Sie war am Schein ebenso sehr interessiert wie ich. Wie jeder Mensch hatte sie das Recht, sich in der Kirche aufzuhalten, selbst wenn die sie noch weniger interessierte als mich. Vielleicht überbrückte sie die Zeit, bis der Bus kam, und wollte nicht nass werden. Das war meine Lieblingserklärung, wenn ich mir auch nicht vorstellen konnte, von wo in diesem öden Ort ein Bus abfahren noch wohin bei dem Wetter die Reise gehen sollte.

Schließlich schien sie sich ein Herz gefasst zu haben und sprach mich an. Ich sage, es schien so, denn ihre Geschichte kam ohne allen Impuls, ein Unterschied zwischen Schweigen wie bisher und endlich Ansprechen war kaum zu erkennen, das Ganze so flach wie die Aktenlage, die eine vorgefasste Meinung bestätigt. Mitten in der Provinzwüste Frankreichs waren ihr auf nicht näher bezeichnete Weise ihre nicht näher bezeichneten Habseligkeiten abhandengekommen, darunter natürlich das Geld und natürlich auch ihre Papiere. Letztere bildeten ein ungelöstes Problem, aber beim Geld, zumindest, konnte ich aushelfen.

Um solcher Begegnungen willen hätte ich Berlin nicht verlassen müssen!

Sie versagte sich die direkte Bitte oder Aufforderung, führte ihre trostlose Story nur dicht bis an die Schlussfolgerung heran. Im Interesse an der Logik, die die Grundlage alles menschlichen Zusammenlebens bildet, hätte ich meinen Part in dem Stückchen, das wir aufführten, übernehmen und mein Portemonnaie zücken müssen: Hier, nehmen Sie.

Ich will um alles in der Welt den Eindruck vermeiden, dass sie es mir aus der Hand gerissen hätte oder, wie soll ich es ausdrücken, überhaupt erfolgsorientiert handelte. Sie war die Neutralität und Unauffälligkeit in Person, müsste ich mich festlegen, der Inbegriff einer Bürokraft oder eine Reiseleiterin, die am Treffpunkt auf ihre Busladung wartet. Entschieden jünger als ich, in jenem Alter, in dem man nicht älter wird, in einem unauffälligen Look gekleidet, konnte sie alles sein: eine Studentin des zweiten Bildungswegs oder eben eine Bürokraft. Eigentlich war sie ein Klon von mir, nur eben jünger. Der Rucksack hing über der gleichen Schulter wie bei mir, aber mit Proust hatte sie nichts im Sinn.

Eine unangenehme Begegnung. Prompt sagte ich: Nein.

Ebenso prompt wandte sie sich ab, oder ich mich, aus Scham, ich, weil ich nein gesagt, sie, weil sie sich geoutet hatte. Wie zwei Klons wandelten wir umeinander, maßen den engen Kirchenraum mit seinem harten Gestühl aus, darauf bedacht, uns nicht an den Kanten zu stoßen, und versuchten, das Geschehen, wie man so sagt, zu vergessen; ich zusätzlich beladen mit der Last, das Unverständliche zu verstehen, sie mit der schwerer wiegenden, ihrem Alltag, der sich womöglich hier in der Kirche abspielte, gerecht zu werden, den Liebsten nicht zu verärgern, das Tägliche heranzuschaffen, vielleicht – dachte ich bei ihrem Anblick unwillkürlich – rechtzeitig bei ihrem irgendwo abgestellten Kind zu sein. Ganz sicher war ich nicht, wer sie war, und wer in dieser Auseinandersetzung ich, auch nicht.

So gab ich als erste nach, verließ den Ort, den Proust unsterblich gemacht hat, und ließ die Frau an ihrem Zufluchtsort, an ihrem Arbeitsplatz zurück und schlug, ohne einen Blick auf mein gefährdetes Auto zu werfen, den Weg zum Haus der Tante Léonie ein, dem Proust-Museum des Ortes. Es regnete unablässig, und der Stein, über den ich heftig ausschritt, glänzte. Kaum hatte ich das Gebäude in der Ferne entdeckt, kehrte ich auf dem Absatz um und ging zum Auto zurück. Es stand noch genauso da, wie ich es verlassen hatte. Ob die beiden Männer noch miteinander verhandelten? Ich müsste lügen, wenn ich mich festlegen wollte. Bestimmt habe ich sie im Hinterkopf gehabt. Der Umgang mit einem Auto ist kompliziert, wenn man ihn bedenkt. Man muss den Schlüssel aus dem Rucksack fingern, das Schloss finden, die Tür aufreißen und von innen wieder zuschlagen, notfalls verriegeln, den Schlüssel in den Anlasser praktizieren, den Gang einlegen, Gas geben und den Angreifer, wo vorhanden, mit dem Kotflügel beiseite schleudern. Sie merken, ich habe das in Gedanken schon hundertmal erlebt und bin dabei – wen, der Albträume kennt, wird es verwundern – schon beim Aufschließen gescheitert.

Es war später Nachmittag, und ich nahm Kurs auf Paris. Nicht um in die Stadt hineinzufahren, sondern um sie zu umfahren, das war unvermeidlich, wenn man von West nach Ost wollte. Zwanglos landete ich auf der großen Umgehung, und die Straße wies jetzt mehr Spuren auf, als ich zählen konnte. Hier herrschte keine Ferienruhe, sondern Berufsverkehr. Unermüdlich wischte der Scheibenwischer, unentwegt wurde ich angehupt. Nimm es nicht persönlich, sagte ich mir, die Leute wollen nach Hause. Ich konzentrierte mich auf die Stimme des Navigationssystems: rechts halten, das hieß keineswegs rechts abbiegen. Ich hielt mich rechts, übersah die einschlägigen Handbewegungen der Vorbeifahrenden und lauschte dem Sprecher. Bloß nicht das eigene Vorstellungsvermögen aktivieren, sagte ich mir. Nur ausführen und lauschen!

Plötzlich tauchte ein umzäunter Schrottplatz neben mir auf, ich hätte geschworen, keine zehn Meter entfernt. In meiner Erinnerung ist er weniger riesig als geradezu unheimlich voll, ein Autofriedhof, zweifellos, auch wenn etwas störte; denn dicht an dicht standen nicht Autos, sondern Caravans und, so seltsam es klingt, Gespanne. Ganz nahe kam er an mich heran und so lange fuhr ich neben ihm her, ich konnte den Blick nicht von ihm wenden. Zwar bin ich noch nie auf einem Kreuzfahrer gereist, aber genauso stelle ich es mir vor, wenn man sich einem Land von seiner unbefestigten Küste her nähert, obwohl die schiere Größe des Schiffs einen auf Abstand hält, während ich in meinem Auto nur den Arm ausstrecken musste, um das Angestaunte zu berühren.

Eigentlich hätte ich fragen müssen, ob ich überhaupt gucken durfte.

Während der Regen niederging und meine Sinne zwischen dem Scheibenwischer und den bizarren Formen, die er auf meine Windschutzscheibe zauberte, der Stimme des Navigationsgerätes, den hupenden Franzosen, den unablässig nach rechts und links blinkenden Lichtern der überholenden Autos auf Rezeption und meine Urteilskraft auf Autopilot geschaltet hatten, dachte ich einzig über den Schrottplatz nach, und da in diesem Augenblick ungeachtet des strömenden Regens ein Mann aus einem Caravan trat, ging mir ein Licht auf, und »der ganzen Menschheit Jammer fasst mich an.« Es war ein den gens du voyage zugewiesener Platz, ein Aufenthaltsort für Zigeuner.

Also hätte ich doch fragen müssen, ob ich gucken darf.

Immer häufiger tauchte auf den riesigen Schildern Reims auf. Das rettende Ufer nahte. Von Frankreich wollte ich nichts mehr wissen, wollte heim ins grobe Germany, einmal Nazi, immer Nazi.

Es war aber noch weit. Ich widerstand der Versuchung, so lange zu fahren, bis ich vor Müdigkeit nicht ein noch aus wusste, und fuhr bei Villeneuve, Villefranche, Ville-weiß-ich-was von der Autobahn ab, dem nächsten Zeltplatz entgegen. In der feuchten Dämmerung schien mit die Landschaft grün, so grün, aber die groß angekündigte Ortschaft war klein, viel Ort, wenig Stadt und ein Campingplatz nicht vorhanden. Vergeblich bat ich bei einer Pension um ein Zimmer und wurde an ein Hotel außerhalb der Stadt verwiesen. Auch dort war kein Zimmer mehr frei, und aus dem Gastraum mit den weiß gedeckten Tischen summte es wie aus einem Bienenstock. Aber der reizende Juniorchef, dem das Bedauern anzusehen war, wollte mich einem Vermieter von chambres d’hôtes im Nachbarort vermitteln, mit dem er wohl eine Vereinbarung hatte. Er hatte nur eine Sorge: Wo sollte ich essen? Ich lachte: Wenn ich heute nicht aß, dann eben morgen! Am angegebenen Ort wurde ich mit der Frage empfangen: »Et votre mari?« Man habe ihm zwei Personen angekündigt, sagte er Gastgeber, aber egal, wo zwei Platz hatten, da kam auch einer unter. Am nächsten Morgen, nachdem ich wegen der unzähligen afrikanischen Devotionalien in meinem Zimmer eine unruhige Nacht verbracht hatte, plauderte ich beim Frühstück mit ihm und seiner reizenden Frau. Erleichtert, dass er kein Fremdenlegionär, sondern Diplomat und überhaupt ein weltgewandter Mann war, kam ich auf das gestrige Missverständnis zurück: »Ich habe ganz allein vor ihm gestanden«, sagte ich erregt, »aber er konnte nicht anders. In seinem Weltbild musste ich zwei sein, ich vor ihm und mein mari im Auto!« Mein Gastgeber lachte. Franzosen waren Machos, räumte er ohne weiteres ein. Da gab es noch viel zu tun. Das klang, als wollte er gleich die Ärmel aufkrempeln. Aber, schloss er mit einem bezaubernden Lächeln, solange es schöne Frauen gab, würden Franzosen Machos sein.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt30_03.html.

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