Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt eines Intellektuellen
(Porträt der Aufklärung II)

Er weiß noch, wozu er denkt. Er will etwas erreichen. Und er schämt sich nicht dafür. Warum soll er den Verstand nicht nutzen, den ihm Gott gegeben hat. Er ist eben ein vollständiger Mensch, obwohl ihm bewundernde Mitmenschen gelegentlich suggerieren, daß es lediglich die praktischen Absichten sind, die ihn als Mensch ausweisen und die theoretischen – nun ja, als Übermensch. Daß diese haarsträubende Version in seinem Innern einen Widerhall findet, muß damit zu tun haben, daß er in sich selbst eine Spaltung empfindet; denn wiewohl er sich im Grunde nur auf seinen Verstand verlassen kann, auf seine Intelligenz, fühlt er sich eins doch nur mit seinen praktischen Absichten – hier ist er gewissermaßen Nietzscheaner. Oder, umgekehrt, obwohl er sich mit seinen praktischen Absichten völlig eins weiß, ist er doch seltsam gehemmt, und hier liegt womöglich der Entstehungsgrund für seine Intelligenz. Er könnte dem nachgehen, einfach weil jede Dunkelheit seinen Aufklärungstrieb weckt. Andererseits hat er noch nie den Drang verspürt, der eigenen Person nachzuspüren, und es fällt ihm auch wenig dazu ein. Soll er seine Intelligenz dazu benutzen, sich selbst in Frage zu stellen? Was wird dann aus der Intelligenz? Von der Person einmal abgesehen. Der Verstand soll ins Weite führen. Der Weg zu sich aber führt in die Enge. Er führt in die Sackgasse; daß ihm zu sich immer nichts einfällt, ist ein todsicheres Zeichen dafür. Er grenzt sich hier ein bißchen von der Psychoanalyse ab, die Art, wie sie faktisches Scheitern mit persönlicher Bedeutung kombiniert, behagt ihm nicht. Er stützt sich lieber auf seine Stärken. Wenn er zum Beispiel nach einer Zeit der Stagnation den Blick auf ein neues Ziel richtet, auf neue Menschen, ein neues Projekt, eine neue Liebste, dann ist er nicht mehr blockiert.

Immer wenn er etwas Neues in Angriff nimmt, merkt er: Andere mögen eine Biographie haben, er hat ein Projekt! Insgeheim ist er sogar davon überzeugt, daß er das Schicksal anderer Menschen ist; er hat da den einen oder andern im Auge, dem er seine Bestimmung gewiesen, ihn auf den rechten Weg gebracht hat. Sie wiederum können allenfalls Teil seines Projekts sein. Hier gibt es eine Asymmetrie, die weit zurückreicht. Er macht gelegentlich eine Andeutung; sonst käme man nicht darauf. Aber er selbst kommt gegen das Gefühl, daß das alles seinen Sinn, seinen Sinn hat, nicht auf.

Er sieht nicht ein, daß sein Verstand ihn zur Abstinenz gegenüber der Praxis verurteilen soll, zur Askese. Wozu hätte er ihn dann, und soll er sich willkürlich halbieren? Es geht auch nicht an – da ist er schon ein bißchen gereizt –, daß er auf Einmischung, auf tatkräftiges Handeln verzichten soll, nur weil sein Verstand kein Ingenieursverstand und nicht im eigentlichen Sinn auf Praxis bezogen ist (diesbezüglich angelesen hat er sich freilich allerhand, so wie er alles gelesen hat). Er hat eben einen politischen Verstand, und wenn der sich von der Praxis so wenig abhalten läßt, wie wenn es ein Ingenieursverstand wäre, um so besser für die Praxis!

Er ist sich bewußt, daß das reichlich altmodisch klingt, nach griechischer Polis und der kindlichen Frage: »Was ist Aufklärung?« Aber erstens setzt altmodisch ein geschichtliches Bewußtsein voraus, und das stellt – wovon er mit zunehmendem Alter desto fester überzeugt ist – die Grundlage wenn nicht gar für Intelligenz und Wissen, so für Einsicht und beherzte Entschlüsse dar. Und zweitens ist er ja gar nicht der Apologet der Aufklärung; vielmehr aufgeklärt. Kurz, man ist Bürger, aber man macht sich keine Illusionen. Daß nach dem Bürger etwas Besseres kommt.

Was die Illusionen der Aufklärung angeht, da hat er kräftig abgespeckt. Nicht nur ist er durch und durch Realist; von sich selbst her weiß er, daß nur eine ungeordnete Welt erstens lebendig macht und zweitens nach Begriffen verlangt. Nur wenn an der theoretischen Voraussetzung aller Aufklärung herumkritisiert wird, hört der Spaß bei ihm auf, er wird sauer; hinter Subjekt und Verstand zurückzugehen findet er sowohl unmöglich als auch moralisch verwerflich. Es ist das crimen laesae der höchsten Majestät, des Selbst; ab da wird’s zynisch, und zynisch ist er nicht, dann lieber naiv, obwohl ihm manche die gewollte Naivität als Zynismus ankreiden Er selbst, jedenfalls, kann bei bestem Wissen und Gewissen keine andere mögliche Selbstbetätigung erkennen als die Verwendung des Verstands zum Zweck eines vernünftigen Handelns, in Normaldeutsch: für eine Verbesserung der Welt. Reicht zur Rechtfertigung nicht, daß er ein mit Verstand begabtes Subjekt ist? Jegliches sogenannte Hinterfragen führt den Esel im Kreis, und er ist kein Esel, denkt vielmehr grundsätzlich vorwärts (man kann auch sagen, das ist der Unterschied zwischen gehen und denken, auf die Richtung kommt es an). Er beginnt beim nächsten, bei dem, was anliegt, und von da aus denkt er weiter. Ganz selten erlaubt er sich einen Sprung, sieht sich etwas bei den Anarchisten ab oder beruft sich auf Intuition. Bei den Postmodernen dagegen, den erklärten Gegnern des Subjekts, kann er nur unlautere Absichten vermuten. Wie können sie das Subjekt abschaffen und den Verstand behalten wollen! Besser, sie würden den Verstand gleich mit abschaffen, dann wäre beides wieder zusammen und er persönlich fühlte sich nicht so bedrängt.

Er denkt überhaupt sehr stark in der Ichform. Sie gibt seinem Denken nicht nur Energie, sondern auch eine Nähe zur Realität, so als wäre da ein Übersprung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Man kennt das: Die schönste Idee nützt nichts, wenn sich nicht jemand dahinterklemmt. Er denkt auch nicht daran, sich durch den hermeneutischen Zirkel niederdrücken zu lassen. Daß er das Ich geringschätzen soll, nur weil man es nicht umgehen kann, leuchtet ihm nicht ein; im Gegenteil. Was man nicht los wird, daran muß etwas sein. Anders gesagt: Wenn nicht nur die Frage, sondern auch die Antwort ich lautet, dann wird das wohl seinen Grund haben. Widerspruchsfreiheit hat ihren Preis; eine gewisse Enge ist unbestritten. Muß man darum dem biblischen Schöpfer nachtrauern, der die Welt entstehen und vergehen läßt, ihr Tränen nachweinen, der himmlischen Schönfärberei: »Und siehe, es war gut«? Er ist auch hier Realist, und zwar nicht aus Einfalt oder Unkenntnis, sondern weil er säkularisiert ist bis ins Skelett; mag trotz allem Einfalt im Spiel sein, die ertrotzte Nüchternheit ist davon nun einmal schwer zu unterscheiden. Vielleicht hatte auch Gott bloß eine Ich-Perspektive, wäre streng gefaßt nur eben dies. Tunlich wäre es allemal, sich zu ihr zu bekennen. Gott hat die Subjektform vorgegeben. Wer ein richtiger Mensch sein will, muß Subjekt werden. Und im übrigen, der erklärten Absicht ist die Selbstbeschränkung inhärent, der unerklärten nicht. Hat man einmal ich gesagt, muß man beim Ich bleiben. Alles andere wäre ein Schritt zurück; von jener Heuchelei, die das Denken des Menschen von seinen Bedürfnissen abspaltet, die Spielräume für alles mögliche öffnet, alles mögliche Böse.

Die Welt ist den Menschen aufgegeben, erstens weil kein anderer da ist, dem sie aufgegeben werden könnte – Gott ist nicht, oder er hat sie übergeben –, zweitens weil da nichts ist, was dem Menschen sonst aufgegeben werden könnte, und inwiefern wäre er dann Mensch? Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen (oder der Mensch Gott nach seinem), und nun muß er sich seiner Ebenbildlichkeit entsprechend betätigen. Die Welt ist Gottes Schöpfung und des Menschen Aufgabe, er soll sie verwalten; das heißt, bloß der Christ in ihm will verwalten, er will erziehen, der Ingenieur will schöpfen. Wenn es dagegen nichts zu tun gibt, wird die Diskussion quälend. Sobald nichts mehr da ist, wird sie irrational. Besser, als Herrschaft in Frage zu stellen, ist es, sich an der bescheidenen Möglichkeit freuen, sie zu versachlichen. Andere, denen diese Möglichkeit zu bescheiden oder nicht sauber genug ist, haben vom Denken wenig kapiert; zum Beispiel, welchem Sachverhalt sie es verdanken, daß sie überhaupt denken.

So wäre unser Intellektueller denn ein rundum kluger Mann, und es könnte ihm niemand etwas anhaben, wäre er von Feinden nicht förmlich umzingelt. Es sind alle möglichen Leute: einerseits Praktiker, die den Dogmatiker, andererseits Theoretiker, die den Macher in ihm hassen. Alle hassen sie diese ganz besondere Verklammerung von Geist und Wollen, das ›Machtgeile‹, aber zugleich Gehemmte: wer, wenn er etwas will, will schließlich etwas Geistiges, und wer, wenn er denkt, würde überhaupt etwas wollen!

Er selbst unterscheidet gewissermaßen zwischen nützlichen Feinden und unnützen. Letztere sind gefährlich, sie sind undurchschaubar, das heißt, er versteht sie nicht, er müßte sich mit ihren Augen sehen, dann hätte er sie verstanden. An den nützlichen hängt er wie an einem Lebenselixier. Indem sie bald gegen die eine, bald gegen die andere Seite von ihm polemisieren, bringen sie ihn in Schwung. Seine Gedanken entwickeln sich zu unerhörter Schärfe. Schärfe ersetzt Einheit. Beinahe. Die unnützen Feinde würde er lieber übergehen, aber alle Welt spricht von ihnen. Je strikter er über sie schweigt, desto mehr wird über sie geredet. Sie machen einen spielerischen Kult um die Vernunft. Sie lieben sie um dessentwillen, was sie ist: Schein. Verglichen mit ihnen wirkt er, der elegante Denker, hölzern und deutsch. Seinem eigenen Verständnis nach in der Angriffsposition, befindet er sich vielmehr in der schäbigen Rolle des Verteidigers, der mit dem Rücken zur Wand steht, der sich rechtfertigen muß, weil sein Verstand unrein ist. Ihm selbst kommt jetzt manchmal das finstere Epitheton in den Sinn, mit dem Ludwig Erhard die Intellektuellen bedachte: Pinscher. Wie kam der nur darauf, und so früh? Damals waren sie noch gar nicht, wo sie heute sind. Warum mußten sie in der Folge so werden, wie der plumpe Macher es ihnen unterstellt hatte? Warum um Gottes willen wurde das Schimpfwort zur Prophezeiung!

So haftet am Intellektuellen der Ruch der Korruption, auch wenn ihn keiner schmiert. Ihn korrumpiert die Realität, anders ausgedrückt, die Neugier; Herrschsucht nennen es die Leute mit dem groben Raster. Aber wenn Hunger korrupt sein soll, dann bekennt unser Mann sich gerne schuldig.

Allein schon wie er seine Mappe auf dem Tisch deponiert oder die Nase genußvoll in sie hineinsteckt, sich in ein Zahlen- oder Paragraphenwerk vertieft, wie er den Blick mit gleicher Aufmerksamkeit über Schauplätze wandern läßt, zeigt, hier ist einer identisch mit sich und der Realität; denn er liebt das Vermittelte, und er ist Teil der Vermittlung – ein Stoffwechsler ist er! Er und die Wirklichkeit lassen sich jedenfalls nicht auseinanderdividieren, und wenn, tant pis pour elle; um so schlimmer für die Tatsachen! Mit jeder Geste seiner Körpersprache drückt er aus, wer hierbei mehr zu verlieren hat. Was ihn betrifft, er läßt sich nicht in die Resignation treiben. Wenn sie sich von ihm lossagt, dann merkt man sehr rasch, wo die Triebkraft zu Hause ist. Wer der Gestaltung bedarf, das merkt man, wenn der Gestalter sich zurückgezogen hat. Zieht sie sich zurück, dann kann er sie immer noch zum Gegenstand einer Analyse machen, ein Werk schreiben, notfalls, und was kann sie? Der Vorteil des Intellektuellen ist es, daß er die Welt in seinem Kopf immer mit sich führt. Zwar liebt er sie so, wie sie ist, er liebt den Betrieb und die Einmischung. Aber von einem höheren Standpunkt verliert er nicht mal dann etwas, wenn er ins Abseits gerät; allerdings von einem sehr viel höheren Standpunkt. Da die private Person des Intellektuellen nicht allein durch sein öffentliches, vor allem durch sein kritisches Engagement zur Verkümmerung neigt, was wiederum seine Nibelungentreue gegenüber der Realität befördert, wird er sich auch in der Stunde des Rückzugs lieber noch mit ihr auseinandersetzen als mit sich selbst, und da wird es dann wohl doch eine Abrechnung setzen. Irgendwie muß man sich ja einbringen, denkt er. Anders darüber zu denken ist er nicht gewohnt. Dafür gibt es, glaubt er, auch keinen Grund.

Wie sehr er an den Rand gerät, er hat das letzte Wort.


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