Ilse Bindseil

Abrechnung in Kołobrzeg

Vor der Klassenfahrt der 10.Klasse im Sommer 2004 hatte ich in einer Vorahnung, daß Unterkunft und Umgebung den Lebensmut auf eine harte Probe stellen könnten, eine ›Hausaufgabe‹ gestellt: Der um die Zeit noch unbekannte Zielort sollte nach der Rückkehr zum Schauplatz einer Kriminalstory gemacht, diese im Unterricht vorgelesen und das Ganze zur Erinnerung an die Schulzeit zu einem Buch gebunden werden. Ich beteiligte mich an dem Unternehmen, und um die Anforderungen an die Lehrerin etwas höher zu schrauben, stellte ich mir die Aufgabe, sämtliche Kinder, auch die nicht hatten mitfahren können, vorkommen zu lassen, bis auf einen, aus dessen Perspektive ich schrieb und den sie nach dem Vorlesen bestimmen mußten.

Marlon rüttelte mich, zog mir schließlich die Decke weg. »Wir kommen zu spät zum Frühstück!« sagte er. Ich taumelte unter die Dusche, rubbelte mich hinterher ab, bis ich krebsrot war. Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel: Gesichtskontrolle. Ob sie etwas merkte? »Los, komm!« Wenn Marlon es doch lassen würde, mich anzutreiben! Extra langsam schlurfte ich die Treppe hinunter, und dann kam wie jeden Morgen das endgültige Erwachen, weil man außen ums Haus rum mußte, um zum Eßsaal zu gelangen, geradewegs durch die feuchte Kälte, den Wind, der einem ins Gesicht schlug. Einen bequemeren Weg gab es nicht. Ich drückte mich noch dichter an die nasse Hauswand und kämpfte mich zur Glastür vor. Immer wirkte sie, als wäre sie fest verschlossen, und dann ging sie doch auf. Uff! Alles in Ordnung. Frau Enderwitz war noch nicht da; obwohl, eigentlich komisch. Ulf sah bei meinem Anblick irgendwie enttäuscht aus, so als hätte er eher mit ihr gerechnet als mit mir. Er wunderte sich auch. Na und? dachte ich. Erst mal Kakao trinken, das war immer gut.

Als wir dachten, jetzt muß sie aber kommen, kam wirklich jemand. Polizei. Polnische, natürlich. Wenn Enderwitz dagewesen wäre, hätten wir das richtig interessant gefunden; denn eins mußte man zugeben: Viel passiert war auf dieser Fahrt noch nicht. Natürlich wollten sie unsere Lehrer sprechen. Ulf erhob sich langsam und sah wirklich beachtlich aus, als er schließlich aufrecht stand. Die Polizisten daneben konnte man glatt vergessen. Leider vergaß er nicht, daß ein paar von uns polnisch konnten. Das brachte uns um die angenehme Zuschauerrolle. Zwar war es aufregend, aber ich kriegte Probleme mit dem Schlucken. Es ist mir alles zuviel, dachte ich.

Natürlich kamen wir alle mit, als sie zu Enderwitz’ Zimmer gingen, außen rum ums Haus, wie immer, durch Regen und Wind. Sie residierte im ›Infektionsraum‹, Ulf dagegen im ›Arzt‹- oder ›Behandlungszimmer‹; der Himmel mochte wissen, was das früher für ein Heim gewesen war. Ulf klopfte, die Polizisten öffneten die Tür. Sie war nicht abgeschlossen; Frau Enderwitz schloß sogar ab, wenn sie bloß aufs Klo ging; da war sie komisch. Dafür war das Zimmer aufgeräumt, das Bett gemacht, die Klamotten im Koffer, der Kofferdeckel lose draufgelegt, so als wollte er sagen: Ihr braucht nicht zu wühlen. Handtasche? Wir mußten lachen; Rosalie kriegte sich nicht mehr ein. So etwas hatte unsere Lehrerin nicht, und das war gar nicht so leicht zu übersetzen.

Die Polizisten telefonierten. Was wir für heute vorgehabt hätten, fragten sie. Kołobrzeg, sagten wir: Geldwechseln, Hamburger, Piroggen, vielleicht die Kriegsschiffe am Hafen; kurz, das volle Programm. Sie schüttelten den Kopf. »Wir sollen auf den Kommissar warten«, sagte Sandra, »er will uns befragen.« Nach einer Stunde im trüben Aufenthaltsraum, zwischen Kickerapparat, Tischtennisplatte, dem von uns schon längst leergetrunkenen Getränkeautomaten und dem kaputten Fitneßgerät, das Enderwitz magisch angezogen hatte, waren wir mürbe, leer, angefüllt mit einem wolkigen Schuldgefühl, ganz gleich, ob wir etwas auf dem Kerbholz hatten oder nicht.

Es war schlau von der Polizei, uns warten zu lassen, und noch schlauer, daß sie uns eine Frau schickten. Irgendwie kam sie uns vor wie ein Ersatz für Frau Enderwitz. Wir hatten sofort Vertrauen, und das war ja wohl auch der Sinn der Aktion. Gleichzeitig fühlten wir uns wie Kinder. Dagegen vorher, als die Polizisten kamen, hatten wir uns ganz erwachsen gefühlt.

Die Kommissarin hatte viele Fragen. Wie wir die letzten Tage verbracht hatten. Was für Ausflüge hatten wir gemacht? Ob wir immer alle zusammengeblieben waren. Ob Frau Enderwitz auch mal allein weggegangen war – »schon«, sagte Rebecca, »abends eigentlich immer, aber nie, ohne uns zu fragen, ob jemand von uns mitwollte.« »Sie hatte nichts zu verbergen«, sagte Cora, und ein paarmal waren sie ja auch mitgegangen. Wohin? »Immer an die See«, sagte Rebecca, »und dann rechts rauf oder links runter.« »Genaugenommen, immer links runter«, sagte Cora. Das stimmte, gab Rebecca zu, aber nur, weil es rechts nach Kołobrzeg ging, und nach Kołobrzeg waren wir gleich am ersten Tag alle zusammen gegangen.« »Wie weit?« fragte die Kommissarin. »Gott im Himmel«, sagte Rebecca, »es war finster, am Strand war alles weit und alles nah.« »Aber nie ganz weit«, sagte Cora, »irgendwann sagte sie immer: So allmählich sollten wir umdrehen. Was meint ihr, noch bis zur Tonne?« Ein bißchen unheimlich war ihnen schon gewesen, und sie waren ganz gern wieder umgedreht. Unterwegs hatten sie alles mögliche geredet.

Wer hatte den Plan zu dieser Reise gehabt? Dumme Frage: Wir natürlich. Und wer hatte das Ziel vorgeschlagen? Wir waren stolz darauf, daß wir alles allein gemacht hatten: Prospekte wälzen, Internetangebote studieren usw. Preise vergleichen. Frau Enderwitz hatte sich nicht eingemischt? »Na ja«, sagte Rosalie. Als wir uns nicht entscheiden konnten, hatte Frau Enderwitz Kołobrzeg vorgeschlagen und auch gleich ein besonders günstiges Angebot mitgebracht. Eigentlich komisch, wo wir doch der felsenfesten Überzeugung waren, daß wir alles allein gemacht hatten, und so meckerte auch keiner von uns, als alles nur so so war; nicht gerade der volle Luxus, um es mal vorsichtig auszudrücken. Frau Enderwitz erzählte jeden Morgen, daß sie nachts mehr anhatte als am Tag, weil es so kalt war, und Ulf, sagte sie, mit seiner Bronchitis, röchelte, daß sie es durch die dünnen Wände hörte.

»Ich muß euch etwas zeigen«, sagte die Kommissarin und kramte ein Foto aus der Innentasche ihrer Jacke. »Nein!« wollte ich rufen, »ich will es nicht sehen!« In dem Moment war ich sicher, daß Frau Enderwitz tot war. Ich wollte sie nicht tot sehen.

»Keine Angst«, sagte die Kommissarin, »es ist nur ein Paßbild. Habt ihr diesen Mann schon einmal gesehen?« Sie zeigte uns ein vergrößertes Foto. »Ist er aus Kołobrzeg?« fragte ich. »Ja«, sagte die Kommissarin, »direkt aus Grzybowo.« »Wir kennen hier keinen Menschen«, sagte Emil. »Hier gibt’s nur Schäferhunde«, sagte Chris spitz. »Hier gibt’s überhaupt nichts«, sagte Tati. Es war, als könnten wir den Mann auf diese Weise wieder loswerden. Wenn in Grzybowo niemand war, dann auch der Mann nicht. Aber das Foto war da. »Ich hab ihn schon mal gesehen«, sagte Jule leise, »und Esther auch.« Wir sahen sie verwundert an. »Hier in Grzybowo?« fragte die Kommissarin. »Nein«, sagte Jule noch leiser, »vor der Schule.« Einmal, sagte sie, und dann noch einmal. An ein und demselben Tag. Sie erinnerte sich genau, und Esther nickte: die grauen Haare, der Pferdeschwanz, die Augen wie ein Spalt. »Und ein seltsamer Gang«, erinnerte sich Esther. »Wie ein Außerirdischer?« fragte Sergej; ich tippte mir an die Stirn, es war wahrhaftig keine Zeit zu scherzen, aber Sergej mußte wohl Streß abbauen. »Ja«, sagte Esther, »beinahe wie ein Außerirdischer.« Schon beim ersten Mal, frühmorgens, hatte es vor der Schule eine böse Auseinandersetzung gegeben, hastig und in unterdrücktem Ton geführt. Sie, Jule, hatte das Ende nicht mehr abgewartet, aber sie hatte es voll schlimm gefunden; es, das war die ganze Atmosphäre; die Bitterkeit im unterdrückten Ton, der Haß, die absolut widerwärtige Gewißheit, daß das alles echt war, keine Geschichte, kein Anlaß für »Analysieren und Interpretieren«. Mittags hatte der Mann dann wieder dagestanden, sie hatte ihn gesehen, als sie auf Simone und Sarah wartete. Auch Enderwitz war herausgekommen, und als sie den Mann sah, machte sie Miene, wieder umzukehren. Einfach zurück in die Schule! Aber in dem Moment waren Simone und Sarah und mit ihnen noch Ferda und Vanessa herausgekommen, schreiend und lachend noch Paula, Lucie und Sophie, und da hatte Frau Enderwitz sich umentschlossen. »Da sind sie ja, Jule!« hatte sie ihr zugerufen und sie beim Arm genommen und zu den andern gezogen. Sie stürzte sich förmlich in die Gruppe«, erinnerte sich Jule, »hakte sich rechts und links unter und dabei redete sie irgendwas, erzählte uns etwas Lustiges, ich weiß aber nicht mehr, was.« Aber daß sie, Jule, einen Blick in das Gesicht des Mannes geworfen hatte, als sie an ihm vorbeigingen, das wußte sie noch; Frau Enderwitz hatte überall hingeguckt, bloß nicht zu ihm. Hinterher wünschte Jule, sie hätte nicht hingesehen. Was war an diesem Gesicht Besonderes gewesen? Der Ausdruck von Ohnmacht und Wut, meinte sie leise. Zwar, in dem Moment hatte sie sich prima gefühlt. Sie beschützten ihre Lehrerin. Gegen sie hatte der Mann keine Chance. Und überhaupt: er gehörte nicht zur Schule, er gehörte überhaupt nicht zu ihnen. Aber hinterher hatte sie sich mies gefühlt. Nur schnell vergessen, hatte sie sich gesagt. Aber spätestens heute sah sie alles wieder vor sich.

»Was ist mit dem Mann?« fragte sie. »Er ist tot«, sagte die Kommissarin. Spaziergänger hatten ihn heute morgen am Strand gefunden. »Bei der Tonne«, sagte Wanja sachlich, so als wüßten wir alle, was er meinte. Die Kommissarin nickte. »Und eure Lehrerin ist verschwunden«, sagte sie bedächtig. »Ihr wißt, was das heißt.« Wir verzogen keine Miene. Aber wir verstanden, was sie meinte. Gott sei Dank hatte sie Ulf nicht im Blick. Er war einfach zu groß für sie. Auf seinem kranken Gesicht malte sich das Entsetzen.

»Ich bleibe nicht mehr einen Tag hier«, sagte Cansu entschlossen, und das war der erste vernünftige Satz, den ich hörte, seitdem ich zum Frühstück gekommen war, verschlafen, verschwiemelt und mit nassen Haaren, den Kopf voller überflüssiger Sorgen. »Gut geschlafen?« hatte Antonio heuchlerisch gefragt. »Sehr witzig«, hatte ich wütend gesagt, »vielleicht könnt ihr, Lucas und du, auch mal eine Nacht nicht auf der Gitarre klimpern. Und vielleicht fragst du mich dann mal, wie ich geschlafen habe.«

»Müssen wir bleiben?« fragte Anna zweifelnd. »Der Bus holt uns morgen wieder ab«, sagte Ulf, halb zu uns, halb zur Kommissarin gewendet. »Vielleicht ist sie dann ja wieder da«, sagte Anna leise, aber ich hörte es doch und vergaß wahrhaftig, mich über diese blödsinnige Bemerkung lustig zu machen.

»Ihr müßt nicht bleiben«, sagte die Kommissarin, »und ihr sollt auch nicht bleiben.« »Ich rufe das Busunternehmen an«, sagte Ulf, vielleicht könnten sie heute noch jemand schicken.

Wir wollten nur packen.

»Und wenn es erst morgen geht?« fragte Andreas. »Dann setze ich mich bis morgen auf den Koffer«, sagte Marlon. »Ich auch«, sagte Rosalie, und Samra-Muna nickte entschieden. Und das hätten wir alle getan, aber Gott sei Dank kam Ulf mit dem Bescheid, nachmittags würden wir abgeholt. Irgendwie, sagte ich mir, hatten wir doch recht gehabt, als wir letzte Nacht so getan hatten, als wäre es die letzte.

Lange vor dem Termin warteten wir bereits auf den Bus, standen vor der merkwürdigen Pension herum und froren, hofften, der nette kleine Fahrer von der Hinreise würde uns wieder abholen. Er fuhr Kinder und Jugendliche lieber als alte Leute, sagte er. Wenn es sich um Kindergruppen handelte, erzählte er, steckte auf dem Plan hinter der Karte immer ein optimistisches Fähnchen.

Hoffentlich holte er uns wieder ab; wir hatten Bedarf an vertrauten Gesichtern; Ulf, glaube ich, auch.

»Wie sollen wir es bloß George sagen?« sagte Mandy. Vorgestern hatte er noch angerufen, und wir hatten gesagt, alles okay. Er verpaßte nichts, aber es war alles okay.

»Ich drücke ihr die Daumen«, sagte Cansu hart.

Wir drückten ihr alle die Daumen; gleichzeitig fühlten wir uns entsetzlich betrogen und wie mißbraucht.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt24.html.

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