Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt einer Altersfreundschaft

Spät, noch im Alter entstanden, ist es eine durch und durch erwachsene Freundschaft. In den heiklen Phasen des Entstehens gestützt durch die Regeln der Gastfreundschaft, hat sie sich wie Lehm zwischen das Gitterwerk der Konventionen gesetzt, von ihnen gehalten, bis die Materie sich selber hält, das Sediment aus gemeinsamen Vorlieben und, von Mal zu Mal mehr, gemeinsamen Erinnerungen. Die Erwartungen an die Freundschaft sind bei allen vieren gleich: daß sie das Leben leicht machen soll und nicht schwer; daß die Unterhaltung – unterhält, auch wenn sie gelegentlich von ›Tiefgang‹ gekennzeichnet ist, aber, Gott sei Dank, nie von Tiefsinn. Die federleichte Seele der Freundschaft, anima, ist die Zuneigung, die wahlverwandtschaftlich herüber- und hinüberfließt, ein Moment von Struktur markiert, von Zweisamkeit im vierköpfigen Einerlei; sie beflügelt die Unterhaltung und läßt die Augen blitzen, vollbringt das Wunder des Hier und Jetzt.

Sie nennen sich mit Vornamen: Erich und Wolfgang, Lisa und Anneliese. Vom ›Herr‹ und ›Frau‹ haben sie sich frühzeitig, an einem vorgerückten Abend emanzipiert, und eine andere Bezeichnung kommt gar nicht in Frage, ›Oma‹ und ›Opa‹ etwa, obwohl sie es sämtlich sind, aber es ist doch nicht ihre Natur. (Auch wenn die Einsicht harte Kämpfe gekostet hat und die glückbringende Altersfreundschaft wie die Belohnung dafür ist, daß sie sich zurückgenommen haben; denn irgendwie ist es natürlich ihre Natur, und es fiel ihnen wahrhaftig nicht leicht, sie in die Schranken einer Aufgabe oder einer bloßen Eigenschaft zu verweisen, sagen wir je nach Temperament unterschiedlich schwer.)

Wenn sie einander ihre Kinder vorstellen, dann weiß man nicht so genau, wer hier wem vorgestellt wird und wer womöglich die Augenbrauen hochzieht, den Umgang oder den Anhang mißbilligend. Immerhin sind sie, die Kinder, längst ebenfalls ›Herr‹ und ›Frau‹, und für ›Tante‹ und ›Onkel‹ besteht für sie nicht der geringste Grund, nicht nur aus Altersgründen nicht. Kein sentimentales Band verknüpft sie mit den Freunden ihrer Eltern, erinnert sie an eine beschützte Jugend nicht nur unter den strengen Fittichen von Vater und Mutter, sondern unter den wohlmeinenden von deren großzügigen Freunden: »Bestellt euch, was ihr wollt, Kinder!«

Der ›Onkel‹ der Kinderjahre war redselig, fast immer vom selben Beruf, vom gleichen Kaliber wie der Vater, nur weniger bedenklich, von außen betrachtet. Galt er, in seltenen Fällen, als der Freund der Mutter, dann verband ihn mit dieser eine gemeinsame Jugend, und das gab Anlaß zu mißtrauischer Überwachung und zu romantischen Erwägungen, und wenn ein zärtlicher Blick auch auf uns fiel, dann sagten wir uns »So hat er früher unsere Mutter angeschaut« und fragten uns, was wohl aus uns geworden wäre, mit ihm als Vater.

›Tanten‹ kamen praktisch nicht vor; Mutter hatte keine Freundinnen. Bereits das Wort hatte einen unangenehm naturalistischen Klang. ›Tanten‹ neigten dazu, das Theater mit den Kindern fremder Leute für übertrieben zu halten und diese genauso hart anzufassen wie die eigenen, also Erziehungsfunktionen zu übernehmen und das auch noch angebracht zu finden, weil die Mutter ihre Rolle womöglich nicht ausfüllte; weil sie arbeiten ging oder einem exzentrischen Lebensstil huldigte, nachts bügelte und am Tag schlief. Über mich: »Das arme Kind geht mit Zahnpastaflecken auf dem Pullover in die Schule. Da ist eben die Mutter nicht zu Hause.«

Sie haben das alles hinter sich, die latenten Ungereimtheiten, den ganzen, vielfältigen Bezug. In dem Zustand sonderbarer Gleichheit, in dem sie sich befinden, dem Zustand sonderbarer Gleichzeitigkeit, haben die virulenten Unterschiede von damals nicht nur alles beziehungslos Fremde, alles Infragestellende, Bedrohliche verloren, sondern als mittlerweile hochgeschätzte Garanten angenehmer Abwechslung überlebt. Sie bilden jenen Fundus, aus dem die Unterhaltung geschöpft wird. Eine uneingeschränkte Bereicherung ist es jetzt, daß der Altersfreund auf eine glänzende Karriere zurückblickt, daß seine temperamentvolle Frau sich in den Niederungen von Arbeitskreisen und Frauenpolitik bewegt hat. Daß er die Welt mit nüchterneren Augen sieht als man selbst, macht das nicht geradezu oberflächliche, aber von Verantwortung befreite Gespräch substantieller. Daß er mit Geld zu tun hatte, früher, man selber eher mit Gefühlen, macht die Unterhaltung ernsthafter, um nicht zu sagen philosophischer; wie überhaupt das Triviale jetzt als das Tragende erscheint, Vernunft mit sich führt, die so prekär gewordene Realität verbürgt. Die Werte sind demgegenüber schal geworden, die ehernen Prinzipien tönen hohl, und so hätte man selbst womöglich wenig zu bieten und stünde trotz aller Innerlichkeit recht armselig da, hätte der liebe Gott einen nicht mit einer natürlichen Herzlichkeit ausgestattet, einer natürlichen Lebhaftigkeit, einer natürlichen Lebendigkeit, die wie eine Quelle unaufhörlich sprudelt.

So findet sich, was doch eingebaut und gebunden, gewissermaßen ohne freie Rezeptoren war, in einer neuen Konstellation. Es sind Dinge verloren gegangen, natürlich, die Herrschaften haben im Alter ›eingelegt‹; aber wer hätte zu hoffen gewagt, daß auch etwas frei wird, was seinerseits Neues anzieht und sich, wie die Wissenschaft sagt, neu konstelliert? Da ist keine Unordnung, bedingt durch regellosen Verlust. Wenn überhaupt Wirrwarr im Spiel ist, dann kann er nur überwunden sein (und logischerweise muß Wirrwarr gewesen sein, sonst würde einen der Eindruck von Harmonie nicht überwältigen). So vollkommen ist das Ergebnis, daß es wirkt, als hätte jeder seine Schwächen abgelegt und die Stärken mit denen der andern zu einer neuen, starken Einheit verknüpft, die nichts Kleinliches mehr bedroht.

»Wie schade, daß wir Ihre Eltern nicht früher kennengelernt haben«, sagt die Altersfreundin meiner Eltern traurig zu mir, »wir hätten gern länger etwas von ihnen gehabt.«

Was für ein herrlicher Grund, betrübt zu sein, was für ein unsterblicher Grund für Trauer!


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
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