Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich meinen Freunden den Platonismus erklärte

Da draußen, der Baum, begann ich, aber seinetwegen wären sie nicht ums Verrecken auch nur einen Schritt näher an das kleine Schaufenster getreten, vor dem die Miniaturausgabe einer Bougainvillea dem spärlichen Licht die zierlichen Blätter entgegenstreckte, an dürren Ärmchen, und der Baum war auch nicht mehr das, was er vor ein paar Tagen oder Wochen noch gewesen war. Der Wind hatte an ihm gezaust und der Regen die Blätter geerntet. Er sah mir jetzt ähnlich, fand ich, aber ich hätte das Laub gebraucht, um meinen Freunden die Sache mit dem Platonismus zu erklären. Ibrahim, sagte ich, bitte, hast du ein Papier für mich. Er riß das oberste Blatt von seinem Block und reichte den auf altmodische Art mit dem Messer angespitzten Bleistift gleich mit herüber, denn nach dem hätte ich ihn als nächstes gefragt.

Zehn mal zehn Zentimeter, das mußte für die Welt reichen.

Sogar, fing ich an, wenn sie nach allgemeiner Ansicht durchs Jenseits verdoppelt wird, sagte ich und zog einen Strich. Denn das Doppeln ist in Wirklichkeit ein Halbieren dessen, was durch die Religion verdoppelt wird; nun existiert es, auf demselben Raum, zweifach, für einen wahrhaft säkularen Geist also immer noch in alter Größe und – Schönheit.

Ja, sagte ich in die skeptischen Gesichter hinein, auch der Glaube kann Spaß machen.

Aber so optimistisch kann man die Sachlage natürlich nur betrachten, wenn man im Jenseits das Diesseits wiedererkennt. Erkennt man es nicht, dann wird man als gläubiger Mensch sagen: Mein Leben hat sich verdoppelt, als nichtgläubiger Mensch aber: Es hat sich halbiert. Für die wirklichen Verhältnisse, daß es sich weder verdoppelt noch halbiert hat, durch einen bestimmten Gesichtswinkel lediglich in zwei Teile zerlegt worden ist, findet sich in der normalen Welt kein Ansprechpartner. Erst der Anthropologe oder Ethnologe, der so gewitzt ist, daß er auf die eigene Welt wie auf eine fremde zu blicken vermag, erkennt die ursprüngliche Einheit in der antagonistischen Zweiheit.

Wie auch immer, sagte ich verlegen, jedenfalls wird für die Kreation des Jenseits kein zusätzlicher Platz benötigt, und wenn mein Papier für die einfache Welt reicht, dann reicht es auch für die gedoppelte.

Ich brauche also nicht zu sagen, sagte ich und probierte einen künstlichen, hohen Ton: Ach, Ibrahim, gib mir noch ein Blatt, ich will das Jenseits dazumalen!

Woher sollte es auch kommen? Das Vorhandene kann keinen Brückenkopf ins Nichts bauen. Es kann sich sublimieren. Aber selbst wenn ein Gramm Materie sich in hundert Gramm Geist oder Kunst verwandelte, so ist dieses eine Gramm doch immer noch die Entsprechung der anderen hundert. Ein Mehr wäre es nur, wenn ein Gramm Materie sich in hundert Gramm der gleichen Materie verwandelte, wenn also keinem anderen Stoff, durch Verwandlung, etwas abgezwackt würde. Aber wie soll man das angesichts Vielzahl der unsichtbaren, der unendlichen Zahl der unbekannten Stoffe schon beweisen.

Ich holte tief Luft.

Das Werden hat auf das Nichts keinen anderen Zugriff als das Sein, also keinen. Es kann seine Vorstöße im Grunde nur gegen sich selbst richten. Sich vergrößern heißt für das Vorhandene, sich verkleinern – was keinen Verlust bedeutet, nur, ein Teil des Diesseits wird als Jenseits verwendet. Freilich, um im Jenseits das Diesseits zu erkennen, muß ich nachdenken. Um in dem, was ich dem Vorhandenen weggenommen und einer neuen Verwendung zugeführt habe, eben dies Vorhandene zu erkennen, muß ich nachdenken. Um zu erkennen, daß das Weniger immer noch die gleiche Menge ist, nur in sich geteilt, dazu muß ich nachdenken. Um im Gedoppelten die auf einer Halbierung beruhende Erhaltung der alten Menge zu erkennen, muß ich nachdenken. Oder um hinter der komplizierten Gleichung die alte, ungeteilte Menge zu erkennen, muß ich nachdenken. Ich muß selbst komplizierte Gleichungen aufstellen, aber sie müssen auf Eins aufgehen. Immer muß es nach der Auflösung heißen: x = 1.

Oder, ergänzte ich verdutzt, ich darf überhaupt nicht denken.

Ich sann dem letzten Satz nach. Er war mehr über mich gekommen, als daß ich ihn gesagt hätte. Er war wie ein Satz über mich. Kaum hatte ich ihn ausgesprochen, schon verstand ich ihn nicht mehr.

Je mehr sich das materiell Vorhandene verringert, sagte ich lahm, desto mehr wächst das geistig Vorhandene. Nur scheinbar beansprucht das Geistige weniger Platz als das Materielle, besteht es aus Software, nicht Hardware, kann man es komprimieren oder verrücken, ihr wißt schon, nach oben, ist dem Übereinander doch keine Grenze gesetzt, weil kein Darunter benötigt wird, und so weiter. Ebensowenig quillt der Geist über den Tellerrand der Materie. Was für die Welt gilt, in dem Sinn, daß sie eins ist, gilt für ihn nicht weniger als für sie. Denn die Grenzen des Vorhandenen werden durch das Vorhandene gezogen, und wenn für das Geistige andere Regeln gelten in dem Sinn, daß es über ein Vermehrungspotential verfügt, das freilich mit dem eisernen Gesetz des Eins abgeglichen werden muß, dann kann sich nur das Verhältnis ändern. Das heißt, innerhalb der Grenzen des Vorhandenen kann das Materielle ab- und das Geistige zunehmen. Aber mehr ist dazu nicht zu sagen.

Höchstens, daß man auf die Rolle des Denkens zurückkommen könnte, sagte ich. Je reicher, vielfältiger, geistiger die Welt sich nämlich darbietet, desto sturer muß auf ihre Grenzen gepocht werden. Die Grenze ist das Vorhandene, nicht umgekehrt das Jenseits die Grenze des Diesseits oder der Geist die Grenze der Materie. Das Vorhandene wird nicht durch das Jenseits transzendiert, sondern umgekehrt, das Jenseits wird durch das Vorhandene transzendiert, auch der Geist kann nicht mehr sein als eben vorhanden.

Und jetzt erklär uns einer, warum, sagte der Schwabe.


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