Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich meinen Freunden die Sache mit dem Webfehler erklärte

Ich hätte mir dazu Kaffee gewünscht, den besten, den Ibrahim zu bieten hatte, seine berühmte Mischung, deren Anteile er aus den gläsernen Silos, die den Blickfang seines Ladens bildeten, in eine hölzerne Schale träufeln ließ und die einen Kaffee ergaben, der seinen Namen zu erfinden schien: heiß, schwarz, aromatisch, für zarte Gemüter mit einem Löffel braunen Zuckers versetzt. War es Rohzucker oder Rohrzucker? Beides, sagte Ibrahim: roher Rohrzucker. So sieht er auch aus, sagte ich. Er war klebrig und krümelig.

Kaffee wäre gut gewesen. Schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit; denn es war ja nicht so, daß wir uns am Tag nicht unterhalten hätten. Wir redeten ununterbrochen, es sei denn, es wurde beschlossen, dem Café ein anderes Gesicht zu geben, und dann verteilten wir uns stumm auf der Terrasse und schlugen Bücher und Zeitungen auf. Ich hielt mir die Ohren zu und las Proust.

Aber so gut am Vormittag der Auszug klappte, so schlecht klappte er abends. Hättest du nur geredet, Desdemona, als es Zeit war! Aber morgens war ich regelrecht eingetrübt, nach dem Unwort, das meine Tochter aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte, und mit den Tränen war es wie mit der Milch einer gut funktionierenden Brust. Sie hatten keinen Produktionsvorlauf, und sie mußten auch nicht angeregt werden. Sie wurden uno actu hergestellt und verbraucht. Es ist bloß der Kreislauf, sagte ich, wenn mich jemand dabei ertappte, wie ich an meinem Gesicht herumrieb. Wes der Blutdruck niedrig ist, sagte ich, des fließt das Herz über. Niedrigwasser, nannte ich das bei mir und, höchst unwissenschaftlich, flow. Für mich, die ich die See wie meine Westentasche kannte, hieß das: wenig Wasser überall. Hochwasser stellte ich mir dagegen wie einen gut eingezäunten Stausee vor.

Abends war der Kopf klar. Ibrahims Kaffee, über den Tag akkumuliert, ließ seine Wirkung nicht vermissen. Da wir ihn reichlich genossen und da er eine eigene, vielfältige Persönlichkeit hatte, kurz zu jeder Tageszeit anders schmeckte, achteten wir dabei auch nicht auf die Uhrzeit. Aber sobald Ibrahim auf Bestellung irgendeiner Straßenkundschaft die erste Flasche entkorkte, neuerdings auch einen grünlichen Weißen, eiskalt serviert, den wir zum Spaß Petroleum nannten, stellten wir fest, daß wir dringend der Eintrübung bedurften. Nur so getrauten wir uns, etwas Wesentliches zu begreifen, das wir auch gleich mitteilen konnten. Oder wir wollten sichergehen, daß wir es am nächsten Morgen wieder vergessen hatten. Bloß Ibrahim, für den der Abend lediglich der andere Teil des Tages, nicht seine Aufhebung war, merkte sich jedes Wort. Oder sagen wir richtiger, er behielt es.

Wir hatten die existentialistischen Statements hinter uns: daß das Leben kurz und daß es nur eins ist oder daß der am mutigsten ist, der sich am meisten fürchtet, oder der am glücklichsten, der nichts zu verlieren hat. Andere Leute mochten besser dran sein als wir, aber man konnte sich mit ihnen nicht unterhalten; über kurz oder lang brachten sie das Jenseits ins Spiel. Frank, der alte Fuchs, sekundierte mir mühelos oder ich ihm: Ein vielversprechendes Projekt sei es, an einer fremden Tür anzuklopfen und um einen Schluck Wasser zu bitten oder ein Gläschen Tee anzunehmen, das aus Gastfreundschaft gereicht wurde, nicht aus Berechnung. Die Menschen durften fremd, aber die Regeln mußten vertraut oder umgekehrt, die Regeln durften fremd, aber der Mensch mußte vertraut, Würde durfte nicht der Anspruch, sie mußte die Praxis des menschlichen Umgangs sein. Ich kam aus Paris und schwadronierte von der Gegend zwischen Gare du Nord und rue Oberkampf, die schien mir geeignet, was das Anklopfen betraf. Frank fand das ein ausgezeichnetes Vorhaben.

In jener heiklen Phase, wo die ersten auf den Gedanken an Aufbruch, andere dem Schweigen verfielen, wurde die Versuchung in mir übermächtig, meine jüngsten Erkenntnisse über mich selbst mitzuteilen. Das war auch eine Form des Kontrollverlusts, zu glauben, daß ein gemeinsam verbrachter Abend oder auch nur die allgemeine Lebensangst, die uns zusammenschweißte, die Wahrheit ans Licht bringen müßte und daß man nichts riskierte, wenn man sie ohne weitere Prüfung gewissermaßen veröffentlichte.

Mit mir stimmt etwas nicht, sagte ich. Ich habe einen Schaden. Nicht daß mir etwas Schlimmes zugestoßen wäre. Aber alles, woraus ich gearbeitet bin, ist davon gezeichnet.

Hascht eine Persönlichkeitsstörung? fragte der Schwabe interessiert.

Um Gottes willen, nein, sagte ich, aber im Prinzip schon. Die Persönlichkeitsstörung dachte ich mir so: die Persönlichkeit war eben die Störung. Daher dann auch das Paradox der Therapie, würde man den Patienten, indem man ihn heilte, doch um sich selbst bringen. So betrachtet, war ich kein bißchen gestört, schließlich konnte ich den Fehler jederzeit wegdenken. Andererseits war mir das Unabänderliche meiner Störung klar. Sonst wäre ich nämlich gar nicht auf sie gekommen.

Ich wollte mich durchaus nicht beklagen, sagte ich, hatten mich meine Eltern doch mit Liebe gefertigt. Es war auch kein Wunder, daß ich in manchem über sie hinausgewachsen war. Das Gute besaß eben die Fähigkeit, sich zu verbessern. Vielleicht lag es an meiner katholischen Kindheit, daß ich mich wie in Gottes Hut empfand, gewissermaßen im Fokus einer besonderen Aufmerksamkeit. Ich hatte die besten Voraussetzungen mitbekommen, oder waren mein gründlich gebildeter Vater, meine quicklebendige Mutter oder mein leidenschaftlich empfindender Vater, meine kühl kalkulierende Mutter keine vorzüglichen Voraussetzungen? Die Frage stellte sich trotzdem, wie sie sich in mir verbunden hatten. Ich mußte gestehen, gar nicht. Wie ein Sandkuchen war ich auseinandergefallen. Soeben war ich noch eine Form, jetzt schon ein Häufchen. Kaum hatten meine Eltern sich aus der Umarmung entlassen, kaum war ich, wie meine Mutter berichtete, aus ihrem Leib förmlich herausgestürzt, kaum hatte sie mich, das in schwierigsten Zeiten trinkfreudige, fröhliche Kind, von der Brust genommen, da hatte ich mich in meine Voraussetzungen zerlegt, lachte am Tag und weinte in der Nacht. Weiß der Himmel, ob es an der Unvereinbarkeit der elterlichen Temperamente lag, die in der Ehe als Trieb-, in meiner kleinen Person aber als Sprengkraft wirkte. Mein Vater wurde später jedenfalls nicht müde, mich auf das Häßliche meiner Zusammenbrüche hinzuweisen. Ihn störte vor allem der Mangel an Form. Der Anstoß, den er an mir nahm, war ästhetisch motiviert. Siehst du, jetzt bist du ganz klein, sagte er, wenn ich schluchzte.

Ich kenne ja meine Eltern, sagte ich. Sie hatten sich vorgenommen, den hehren Anspruch der Ehe zu verwirklichen, einander alles zu sein. Das hing auch damit zusammen, daß sie die Hochzeit zu lange hinausgeschoben hatten. Vor allem meine Mutter konnte sich von ihrem ungebundenen Leben schlecht verabschieden. Sieben Jahre, berichtete mein Vater stolz, hatte er wie Jakob um seine Rachel gefreit. Kam dazu, daß sie sich für die Ehe aufbewahrt hatten. Aber wie konnte in dem vertrauten Verhältnis die körperliche Liebe noch ihren Platz finden? Wie sollte sie zum Quellpunkt werden, zu dem Ort, aus dem alles quoll?

Glücklicherweise hatte der Krieg die Bedingungen diktiert und die persönlichen Unstimmigkeiten in den Hintergrund gedrängt.

Ich denke, sagte ich, mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch haben sie sich um vieles gebracht. Vielleicht haben sie auch nur die fehlende Erfüllung durch unbedingte Hingabe ersetzt und waren, wenn schon nicht glücklich, so doch treu.

Ibrahim, sagte ich, schenk uns noch einmal nach und laß es mich bitte, bitte bezahlen.

Ibrahim warf mir einen redenden Blick zu. Es ist nur ein Abend wie jeder andere, lautete die Botschaft. Dein Leben steht nicht auf dem Prüfstand. Vergiß nicht, wir unterhalten uns bloß.

Der Schwabe leerte ohne Mühe sein Glas und stand auf.

Gott zum Gruß, sagte er, und wir andern nickten ehrfürchtig.

Als er die Tür hinter sich geschlossen und Ibrahim, um weiterem Besuch vorzubeugen, den Schlüssel herumgedreht hatte, sagte ich, die Augen fest aufs Glas gerichtet:

Ich komme mir wie der im Stich gelassene Trieb meiner Eltern vor. Alle Garantien für sie, der Taumel für mich. Und das ist noch nicht einmal die schlechteste Option, erinnere ich mich doch an den Preis, den meine Eltern für ihre Sicherheit entrichten mußten: meine Mutter erkrankte, mein Vater verstummte. Außerdem bin ich, was man eine gut strukturierte Persönlichkeit nennt, und alles andere als haltlos.

Plötzlich verstimmt, kramte ich Mütze, Schal und Handschuhe aus dem Rucksack, verstaute mein Schreibheft, auch das Päckchen mit dem frischgemahlenen Kaffee darin und tat es dem Schwaben nach.

Ich bezahle morgen, sagte ich. Ibrahim lächelte besorgt.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.

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