Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich meinen Freunden die strenge Philosophie erklärte

Ich erklärte ihnen, daß für die Philosophie alles gilt, was über die Liebe gesagt wird: daß sie nicht rechnet und nicht rechtet und daß ihr Interesse ausschließlich dem gewidmet ist, was ist, so wie die Liebe ausschließlich sich selbst gewidmet ist, so als wäre nichts außer ihr existent.

Und das war auch ganz richtig so, setzte ich atemlos fort, denn wenn die Liebe sich nicht sich selbst widmete, dann war sie nicht, und je mehr sie sich also sich selbst widmete, um so mehr war sie, aber um so verzweifelter war deshalb ihre Lage, und nur wenn sie nicht war, war sie überhaupt zu ertragen.

Soviel zur strengen Philosophie, sagte der Schwabe und lachte. Wir waren beim Wein, Ibrahim ließ die Kaffeemaschine zischen, und meine existentialistischen Bekenntnisse wurden vom Fauchen des Wasserdampfes begleitet, der die Düsen reinigte, während die Spülmaschine sich die letzten Tassen zur Brust nahm, vermutlich unsere. Sie rollte wie die Brandung an steiler Klippe, und der Spülvorgang, vielleicht der zehnte an diesem Tag, bildete zu meiner Rede die Begleitung.

Ich warf einen scheuen Blick in die vom gelben Licht weich gezeichneten Gesichter. Entstehen hier eigentlich nie Tatsachen? fragte ich mich.

Ich redete mich um Kopf und Kragen.

Bei aller Strenge, sagte ich, hat die Philosophie nie sich selbst im Auge.

Selbst als Erkenntnistheorie, behauptete ich kühn, hatte sie nicht sich selbst im Auge.

Man könnte sagen, sagte ich, daß sie nicht sich, vielmehr bloß ihre Strenge im Auge hat.

Ihre Strenge, sagte ich, ist ihr Verlangen nach dem, was ist. Die Wirklichkeit ist die Leerstelle innerhalb der Philosophie, und insofern die Philosophie tatsächlich streng verfährt, konkretisiert sich das Bewußtsein ihrer Leerstelle.

Wenn auch nicht anzunehmen ist, setzte ich hinzu, daß sich damit die Wirklichkeit konkretisiert, und obwohl ich bei Gott nicht meine, daß die Wirklichkeit die Domäne der Philosophen ist. Der Bezugspunkt, ja, aber nicht die Domäne. Da wären wir ja schön angeschmiert!

Hase, wie er in liebevoller Anspielung auf seine Zahnstellung genannt wurde, lachte herzlich über meine Ehrlichkeit. Er war zu Recht davon überzeugt, daß niemand die Wirklichkeit so konkret erlebte wie er, und er wußte auch, daß er kein Philosoph war. Wie konnte die Philosophie also etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben? Dabei wollte er den Philosophen nicht zu nahe treten. Warum auch?

Da die Spülmaschine zum Abpumpen überging und das Rauschen der Brandung für einen Moment meine Ohren versiegelte, glaubte ich, ich könnte alles aussprechen, weil es sowieso niemand hörte, und brachte meinen Gedanken auf den Punkt.

Der Ausdruck »strenge Philosophie« besagt also, daß es innerhalb der Philosophie einen Weg zur Wirklichkeit gibt. Man kann ihn beschreiten, indem man streng im Sinne der Philosophie handelt. Streng im Sinne der Philosophie heißt mit der Strenge der Philosophie gegen sie selbst. Die Aufgabe lautet, für die Analyse, also das, was die Philosophie kann, den richtigen Gegenstand finden, sie selbst. Für das, was sie will, den richtigen Bezugspunkt kennen, die Wirklichkeit. Kennen heißt soviel wie konsequent suchen. Das ist das eigentlich Philosophische daran.

Ich blickte zu Hase hinüber, denn natürlich wollte ich ihm nicht seine Philosophie bestreiten.

Ich weiß, sagte ich, daß unter »streng im Sinne der Philosophie« in der Regel verstanden wird: logisch. Logisch heißt: abgesehen von der Wirklichkeit. Es heißt: Schuster bleib bei deinen Leisten, Philosoph, bleib bei der Philosophie. Es heißt auch: Bleib in der Universität. Ich gebe zu, auch das ist eine Art Strenge gegen sich selbst, die, wenn sie ernsthaft praktiziert wird, schließlich bei der Tautologie landet, so als wären das Minimalprogramm, a = a, und die Identität ein und dasselbe. Ich denke dagegen, daß Strenge, richtig aufgefaßt, einen unerbittlich an die Grenzen führt. Manchmal stelle ich mir diese Grenzen im Sinne einer äußeren Auflösung, öfter noch als eine dadurch bewirkte innere Zersetzung vor. Jedenfalls bleibt am Ende nichts von der Philosophie übrig.

Und nichts, was nicht Philosophie würde, setzte ich feierlich hinzu.

Darüber muß ich nachdenken, sagte Sandmann, der mit mir zusammen Mythologie und Geschichtsphilosophie, Hermeneutik und Psychoanalyse studiert hatte, also alles, was einen Sinn ergibt und den Forschenden innerlich reich macht. Er sagte es freilich mit einem Stimmchen, als würde er »Achtung!« rufen oder »Vorsicht!«, beinahe hätte ich gedacht: »Hilfe!« Er spürte, daß ich mich aufregte, und schon war er nicht mehr einverstanden, weigerte sich zu folgen. Philosophie war gelassen, oder sie wurde mißbraucht. Im Namen der Wahrheit, wie nicht anders zu erwarten, in Wirklichkeit unter dem Kommando des Affekts. Philosophie, die ihren Namen verdiente, verzichtete notfalls auf die Wahrheit, wenn anders der Affekt nicht zu vermeiden war. Im übrigen hatte er das alles bei unserem gemeinsamen Lehrer gelernt, das hieß, ich hätte es auch wissen müssen, vor allem beherzigen. Ich muß nachdenken, sagte er deshalb. Womöglich hatte ich ja recht. Aber das Ganze nicht zu entstellen, darauf kam es an. Nicht den Geist des Systems, den traute er mir ohne weiteres zu, sondern den Sinn der Philosophie. Es zwang einen ja niemand zu philosophieren, aber wenn man philosophierte, dann um des Sinns der Philosophie willen, nenne ihn Freiheit oder Sinn oder Glück oder eben Geist. Wenn ich die Philosophie abschaffen wollte, na gut, aber wenn ich das Glück abschaffen wollte: mit ihm nicht. Und mit mir, wenn ich denn beim selben Lehrer gelernt hatte wie er, im Grunde auch nicht. Kurz, er mußte nachdenken.

Sandmann war davon überzeugt, daß die Philosophie die Gesellschaft und die Liebe den Menschen verbessert. Daß die Gesellschaft viel mehr noch als der einzelne auf Liebe als einzige nichtegoistische Empfindung aus war und der einzelne ungleich mehr als die Gesellschaft auf Philosophie als einzige nicht gefräßige Form der Liebe. Er, jedenfalls, dachte nicht daran, ohne eine solche Philosophie oder Liebe zu leben, und er dachte ebensowenig daran, sich den Mund verbieten zu lassen, reden war lieben. Er hielt es auch gar nicht für möglich, auf das eine oder das andere zu verzichten, da mochte ich noch so sehr behaupten, eine Rede, die nicht auf Vereinigung aus war, sondern auf Auflösung, im Zweifelsfall auf Selbstauflösung, täte es auch. Sie sei nicht weniger befriedigend, aber ehrlicher, und mache auf ihre Art ebenso glücklich.

Ach, Ibrahim, wollte ich sagen, kannst du die Spülmaschine nicht noch einmal durchlaufen lassen?

Er wedelte zart mit dem Finger. So nicht, sagte die Geste.

Sandmann war der Stillste von uns, selbst wenn er an einem Stück quasselte. Er vertrat keine Position, dies aber entschieden. Er wurde von allen niedergemacht. Aber am Ende bekam er immer recht.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.

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