Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich den Freunden meinen Traum von der Hölle erzählte

Ich bestellte Cortado, den doppelten Espresso im winzigen Glas, zwei Stockwerke Kaffee, verschiedenfarbig, darüber die Haube aus Milchschaum. Wenn man Zucker hineingab, brodelte es von der dunkelsten Schicht hinauf. Ich nahm den Rohzucker, den Rohrzucker, den Bio-Bio-Zucker, einen gehäuften Löffel voll auf die winzige Menge, und in dem Gerumpel, das vom Grunde des Glases aufstieg, und in den Perlen, die von der Eruption nach oben geschleudert wurden, erkannte ich Botschaften, sagen wir bescheidener: Lesarten.

Während ich auf meinen Cortado wartete, denn die Dinger brauchten ihre Zeit, trat ich von der hohen Theke zurück und ließ den Blick durch den Raum wandern, die schon gewohnten Pfade entlang: über das dunkle Regal mit dem dichten Flaschenbesatz zur Tafel hinüber, auf der die Getränke und ihre Preise verzeichnet waren. Sie wurden um so beweglicher, je häufiger ich sie studierte, so daß ich, abgesehen von den regelmäßigen Fällen, wo ich Cappuccino oder Latte Macchiato nahm, nicht ein einziges Mal mehr den korrekten Preis entrichtete und für die Schokolade wie für den Tee bezahlen wollte. Seltsamerweise und obwohl die Preise scharf genug kalkuliert waren, irrte ich mich dabei stets zu meinen Gunsten.

Von den Preisen, die all meinen Anstrengungen, sie zu behalten, widerstanden und der festen, schwarzen Beschaffenheit der Tafel zum Trotz immer bildhafter, zarter, unwirklicher wurden, glitt mein Blick an den Kaffeesilos und der massiven Kaffeemaschine vorbei, hinter der der Patron sich ein paar erholsame Augenblicke lang zu verstecken und eine kleine Auszeit zu nehmen pflegte, wenn die Adlati gar zu zudringlich wurden, die habitués, kurz die Verehrer. Unwillkürlich bemühte ich mich um eine feste Haltung, um dem dunkelgrauen Anstrich der hinteren Wand gewachsen zu sein. Der ockerfarbene der übrigen Wände wurde vom gelben Licht der schmalen ampoules und des Kronleuchters nicht aus-, vielmehr so angeleuchtet, daß der Weg in die Unendlichkeit nicht gleich wieder versperrt wurde. Unter strikter Vermeidung der Gäste, jener, die um die spätnachmittägliche Stunde vor allem den hinteren Tisch besetzten, wie auch des Rests, der sich in den waagrecht gezogenen Spiegeln abbildete, darunter meine Person, überschaute ich noch einmal den Raum. Dabei nahm meine Vertrautheit ab und meine Fassungslosigkeit zu, und so rettete ich mich schließlich, haltsuchend und um der endgültigen Fragmentierung zu entgehen, zum Stuckkranz hinauf, der ein höchst unspektakuläres Band war, so unauffällig wie im Grunde alles hier, schien doch jede lästige Besonderheit weggearbeitet, alles, was herausstach, die Augen belästigen und das Gemüt peinigen konnte, und nur die zurückhaltende Voraussetzung eines Raum-für-etwas übriggelassen worden, vielleicht eines Salons. Das war wohlüberlegt. Denn wer sich hier einfand, kam ja weder, um etwas zu besichtigen, noch sich besichtigen zu lassen, sondern um zu leben. Und wenn er auch, ohne es zuzugeben, aber auch ohne es zu verheimlichen, ein Zuhause suchte, so doch nicht sein eigenes, das er unruhig und voll einer undefinierbaren Sehnsucht, gewissermaßen in Eile verlassen hatte und das ihn, mit dem bekannten Ernüchterungseffekt, wieder aufnehmen würde, vielmehr ein höheres, wie es dem einen oder andern von uns vielleicht noch in der Sonntagspredigt versprochen worden war, sagen wir es rundheraus: eine himmlische Wohnstatt.

Stets war ich aufs neue ernüchtert von Ibrahims Stuck, der weder mit den abgründigen Muscheln aus den Schlafräumen der Gründerzeit noch mit dem zarten Geflecht ihrer Prachtzimmer aufwarten konnte, sondern nichts als ein gebänderter Rand war und wenn mit irgend etwas, dann mit der zweckmäßigen Nüchternheit des Ladenslokals, in Wahrheit also gar nicht kokettierte. Von ihm kehrte mein Blick zum Tresen zurück, stürzte, da er eben nicht aus dem bestirnten Himmel einer barocken Kathedrale, sondern bloß von der sauber abgesetzten Decke eines Ladens fiel, nicht blindlings, vielmehr mit fast schon geschäftsmäßiger Routine auf das einzig gefährliche Möbel in diesem Raum, den als edler Klotz gestalteten und als tödliches Wurfgeschoß verwendbaren schweren Zuckerbehälter hinunter, den Tesch gefertigt hatte und den Ibrahim jetzt neben meinen Cortado schob.

Bitte, bitte, Ibrahim, sagte ich, gib mir einen Brandy dazu.

Was hast du vor, fragte er lachend. Willst du den Kerlen dort die Leviten lesen?

Unter dem hohen Himmel waren sie seltsam klein, auch die großen, und mir fiel der Traum der vergangenen Nacht ein, den ich den Traum der schmächtigen Teufel genannt hatte. Ich hatte ihn zugegebenermaßen nicht ganz ohne Fremdeinwirkung geträumt. Kaum war ich erwacht, da überlegte ich bereits, ob ich ihn Ibrahims Mannen erzählen, nicht etwa wie früher, ob ich ihn aufschreiben sollte.

Ich hatte mich umgesehen, in meinem Traum, und festgestellt, ich war in der Hölle gelandet. Ich war hereinspaziert. So mußte es gewesen sein, ich war ja da. Ich hatte Platz genommen, denn ich saß und hatte meiner Gewohnheit entsprechend allerlei ausgebreitet, etwas zum Arbeiten, etwas zum Lesen, ein Käsebrötchen und so fort. So provisorisch ich zu Hause lebte, immer auf dem Sprung, so hatte ich, wenn ich ausging, doch gern alles Wichtige bei mir.

Als ich aufschaute, wußte ich sofort: Ich war in der Hölle gelandet. War hereinspaziert und hatte mich gesetzt. Hatte mich hingesetzt und mich gleich zu Hause gefühlt.

Um mich herum nichts als Hölle. Ich mitten darin. Wie Michel in der Suppenschüssel, dachte ich in einem Anflug von Heiterkeit. Aber weder die Szenerie noch meine Situation noch mein Gefühl rechtfertigten den Humor.

Wo das Ende war, ahnte oder sah ich, aber höchstens so, wie die Nördlinger das Ries sehen; sie wissen, daß es da ist, aber sie sehen es nicht, oder sie sehen es, ohne zu wissen, was es ist (kurz, ich müßte noch einmal hinfahren). Um mich herum ging es steil hinan beziehungsweise hinauf. Hinaus ging es eigentlich nicht. Dafür sprachen nicht zuletzt die zahlreichen Anwesenden, die sicher vor mir gegangen wären, sofern es denn einen Ausgang gegeben hätte. An ihrer Antriebslosigkeit konnte ich ablesen, ob der Versuch lohnte.

Um mich in weitem Rund, in der Tiefe der Suppenschüssel, alles andere als zudringlich, saßen die Teufel, schwammen wie Seerosen im Teich. Der schmächtigste von allen: der Oberteufel. Er hatte die Beinchen im Lotussitz gekreuzt, lachte gutmütig und gestikulierte. Mit seinem Lachen zog er die andern in Bann. Wenn er schwieg, wiegte er sich auf seinem Lotusblatt im Rhythmus der nicht gesprochenen Worte, schaukelte hin und her, wippte wie ein Kind, er, der Knochenlose, der übrigens nicht nur die Stimme, sondern auch die Fäuste heben sowie eine kräftige Hand ausstrecken konnte, wenn es darum ging, jemanden ins Boot zurückzuhieven, der etwa aus der Hölle kippen wollte. Er half ihm mit einem Lachen. Stemmte die überraschend muskulösen Beinchen gegen die Wände der Lotusblume und zog, und der Verlorene fühlte sich – gerettet.

Auch einen bad guy gab es in der Hölle, einen mauvais garçon. Dunkel von Antlitz, vom Feuer gegerbt, von der Asche eingefärbt, mit tiefen Narben im wenig gegliederten Gesicht, war er häßlich wie nur irgendein Ureinwohner der Hölle. Er war schlecht für die Erdbewohner, aber nicht weil er an sich schlecht gewesen wäre. Auch er hatte nämlich seinen Charme. Man konnte ihm nichts anhaben. Vertreter einer Unterwelt, die sich für die Welt über ihr nicht interessierte, beneidete er einen um nichts, man konnte ihm überhaupt nicht imponieren. Er wollte nichts, aber auch nichts abgeben. Hölle war für ihn, wo man niemanden hineinließ, der nicht auf jeglichen Bezug verzichtet hatte. Als einziger von denen, die mir bekannt vorkamen, war er nicht durch die Tür, sondern sagen wir von hinten, aus den Kulissen getreten.

Ich sagte mir, dem darfst du nicht in die Quere kommen. Der ist gefährlich.

Sein Platz war hinten, wo man sich die Beleuchtung gespart hatte und das Dunkel in platte Finsternis überging. Vorn konnte man ihn glatt vergessen. Dort herrschte ich will nicht sagen eitel Sonnenschein, aber eine niveauvolle Unterhaltung wurde gepflegt und mit Wortspielen improvisiert. Die gute Laune der Wohlmeinenden regierte, die Fröhlichkeit der Gutmütigen, eine Fröhlichkeit, die man aus dem Leben herübergerettet hatte und die nun im Gegenlicht funkelte. Plötzlich war er da. Nicht durch die Tür gekommen, die ein Spaßvogel mitgebracht und ins Nichts gehängt hatte mit dem Schildchen fermé nach außen, ouvert nach innen. Lautlos trat er aus dem Hintergrund, wandelte zwischen den Blüten, halb Gastgeber, halb Zuchtmeister. Und während ich zu frieren begann, als hätte die Morra der Erde einen ihrer frostigen Besuche abgestattet, bemächtigte sich meiner schmächtigen Teufel eine seltsame Lebendigkeit, eine seltsame Fiebrigkeit, eine seltsame Hitze. Bis zu diesem Augenblick hatte es ihnen an nichts gefehlt, auf einmal wirkten sie ausgepowert, in hohem Maße bedürftig. Unverwandt blickten sie auf den Autochthonen.

Was hatte er ihnen anzubieten? Was konnte er ihnen geben? Seine Hände baumelten teilnahmslos neben den ausgebeulten Jackentaschen, die am unteren Rand eingerissen waren. Schätze transportieren, wenn sie es denn jemals getan hatten, konnten sie gewiß nicht mehr. Der fest geschlossene Mund in dem wie eine Leinwand grundierten Gesicht verhieß nichts Gutes. Aber die glimmernden Augen waren voller Versprechen.

Sandmanns, meines lieben Kumpels, wehrloser Blick hing an diesen Augen, und ich dachte, ohne das stumpfe Gesicht, den zu allem entschlossenen Mund wären sie nicht der Rede wert gewesen. Wo hatte ich nicht überall schon glimmernde Augen gesehen!

Geängstigt wandte ich mich ab, blickte in die Runde, haltsuchend beim Ganzen. In die Hölle war die Dunkelheit eingefallen, so kam es mir vor. Hübsch plaziert wie an Spieltischen, nur daß sie mit dem mal mehr, mal weniger zierlichen Hintern wie auf die Tischpatte gerutscht waren und auf diese sonderbare Weise auf dem glatten Höllenboden sicher herumschwammen wie Sonntagsausflügler auf den fliegenden Untertassen irgendeines lustigen Karussells, so schwammen meine Freunde im abgedunkelten Raum, vollzählig, zufrieden, murmelnd wie das Konzertpublikum vor dem ersten Ton, nur manchmal hörbar seufzend, oder kam das von mir? Vorsichtig sah ich zum Tisch des Oberteufels hinüber, von wo Fetzen einer normalen Unterhaltung herüberdrangen, Gelächter wie aus dem aufgeschlagenen Buch des Lebens. Er hatte die Beine wie in den behaglichsten Momenten unserer Bekanntschaft unter den mageren Hintern gezogen und gestikulierte, einer indischen Gottheit gleich, mit den Armen. Hatte er deren mehr als unsereiner? Neben ihm, hoch aufgeschossen, von der eigenen Größe, vielleicht auch vom Gewicht der unsichtbaren Flügel gebeugt, l’ange ivre, der gefallene Engel. Nie hätten sie einander im Stich gelassen, der Oberteufel und er, auch wenn sie gottlos übereinander herziehen konnten.

Übergangslos beschloß ich, meinen Freunden »L’ange ivre« zu erzählen, den Film, den ich bei meinem letzten Besuch in Paris gesehen hatte.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.

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