Ilse Bindseil

Hoher Besuch

Artur Radvánsky und Michaela Vidláková in der Sophie-Scholl-Oberschule


für B.

Hinterher bin ich ganz schön geschafft; erst halb zehn, kein Kaffee, der Blutdruck im Keller (der Blutzucker werweißwo), und dabei haben wir schon so viel erlebt. Nur in der Schule mutet man sich Dinge zu, die der normale Erwachsene sich frühestens am Abend zumuten würde, wenn er den Tag hinter sich hat, die Wirklichkeit, und gepanzert ist gegen störende Erinnerungen aller Art. Ich bin Jahrgang 1945, und für mich sind es Erinnerungen der ersten Stunde. Zum hunderttausendsten Mal steht für mich das Leben meiner Eltern, der Großeltern, all der alten Leute, unter denen ich aufgewachsen bin, auf dem Spiel; oder sagen wir bloß: der gute Ruf. Ich könnte heulen, daß ich nicht »in Ruhe« weinen kann; wenn ich jetzt anfange, dann höre ich nicht mehr auf. Dabei habe ich das Gefühl, daß das endlich mal ein Anfang wäre, nicht mehr aufhören zu können. Aber ich kann ja nicht anfangen; bin ganz schön sauer.

Kommt hinzu, daß sie sich alle so verdammt ähnlich sehen, die Opfer, die Täter, die Mitläufer. Je älter sie werden, desto ähnlicher werden sie sich. Und so kann ich nicht einmal mit Sicherheit sagen, was mir die Tränen in den Hals gestopft hat, das Schicksal von Michaela Vidláková und Artur Radvánsky, unseren Gästen, die, Artur Radvánsky zumal, gleich mehreren deutschen KZs und Vernichtungslagern überantwortet wurden und ihnen, sofern man das überhaupt so sagen kann, entronnen sind, oder nicht die plötzliche Erinnerung an meine eigene Familie. Da sind dann alle einschlägig: Oma, Opa, die Großtante, an deren Schürzenzipfel ich hing und die mir wahlweise antiklerikale und antisemitische Possen vortrug, wenn die gutbürgerlichen Eltern aus dem Haus waren. Aber selbst mein Vater ist einschlägig, auch er mittlerweile ja ein uralter Mann. Ich stelle fest, daß ich ihn unwillkürlich mit Artur Radvánsky vergleiche, und der Vergleich fällt nicht zu seinen Gunsten aus: ganz schön verkalkt, mein Papa, verglichen mit diesem in seiner Entschlossenheit, seiner Erzählfreude, seiner Zuwendung geradezu jugendlich geistesgegenwärtigen kleinen Mann, der uns berichtet, wie er in der Hölle gelandet ist und sie aller Uniformität zum Trotz, die der Hölle so anhaftet, differenziert und voller Unterschiede angetroffen hat, bevölkert nicht nur von bösen, sondern – man staune – auch von guten Menschen. Ihm ist das wichtig, »daß das rüberkommt«; unsere Schüler sollen das erfahren (ob auch die Lehrer es hören, ist ihm ehrlich gesagt schnurzpiepegal). Michaela Vidláková, die ihren Bericht über die als Kind in Theresienstadt verbrachte Zeit eher als Umrandung auffaßt, als Legitimation dafür, daß sie Artur Radvánsky unterstützen und, so scheint es mir, auch beschützen darf, springt tatkräftig ein, wo sie es für nötig hält, und souffliert ihm, was ihm entfallen sein könnte (in ihrer geschwinden Art erinnert sie mich verdammt an meine Mutter, wenn sie meinem Vater soufflierte).

Als Artur Radvánsky dann aufsteht, um durch unsere Reihen zu gehen und uns aus der Nähe die fatalen Erinnerungsstücke zu zeigen, ein Stück originalen KZ-Stoff, die eintätowierte Nummer auf dem Unterarm – um das KZ zu zeigen, muß er sich selbst zeigen! –, da sehe ich, daß er in Wirklichkeit uralt ist und daß der Tod mit ihm geht; ob der damals empfangene oder der kommende: sein Alter ebnet den Unterschied ein.

Eine Schülerin hält mich nach der Veranstaltung einen Moment fest; sie sieht, daß ich nicht in Ordnung bin. Aber sie hält mich nicht tröstend, nach dem Motto »Ist doch alles nicht so schlimm!«, sondern haltend. Ich beruhige mich oder sagen wir ich finde eine Etage unterhalb des Sichberuhigens, auf der das Leben auch weitergeht. In die Balance des normalen Alltagslebens schubst mich dann ausgerechnet Michaela Vidláková zurück, indem sie mich, nachdem wir schon im Schulleiter-Zimmer, bei den rettenden Kaffeetassen angekommen sind, nach einer Toilette fragt. Ich gehe mit ihr bis zur Toilette gegenüber der Poststation, die einzige akzeptable, die mir in dem Moment einfällt. »Das muß ich aber sagen«, stellt sie lächelnd fest, »in diesem großen Haus gibt es nicht viele Toiletten.« Sie hat die Schwachstelle des Schulgebäudes ausgemacht; so wie sie herumkommt, kennt sie Hunderte Schulgebäude. Ich erkläre ihr Vorzüge und Nachteile eines denkmalgeschützten Gebäudes. Entschieden, so kommt es mir vor, ist sie der Gegenwart mehr zugewandt als ich; jedenfalls in dem Moment. Eine weitere Frau schließt sich an, sie will auch aufs Klo. Unterwegs mache ich Michaela Vidláková ein Kompliment wegen des anrührenden Vortrags und bedanke mich. Das Kompliment gibt sie mit großer Entschiedenheit an unsere Schüler weiter, die mit Geduld auf sie gewartet und über die Verspätung nicht gemeckert haben, die ihnen mit Aufmerksamkeit gelauscht haben und mit Empathie (ich persönlich bin ja der festen Überzeugung, daß das eine Eigenschaft speziell der Sophie-Scholl-Schüler ist). Im Grunde interessiert sie sich, genau wie Artur Radvánsky, nur für die Jugendlichen. Da kann ich als Erwachsene noch so sehr meine Betroffenheit beteuern; das interessiert sie gar nicht. Sie beide, die sie sich nach Jahren des Verstummens unter dem Eindruck – und auch unter den politischen Voraussetzungen – des Zusammenbruchs des Ostblocks zum Erzählen entschlossen, die ihr Schweigen gebrochen haben, haben einen Pakt mit der Zukunft geschlossen: Den Kids wollen sie mitteilen, was sie erlebt haben. Ihnen trauen sie zu, daß sie es verwerten, daß sie etwas Vernünftiges damit anfangen können. Keine Altersstufe ist für sie zu jung, keine Klasse zu »undiszipliniert«. Kids lohnen, das scheint ihre Devise zu sein; Erwachsene lohnen nicht, läuft als Untertitel so mit. Das heißt, sie mögen ganz nett sein, und als Organisatoren, Vermittler auch taugen; schließlich stellen sie die Verbindung zu den Kids her. Aber selbst wenn sie ungeheuer nett sind: ihr Leben ist zu kurz, um sich ihnen zu widmen. Das Stück, das die KZs davon übriggelassen haben, ist entschieden zu kurz.

Ich kann ihnen nur recht geben.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt20.html.
Veröffentlicht in: tadellos. die schülerzeitung der sophie scholl oberschule 12 (2004), 32–33.

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