Ilse Bindseil

Sektiererische Reflexion und korrektes Denken

Versuch einer philosophischen Identifikation

 

Jedes Problem, das man ernsthaft angeht, löst sich in ein Methodenproblem auf. Am Ende sind die methodischen Fragen so komplex wie das Problem, als es noch eins war. Es selbst ist gelöst, wenn es auf die ihm zugrunde liegenden methodischen Probleme hin transparent geworden ist. Das ist gute alte Philosophie.

Jedes Problem, das einen ernsthaft intrigiert, löst sich in ein biographisches Problem auf. Am Ende ist aus der Lösung eine Erzählung geworden, und die ist so komplex wie das Problem, als es noch eins war. Es selbst ist gelöst, wenn es auf die ihm zugrunde liegenden Erinnerungen hin transparent geworden ist. Das ist gute alte Psychologie.

Will man ein Problem ernsthaft angehen, das einen intrigiert, dann muß man das Schwerwiegende des methodischen Zugriffs ebenso in Rechnung stellen wie die Tatsache, daß es einen Übergriff auf die eigene Biographie bedeutet. Der Übergriff ist wenigstens ansatzweise realisiert, wenn man sich überwunden hat, die Fremdheit des Problems als Entfremdung zu akzeptieren und das berühmte Mona-Lisa-Aperçu Je näher wir sie ansehen, desto ferner blickt sie zurück wenigstens ansatzweise umzukehren, so daß es heißt Je ferner wir es, das Problem, ansehen, desto näher blickt es zurück. Geben wir also zu, daß wir betroffen – und von der Tatsache, daß wir es sind, getroffen – sind, dann ist der Übergriff auf die Biographie in einen methodischen Zugriff umgemünzt. Kurz gesagt, wir dürfen erst anfangen, uns mit dem Problem zu beschäftigen, wenn wir realisiert haben, daß es unser Problem ist, und wir dürfen uns mit ihm mit keiner anderen Absicht und keinem anderen Ziel beschäftigen als dem, darzustellen, inwiefern es das ist. Es ist wie immer in der Philosophie alles eine Frage des Anfangs bzw. eine Frage der Durchführung auf einen Anfang hin.

Warum, beim Problem der antideutschen Kritik, so ein Aufwand, warum der große Bahnhof der theoretischen Vergewisserung, der methodischen Reflexion? Warum diese vorbehaltlose Öffnung als Ziel bei einer Position, gegen die man sich eher verschließen, die man aus dem allgemeinen Zusammenhang, den die theoretische Reflexion in jedem einzelnen ihrer Gedanken voraussetzt und verkörpert, aussperren möchte und, im Sinn einer Konstruktion des korrekten Denkens, auch aussperren sollte? Deshalb, weil sie in der Tat schon ebensooft eingeschlossen wie ausgeschlossen, diskutiert wie mit geradezu exorzistischem Pomp aus dem biographischen ebenso wie aus dem theoretischen Zusammenhang ausgesperrt, weil sie also bereits reichlich und im doppelten Sinn besprochen und diese Besprechung ungeachtet aller Abwehrgesten und eineindeutigen Verurteilungen zu einem undurchschaubaren Teil, einer undurchschaubaren Fortsetzung von ihr geworden ist, zu etwas Unreinem sozusagen, das man durch fortlaufendes Händewaschen immer weiter verreibt.

Notwendig ist der Aufwand, weil die Problematik der antideutschen Kritik sich also im Anfang konzentriert: Hier ballen sich die Probleme zusammen, radikalisieren sich, nehmen existentialistischen Charakter an, spitzen sich zu der Entscheidungsfrage zu: Ist sie überhaupt ein Problem? Ist sie eins, das man konfrontieren oder das man meiden sollte? Muß man sich einlassen, oder sollte man sich lieber enthalten? Ist verfahrenstechnisch Mimesis oder Charakter gefragt? Geht es um die Kraft des Jasagens oder um die Kraft des Neinsagens? (Muß man also mit ihr umgehen wie mit dem Unbewußten, das kein Nein kennt, oder wie mit dem Denken, das kein Ja kennt? Ganz einfach: Insofern sie dem Allgemeinen ähnelt, gehört sie zu dessen Unbewußtem, muß es ihr also sympathetisch begegnen; insofern das Allgemeine sich durch sie herausgefordert fühlt, muß es sie – und darin vielmehr sich – negieren.)

Um dem Dilemma, das ja eine der unfruchtbarsten methodischen Zugangsweisen ist, die die Philosophie kennt, den Wind aus den Segeln zu nehmen, sage ich sogleich: Es ist ganz egal, wie man sich entscheidet. Aber wenn man sich mit einer Sache beschäftigt, die man als im Kern sektiererisch zutiefst ablehnt – und zu der, nimmt man alles in allem und sammelt das Verstreute, im übrigen auch schon alles gesagt ist  –,1 dann kann es nur mit dem in eine förmliche Verfahrensweise aufgegliederten Ziel der Integration des Abgespaltenen und der Identifikation mit ihm geschehen. Auf der anderen Seite: Tut man es nicht, um so besser; aber dann muß man es gar nicht tun. Das bedeutet zuallererst, auf das sektiererische entêtement, die herrliche Zuspitzung verzichten, die gerade in Gestalt der antideutschen Kritik – darin hat sie ihr Markenzeichen – eine gleichzeitige Komplizierung und Vereinfachung ist, und zwar nicht, worauf das systematische Denken zielen muß, eine Komplizierung im Sinne der Vereinfachung, sondern umgekehrt eine Vereinfachung im Sinne der Komplizierung: die Idee ist einfach, aber sie wird im Sinne der Beschwörung, im Sinne der Erhaltung, im Sinne der Herstellung gefaßt, und wehe, es löst sich etwas auf – es ist eben eine fixe Idee! Der Verzicht erstreckt sich aber auch auf einen gehörigen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der, obwohl durch und durch Mainstream, in sich selbst sektiererisch ist, sektiererisch nämlich im Sinn von Monokausalität und fixen Ideen, von Ersatzhandlungen und Wahnvorstellungen, deren wahnhafter Charakter insgesamt nicht im mindesten dadurch in Frage gestellt wird, daß die jeweilige Vorstellung verwirklicht, zum Beispiel Teil einer real existierenden Strategie, eines real existierenden Krieges ist. Hier ist Verzicht gefragt auf jeglichen Versuch, sich der Erscheinung des Gegenstands, seiner Form, zu bemächtigen, sich ihr gewachsen, ebenbürtig zu zeigen, ihr den Rang abzulaufen, mit ihr zu konkurrieren. Biederkeit wäre gefordert.

Um der Tatsache daß also die größere Bedeutung zuzuerkennen als der Frage wie, formuliere ich in altmodischer Manier, als Axiom, freilich in einer höchst unreinen Form, was für mich allein die Beschäftigung mit der antideutschen Kritik rechtfertigt. Es widerspricht nur bedingt der Tradition, daß die axiomatischen Formulierungen die wesentlichen Momente der theoretischen Auseinandersetzung bereits enthalten. Im Gegensatz zur gewöhnlichen, entfaltenden Darstellung sollen die Elemente der Auseinandersetzung aber als zurückgenommene dargestellt werden. Nicht Auseinandersetzung, sondern ihre Rücknahme ist die theoretische Absicht. Auf die Axiome, da wo die theoretische Durchführung ihren Platz hätte, folgt stattdessen die Erinnerung: Die Entstehung der antideutschen Kritik aus der achtundsechziger Bewegung wird erzählt; getreu dem hier präsentierten Prinzip der Identität wird sie als eine Geschichte der Achtundsechziger erzählt, und diese wiederum wird neu erzählt: als eine Geschichte der antideutschen Kritik.

1. Die sektiererische Reflexion enthält die allgemeine oder Mainstream-Reflexion vollständig, muß von dieser daher in ihrer Selbstreflexion wiedererkannt werden; sie selbst wiederum ist nichts anderes als die allgemeine Reflexion, bloß in verzerrter Form, enthält also nichts, was darüber hinausginge. Sie ist die allgemeine Reflexion – nur der Selbstreflexion entzogen; sie kann sich nicht mehr reflektieren; sie will es nicht, das ist ihr Programm. Die allgemeine Reflexion wiederum ist immer beides zugleich: systematische Anstrengung und Mainstream-Reflexion und von daher immer zugleich richtig und falsch, anfällig für Sektiererisches.

1.1. Ihre zugespitzte, abseitige Form ist der Repräsentant der allgemeinen Reflexion oder des Allgemeinen an der Reflexion; die Grenzenlosigkeit der Zuspitzung – dies, daß immer noch mehr zugespitzt werden sollte und müßte, so lange, bis die Zuspitzung des Gegenstands in seine Vernichtung umschlägt und der Zusammenhang nicht mehr zu erkennen ist – repräsentiert die dem Allgemeinen eigentümliche Vollständigkeit; die innere Grenzenlosigkeit der Zuspitzung, Maßlosigkeit, Rastlosigkeit, repräsentiert die Vollständigkeit der allgemeinen Reflexion, dies, daß sie alles irgendwie enthält. (Der Wahn, der sich darin ausdrückt, wäre demnach auch in der allgemeinen Reflexion aufzusuchen, darin, daß sie, was sie allerdings vollständig wiedergibt, am Ende doch nicht durchschaut oder daß, in dem Zusammenhang, den sie repräsentiert, Vollständigkeit und Durchschauen alternativ sind.)

1.2. Was an der sektiererischen Reflexion schlechterdings unakzeptabel, augenscheinlich gewollt und auch de facto unerträglich und als Abgrenzungsmodus offenbar unverzichtbar ist, muß als der unbewußte Ausdruck einer unzerstörbaren Zugehörigkeit der sektiererischen Reflexion zur allgemeinen Reflexion verstanden werden: Am Gestus der Abgrenzung muß der Unterschied hängen; ohne den Gestus muß der Unterschied nichtig sein, auf ihn kommt es tatsächlich an; dem Analytiker bleibt nur, ihn ernst zu nehmen. An nichts hängt der Unterschied, sagt dieser bis ins Äußerste radikalisierte Gestus, als an mir. Sonst – sonst! – bin ich ganz auf deiner Seite! Die allgemeine Reflexion muß das zur Kenntnis nehmen, muß diese unakzeptable Verkörperung ihrer selbst akzeptieren.

1.3. Was an der sektiererischen Reflexion dagegen imponiert, die geistige Verfügung über den Allgemeinbesitz an Reflexion, die sie sich durch Zuspitzung und Verurteilung zugleich vom Leibe hält, das muß durchaus nicht akzeptiert, sondern nach seiner materialen Seite vielmehr in Zweifel gezogen, das heißt, der Reflexionsbestand selbst muß in Zweifel gezogen werden, die imponierende Verfügung über ihn ist ihm anzulasten, nicht an ihr zu loben.

2. Kritik, als ungeteilte Form, enthält bereits die ganze Problematik der zugespitzten sektiererischen Kritik. In letzterer ist nichts enthalten, was nicht bereits in ersterer enthalten ist. Als Ausdruck des Denkens, als Bestandteil also der Reflexion, nimmt die Kritik gegenüber der Wirklichkeit, die sie kritisiert, eine besondere Rolle in Anspruch, die es als wirkliche Rolle nicht gibt. Sie macht sich zu ihrem Sprachrohr, ihrem Vordenker oder Vorreiter, ohne ihrer eigenen Beschränktheit, daß sie ja nur Denken ist, durch eine transzendentale, auf ihre Selbstbeschränkung zielende Reflexion Rechnung zu tragen. Als Ausdruck der Wirklichkeit – der Verhältnisse, die sie nicht bloß, wie sie meint, kläglich analysieren, sondern zum Tanzen bringen will – ist sie auch gegenüber dem Denken, zu dem sie in ihren Instrumenten, ihrer kompletten Mittelwahl gehört, sektiererisch, da sie nicht nur Praxisnähe, sogar eine Praxisform zu sein reklamiert, sich als ein Verhalten präsentiert, für das innerhalb des Denkens selbst freilich nur die finstere Diagnose des Agierens zur Verfügung steht, des Fuchtelns, statt Fightens. – Was an der sektiererisch zugespitzten Kritik ärgert, kann daher im Grunde nur Ärger sei's der Kritik über sich, sei's Ärger über die Kritik sein.

2.1. Denken, will es nicht sektiererisch sein, muß sich der Kritik der Verhältnisse enthalten! Es muß schrankenlos affirmativ gegenüber jeglicher Form von Praxis sein, die es zu denken sucht. Es muß reine Mimesis üben, reiner Spiegel des Bestehenden sein; seine Sprachkunst muß die der Beschreibung sein, seine Anstrengung Bienenfleiß, sein Ziel Vollständigkeit.

2.2. Nur sich selbst gegenüber muß Denken reine Kritik sein. Es muß sich schrankenlos negativ sich selbst gegenüber verhalten (damit es nicht abdriftet, sektiererisch wird, die Kreise des Gedachten immer enger zieht, die Verhältnisse, von denen es ein wesentlicher Teil ist, immer mehr terrorisiert!). Es muß strenge Selbstdenunziation üben, von kalter Analytik sein, seine Anstrengung geht auf Aufhebung, sein Ziel ist es, seine eigene Aufhebung, die Aufhebung des Denkens, systematisch zu denken.

2.3. Was an der Kritik, ja am Denken insgesamt imponiert, und das ist jeglicher Gestus der Verfügung über, der Souveränität, des zwingenden (gleich zwanghaften) Konstruierens, der entfesselten Geistigkeit, die sich dem Geisterglauben zu Unrecht enthoben fühlt, das muß der schärfsten Kritik unterzogen werden, und es soll im altbiblischen Sinn kein Stein auf dem andern bleiben, an den man als das Geistige glauben könnte.

3. Antideutsch hat teil am herrschenden Kategoriensystem, und es ist dagegen. Insofern ist es Teil des allgemeinen Verstands, wenn auch nicht der allgemeinen Vernunft, eher Teil des allgemeinen Geredes. Ihrem Sollzustand nach darin hochhistorisch und hochdialektisch, geht sie doch von den wie immer scheinhaft gestalteten Verhältnissen aus, die sie zum Tanzen bringen will, ist sie ihrem Realzustand nach zugleich hochexistentialistisch und affirmativ: an der logischen Tatsache, daß sie in Bausch und Bogen übernimmt, was sie negiert, führt nichts vorbei. Insofern es deutsch gibt, gibt es antideutsch; insofern diese Kategorie nichtig ist, ist es ihre Antiform auch. Rückwärts gelesen, gilt dieser Satz nicht weniger. Die Nichtigkeit von deutsch erstreckt sich bis in die elementarsten Klassifizierungen – deutsche Sprache, Unterrichtsfach Deutsch –, und die Richtigkeit von deutsch reicht bis weit ins Wörterbuch der Gemeinplätze, in die Rede von der deutschen Gründlichkeit, der deutschen Gemütlichkeit, der deutschen … hinein. Nichtig bezieht sich dabei auf die Faktizität des damit Bezeichneten, richtig auf die des damit Geschaffenen. Das reale Fach Deutsch etwa basiert auf der Scheinhaftigkeit des Deutschen (und wer es unterrichtet, für den ist diese Tatsache so trivial wie das Gefühl der Nichtigkeit seines Faches und der Bodenlosigkeit seines Tuns notorisch) und ist, was Diskriminierungen, reale Unterscheidungen entlang dem Profil deutsch/nicht deutsch betrifft, da es die erschütternde Erfahrung seiner Nichtigkeit enthält, besonders produktiv. Die blöde Rede von der deutschen Gründlichkeit dagegen kann die hundertprozentige Faktizität dessen, was aus der reinen Nichtigkeit kommt und Schritt für Schritt geschaffen werden muß, für sich verbuchen, die hundertprozentige Faktizität des reflexionslogischen subjektiven Entwurfs, bei dem aus dem Schreck über das Nichts etwas entsteht und dieses Etwas dann in der reflexiven Schleife unendlich bearbeitet und nie mehr widerlegt werden kann. Antideutsch teilt beides; es ist, und es ist nichtig. In ihm steckt der Furor der deutschen Reflexionsphilosophie, die dem bodenlosen Charakter der Faktizität auf den Grund geht (und, auf dem Grund ihrer Bodenlosigkeit angekommen, ja zu ihr sagt), und die Drohgebärde dessen, der von seiner absoluten Nichtigkeit überzeugt ist. In dieser Doppelheit ist antideutsch in der Tat urdeutsch.

3.1. Deutsch ist ein allgemeiner Verstandesbegriff, insofern er Unterscheidungen schafft, diskriminiert. Antideutsch diskriminiert zwar den diskriminierenden Begriff deutsch und erweckt damit den Eindruck oder erhebt damit den Anspruch, selbst mehr als bloß ein diskriminierender Begriff zu sein. Das außerordentlich Diskriminierende wiederum, das ihm keineswegs zufällig, sondern als ein Markenzeichen anhaftet, erhebt den Anspruch aller Retourkutschen, mehr zu sein als eben eine Retourkutsche. Expropriez les expropriateurs!, das heißt eben nicht nur, kritisiert sie (und sie verdienen derweil Geld), sondern hindert sie am Geldverdienen! So heißt antideutsch sein nicht nur etwas gegen die Deutschen haben, sondern sie erkannt, von anderen unterschieden (diskriminiert), durchschaut und damit die Voraussetzung geschaffen haben, ihnen in der Praxis das Handwerk zu legen.

3.2. Antideutsch diskriminiert nicht nur den diskriminierenden Begriff deutsch, sondern existentialisiert ihn auch zugleich; je nachdem, ob sich die Vorsilbe mehr gegen die Form des Begriffs oder gegen seinen Inhalt richtet, kommt mehr das eine oder das andere Moment zum Tragen. Charakteristisch für die antideutsche Kritik ist, daß nicht nur beide Aspekte existieren und daß sie nur bedingt gegensätzlich sind (insofern sie sich ja auf Verschiedenes, freilich an demselben Gegenstand richten), sondern daß in der Debatte auch immer beides anwesend ist. Die Gegenwart des jeweils anderen Aspekts ist das eigentlich Charakteristische; sie bewirkt die Wut, die in der Debatte mobilisiert wird, und das nicht auszurottende Gefühl, daß man sich einig ist oder mit sich selbst streitet, daß man qua Debatte also nur verlieren kann: die Einigkeit, die Einheit mit sich selbst (von daher das Zerreißende solcher Debatten). Diese Gegenwart des jeweils anderen Aspekts führt in den Streit den ständigen Verdacht des Mißverständnisses ein, des gewollten oder ungewollten, den Eindruck, man habe noch gar nicht diskutiert, man habe nur aneinander vorbeigeredet, es habe – während man schon längst zu handfesteren Auseinandersetzungsformen übergehen wollte – noch gar keinen Streit gegeben. Es überzieht ihn mit dem generellen Gefühl der Uneigentlichkeit. Uneigentlich ist die Debattenform; es gibt gar nicht zwei Gegner, höchstens einen, der zerfallen ist mit sich selbst. Und es gibt auch keinen Dissens, nichts als ein permanentes quidproquo, ein permanentes Überkreuz-Mißverständnis. Resultat ist nackte, von jedem materialen Bestandteil entblößte Wut. Stellte man aber das Zerfallene wieder (!) zusammen, so das begleitende ›ozeanische Gefühl‹, wäre das Resultat eine (die alte!) gemeinsame Front gegen (anti!)… ja wogegen: die Sünden der Deutschen? den falschen Gebrauch der Vernunft?

3.3. Antideutsch lebt auch vom einfachen Gegensatz gegen deutsch, sei es nun Formbegriff oder Existential. Es lebt von der einfachen Andersheit: daß man Minderheit ist, nicht deutsch unter Deutschen. Es beansprucht damit für sich, was niemand, insofern er denkt, für sich beanspruchen kann und jeder, insofern er lebt, tagtäglich benutzt: die Voraussetzung eben der einfachen, materialen Andersheit, jener Andersheit, die Voraussetzung, nicht Folge ist und die insofern auch nicht widerlegt werden kann; denn sie ist ja immer schon. Antideutsch ist damit zugleich gegen deutsch, wiewohl deutsch, eine logische Verrenkung, die bekanntlich böse macht, und, weil nicht deutsch, gegen deutsch, wobei die implizite Voraussetzung die beherrschte und bedrohte, die nicht zu Wort kommende, es nicht zu Gehör bringende Minderheit ist, die sich organisiert.

Die sogenannten achtundsechziger Jahre waren Jahre der Hoffnung auf etwas, was sich nicht einlösen ließ; sie waren eine existentialistisch stillgestellte Zeit der eingelösten Hoffnung. Für einen – solange er dauerte – der Vergänglichkeit entzogenen Augenblick war die Vergangenheit abgekoppelt, der Generationenbruch vollzogen. Von ihren Eltern hatten sich Kinder getrennt, die das eigentlich gar nicht und deshalb auch nur einen verlängerten Augenblick, eine magische Ewigkeit lang tun konnten. Es waren Kinder, die von ihren Eltern mit einer rechten Affenliebe geliebt, auf die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, nach der militärischen Niederlage und nach dem Konkurs jener Koordinaten, auf die sich Selbstbewußtsein gründet, alle Hoffnungen und in Gedanken auch schon alle noch zu erwerbenden – und dann in erstaunlichem Maß erworbenen – Reichtümer gehäuft wurden. Es waren Kinder, die ihre Eltern umgekehrt mit der abhängigen Liebe von Kriegskindern, Flüchtlingskindern, von mehr durch Erzählungen als durch Fakten, eher verängstigten als wahrhaft traumatisierten Kindern liebten, die in einem zugespitzten Maße Schutz suchten bei Eltern, die in der Vergangenheit sich vor allem dadurch ausgezeichnet hatten, daß sie keinen Schutz gewährt hatten.

Der halluzinierte Generationenbruch mußte die unzerstörbare Treue ausgerechnet dieser Kinder zu ihren, wie ihnen eingeimpft worden war, leidgeprüften, gleichwohl – wie sie in den ›schlechten Zeiten‹ erfahren hatten und dann in den besseren, den Wohlstandszeiten staunend erfuhren – schutzmächtigen Eltern der so nötigen Aufmerksamkeit entziehen; er mußte sie ins Unbewußte abdrängen; nicht nur der Kinder, sondern auch der durch die Achtundsechziger-Provokationen skandalisierten Eltern übrigens. Eine der entscheidenden Formierungen ausgerechnet dieser Generation geriet damit in die halluzinierte Nichtexistenz. Im gereinigten Bild standen sich lupenreine Kontrahenten gegenüber, die freilich noch nicht begriffen hatten, daß nichts ähnlicher ist, nichts mehr materielle Identität verbürgt als der Gegensatz, und sich mit Verve im Gegenüber, in der Negation zu situieren suchten: Nie wollten sie die Schuld auf sich laden, die ihre Eltern auf sich geladen hatten. Nie wollten sie von ihren Kindern so umlauert und mit stummen Fragen umzingelt werden, wie sie selbst ihre Eltern umlauert und umzingelt hatten mit der dann meist doch nicht offen ausgesprochenen Frage: Und was habt ihr im Dritten Reich gemacht? An ihrer eigenen Legende strickten die Achtundsechziger denn auch von Anfang an, an ihrer Unschuld, an den Nachweisen ihrer Renitenz, ihrer Andersheit, ihrer mangelnden Tauglichkeit zum Täter; häuften Beweise in Form von Zelluloidstreifen, Gerichtsurteilen, Narben, sahen zu, daß sie immer auf der richtigen, auf der sicheren Seite, daß sie nicht vereinsamt und vereinzelt waren, so wie nach dem Krieg Deutschland vereinsamt und vereinzelt gewesen war, identifiziert und isoliert. Sie sahen zu, daß sie stets die richtigen Freunde hatten, mit denen sie sich nicht korrumpieren, die ihnen im Gegenteil von ihrer Rechtschaffenheit abgeben konnten. Sie stellten sich vor, die internationalen Fäden wieder zusammenknüpfen zu können, die die Hitlergeneration durchschnitten hatte, und ordneten sich selbst historisch ein, lange bevor sie historisch geworden waren. Sie wollten in die Geschichte eingehen als unschuldige Kinder von Tätern und historische Subjekte in einem (also als Täter): in dieser Gegenlichtaufnahme als – in einem unbedingten, aktiven Sinn – schlechthin die unschuldige Generation.

Erst sehr viel später wagten sie sich wieder ins Gewühl der Grüppchen und Splitterparteien – noch nicht in die Realpolitik, aber in den Kampf der Richtungen, wo jedes Urteil zu einer Abspaltung führte und jedes Votum Konsequenzen nach sich zog und Schuld auf sich genommen werden mußte, wo es auf einmal wieder als unreif und blauäugig galt, sie vermeiden zu wollen, wo Schuld schon wieder auf Verantwortungsgefühl deutete.

Verlängert man die historische Linie über die 70er, 80er Jahre bis in das Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung hinein, so kann man das Schicksal der Unschuld verfolgen, wie sie vom Gegensatz eingeholt und – süchtig nach Schuld wird. Dabei geht es zu wie im Lehrbuch der Zwangsneurose: Immer größer wird der Stein, den man auf die Straße rollt, nachdem man zuvor ängstlich einen Kiesel entfernt hatte; frei nach der Devise, echte Unschuld kann sich nicht widerlegen. Sie besteht die Probe!

Das Beharren auf Unschuld führte zu einer Verweigerungsstrategie, einer Strategie, die sich gegen jede Veränderung, noch gegen den Anschein von Diskursivität und Kontinuität, gegen den Anschein von Leben richtete. Daß, wie Musil sagt, seinesgleichen geschah, war ein Skandal, der unerbittlich aufgedeckt, eine Bewegung, die sistiert, eine Entwicklung, die abgewürgt werden mußte. Aller Furor der Veränderung war in den Gedanken, in die Schärfe des Urteils gerutscht. Verfolgt wurde im genauen Sinn eben – der Anspruch auf Veränderung. Das traf alle: ob es die RAF war, die das Gesetz, nur im Gedanken könne der Anspruch bewahrt werden, mißachtet und die Bundesrepublik tatsächlich in wenigen Monaten gründlich verändert hatte, ob es die Friedensbewegten waren, die mit ihren Lichterketten, ihren Kerzen die Unschuld als politische Option in den Konkurs trieben. Ob es die Autonomen oder die Palästinenser waren, ob es später die wiedervereinigten Deutschen und noch später, als Arbeitslosigkeit zum Dauerthema wurde, die Gewerkschaften waren, der Standpunkt der Arbeit war: Verfolgt wurde ganz vitalistisch der Anschein von Bewegung, von Leben, von Anknüpfungspunkten in einem Land, das sich, indem es Auschwitz hervorbrachte, zum Tode verurteilt hatte und gestorben war und das an diese Tatsache erinnert werden mußte, nichts sonst als erinnert. Vor allem war der Eindruck seiner Lebendigkeit zu destruieren, und dies geschah mit allem Eifer, ja mit dem Pathos der Veränderung. Es war ein Schein zu beseitigen, der wiederum der Kritik den Anschein des Seins verlieh, der geschichtlichen Sendung. Die geschichtliche Mission beinhaltete – darin den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins, dem gedanklichen Vorbild, nicht unähnlich – nicht mehr und nicht weniger als den Stop der Geschichte; die Gewalt des Stops sollte den Sprung erzeugen, saltus. Lang war's her, daß dieser Sprung die konkrete Gestalt einer im Wortsinn rückgewandten Utopie annehmen konnte, wenn einer der Urväter des Antideutschen, Eike Geisel, von der versäumten Atombombe auf Nazideutschland träumte. Sofern er als Option erhalten geblieben war, als dringliche Forderung, saltus dank Dringlichkeit, war er wie zum Beispiel bei Ruth Klüger in die Hemmung, in die Blockade gerutscht, wo das machtvolle »Ich will« umschlägt in ein blockiertes »Ich will doch nur …« Zugeben sollten die Deutschen, was sie getan hatten, nichts sollte ihnen angetan werden, nichts sollten sie sich selbst antun, nur zugeben – eine Forderung, die in ihrem obstinaten Verzichtcharakter die Atombombe Eike Geisels zu einer erfreulichen, einer entladenden, entlastenden Vorstellung machte.2

Oder der Sprung war als Paradigmenwechsel erhalten geblieben, als ein Sprung aus der Geschichte in den esoterischen Geist. Aber selbst in dieser reinsten und unangreifbarsten, da absurdesten – die Veränderung durch Ortswechsel bewerkstelligenden – Form war der Sprung nicht weniger blockiert. Im Gegenteil, er existierte überhaupt nur als Option, als Negativ der Kantischen regulativen Idee: Wo diese die Wirklichkeit anleiten soll, sollte er sie gleich in doppelter Weise ersetzen: als Wirklichkeit und als Modus. (Geist war wahrer, Option war wirklicher als Wirklichkeit!) Jeder Kontakt mit der Wirklichkeit wurde dagegen als Kontamination verbucht, er verdarb den Sprung. Umgekehrt griff der Sprung den konkreten Bezug zur Wirklichkeit an, verhinderte ihn nicht nur, sondern setzte sich in ihm fort: im apodiktischen Urteil, in einer spezifischen Blutrünstigkeit. Mochte es sich dabei im Medium des Geistes um nichts als lautere Gedankenschärfe handeln, eine Metapher eben für Sprung, ein Instrument der Deutlichkeit, im Dienst nicht nur der quantitativen, sondern der qualitativen Differenz: im Medium der Wirklichkeit wurde daraus eine beständig höher geschraubte Drohung. Kein Wunder, daß spätestens mit dem Golfkrieg von 1991 der Geist zurückkippte in die Wirklichkeit, der Vorbehalt in die schlichte Partei, in die detaillierteste Diesseitigkeit – obwohl es, für den, der Teil der Entwicklung gewesen ist und die Motive geteilt hat, nicht weniger als dies war, ein Wunder, und, bedenkt man, wogegen die achtundsechziger Bewegung als moralische Bewegung, aufgeboten worden war, nichts weniger als harmlos, vielmehr exakt das, was nie hätte passieren dürfen, was zu verhindern die Achtundsechziger angetreten, um dessentwillen sie sich den Eltern buchstäblich aus den Rippen herausgeschnitten hatten: der Sündenfall.

Für ihn, den Achtundsechziger, wird daher nichts anderes übrigbleiben, als, ganz allein für sich, das Wunder zu destruieren und in ihm nichts anderes zu gewahren als die bundesdeutsche Normalität, ihn selbst eingeschlossen. Es wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als den Schein des Sündenfalls zu destruieren und sich über die Lebenslüge der Achtundsechziger – und seine eigene – Gedanken zu machen: daß man mit Auschwitz nichts zu tun haben, daß man mit Auschwitz sich verbünden kann. Daß die antideutschen Kritiker es ihm in der symptomatischen, in der grell ausagierten Form vormachen, so daß er als Achtundsechziger-Unschuldslamm pflichtschuldigst darüber erschrickt, daß sie ihm vorführen, wie Verweigerung in Affirmation, abstrakte Geistigkeit in kleinteilige Politik umschlägt, wie die kleine radikale Minderheit von ehedem, die stolz wir sagte – Wir sind eine kleine radikale Minderheit! – zu einem Bündnispartner von Mainstream-Positionen und Parteien wird, daß ihre exquisite Blutrünstigkeit, ihre exquisite Verfolgungs- und Bestrafungssucht, die sie als Minderheit noch geziert haben mag, sich unbefangen mit dem sachlichen Ausrottungspotential von Großmächten, mit den dazugehörenden Charaktermasken und globalen Strategien assoziiert, das kann ihn allenfalls auf die Notwendigkeit einer Erklärung, womöglich einer Revision jenes Geschichtsbilds bringen, in dem er selbst vorkommt, unbefangen die Rolle des Guten spielt – wenn's wenigstens noch die Rolle des Blöden gewesen wäre! Abgenommen wird ihm die fällige Erklärung, die fällige Selbstreflexion von den Antideutschen keineswegs.

Es ist gar nicht so leicht zu realisieren, woher die nicht nur unerbittliche, sondern eifernde Schärfe des Urteils kam. Einerseits verdankte sie sich natürlich der sistierten Bewegung und war eine Konsequenz der Wiederholung: Gegenüber den wechselnden Schicksalen der Bundesrepublik konnte der antideutsche Kritiker nur stets dasselbe sagen. Kann ich dafür, fragte er, wenn doch immer nur dasselbe gesagt werden kann? Die Monotonie der Verhältnisse schlug freilich auf ihn zurück, stellte sich als seine Monotonie dar. Er wiederum konnte sie nur durch eine Steigerung des Affekts konterkarieren, durch eine Steigerung in der Wiederholung. Andererseits kam die Schärfe des Urteils aus der Konkurrenz, aus dem direkten Gerangel: Es war Quatsch, was die RAF machte, kriminell, was die Autonomen taten, idiotisch, was die Arbeitstheoretiker und die Gewerkschaften verkündeten! Idiotisch und kriminell war es, wogegen die antideutsche Verweigerung überlegt und richtig war. Auf ein und derselben Ebene rangelte die Kritik mit dem Kritisierten um die Geltung: Nicht war das eine ein Tun und das andere ein Analysieren, vielmehr handelte es sich sämtlich um Optionen, und die Würde der einen nahm der anderen ihren Sinn. Ihre Würde mußte ihr daher bestritten werden. Sie mußte bekämpft werden. Wenn die RAF recht hatte, dann hatte die für Verweigerung plädierende Kritik unrecht; dann hätte man RAF werden müssen! Wenn die Forderung nach Arbeit – für den, der keine hatte – richtig war, dann mußte man entweder Gewerkschaftler werden, oder sie mußte eben falsch sein. Wir oder sie: ein anderer Umgang, der sich schon allein daraus ergeben hätte beziehungsweise darin bereits bestand, daß RAF oder Gewerkschaften praktische Optionen, ihre Kritik, als Kritik, aber eine theoretische Option, eine Option für theoretische Auseinandersetzung war, einen Schritt zurück in die Theorie bedeutete, kam auf der Ebene und unter der Voraussetzung der unmittelbaren Konkurrenz nicht in Frage. Vielmehr wurde die praktische Natur der theoretischen Option postuliert; die genuine theoretische Option auf die Praxis, als Option auf die Zukunft, auf die Utopie (aber auch der genuine Bezug der Praxis zur Theorie, als Hörigkeit, als unstillbares Bedürfnis, beackert zu werden, entziffert, verändert). Sich gegenüber der Praxis zu verweigern, nur noch auf den geistigen Vorbehalt zu setzen, großen Geistern, die es schon mal gesehen, es schon mal in Begriffe gefaßt, das Programm der Verweigerung angedeutet hatten, kurz der Kritischen Theorie Adornos, dem von Adorno proklamierten Denken des Negativen – anstatt es gedanklich fortzusetzen – emphatisch die Treue zu wahren, das war eben zugleich ein konkreter politischer Schachzug, es hatte einen praktischen Sinn.

Der theoretisch begründete Sinn, das, was aus der Theorie folgt, sich aus theoretischer Einsicht für die Praxis ergibt: das ist aber die Lebenslüge des Verstands und die Lebenslüge des Bürgertums, seitdem und solange, wie es existiert.

Für den antideutschen Kritiker war die Verweigerung gegenüber der Praxis genauso eine praktische Option wie alle andern praktischen Optionen. Hier leugnete er den Sprung in die Theorie, auf den er sonst so stolz war und mit dem er die Verweigerung bezahlen mußte (und deshalb sprang er bei der ersten Gelegenheit auch zurück). Hier war er Existentialist. Ebenso leugnete er das Moment von unverbrüchlicher Praxis, das den von ihm verurteilten Optionen anhaftete, und damit das Moment von Nichtkritisierbarkeit, daß seinesgleichen geschah. Für ihn waren es falsche Entscheidungen, für ihn war es falsch gedacht. Er tat, als hätte er es mit theoretischen Konkurrenten zu tun; als säßen sie alle im gleichen Boot der Reflexion.

Die totale Blockade, das bis in die apodiktische Aufforderung, den kompromißlosen Befehl verschärfte ›Nur‹, resultierte ebenso wie der Paradigmensprung, der Sprung hinaus aus der schlechten Kontinuität, letztlich aus dem Willen zur Nichtveränderung. Hier holte den antideutschen Kritiker die Vergangenheit ein, der mangelnde Bruch mit den Eltern, der mangelnde Bruch mit der Bürgerlichkeit, der mangelnde Bruch mit der geistigen Tradition, der Tradition des Geistigen, an der er mit allen Fasern, elitär bis zum Gehtnichtmehr hing. Die sich an sich selbst steigernde Repetition von Vorwürfen und (Nicht-)Forderungen war tatsächlich nur die Methode, die am deutlichsten den Wunsch nach Nichtveränderung ausdrückte, die Tatsache der eigenen Verankerung im Bestehenden, die Existenz im Festhalten, nicht im Aufgeben oder Vergessen, im Verlieren oder Verzichten (was ja auch eine herrliche Form der Existenz sein kann). Und wenn in einem immer schon latent vorhandenen, untergründig immer schon drohenden nächsten Schritt die Wiederholung in Akkumulation umschlug und das Akkumulierte schließlich zurück in die schlechten Verhältnisse kippte, wobei es keineswegs um Revolution, vielmehr um eine ganz normale Parteibildung, womöglich um Anschluß an den Mainstream, eben ans Vorhandene ging, dann war der Verweigerer in der Realität endgültig angekommen. Mochte er seinen phantastischen Gestus behalten und dadurch immer noch eigentümlich geistig wirken, er betätigte sich wie alle andern: passiv mit dem Gestus des Agierenden. Mit dem Elan des Erfinders votierte er für das Bestehende, sprach sich mit Verve für oder gegen die geläufigen Konstellationen, Israel oder Palästina, USA oder Islam aus, als wären sie die Realität selbst, mehr noch ein begriffsgestütztes wahres Sein, und man bräuchte sich nur zu entscheiden (und sie gar nicht mehr zu konstruieren). Von nun an konnte er die Nichtveränderung auch praktisch betreiben, um deretwillen er sich zuvor enthalten mußte, konnte er der ganz normale Konkurrent sein, der er in der hierarchischen Konstellation von kritisierter Praxis und theoretischer Kritik immer nur auf absurde, die gesamte Debatte eigentümlich umzentrierende, der Rätselhaftigkeit überantwortende Weise hatte sein können. Da er in einer fundamentalistischen Weise recht hatte, war es nicht einmal verdächtig, sich auf der Seite der Stärke wiederzufinden, Machtpolitik zu betreiben, Werte zu verteidigen; nicht als vernünftige Bürgerpolitik à la Joschka Fischer, das heißt als zur bürgerlichen Vernunft gekommene Achtundsechzigerpolitik, sondern als die unmittelbare Konsequenz aus den alten Ideen, als wie auch immer befremdliche Erscheinungsform der Verweigerung, unbeirrbare Treue zu den von der Vergangenheit auferlegten Prinzipien.

Aber inzwischen hatte die Vergangenheit unmerklich ein anderes Antlitz bekommen. Aus der Perspektive des zeitgenössischen antideutschen Fundamentalismus betrachtet, bietet Hitler sich als die erste Inkarnation des Bösen dar; er brachte den Begriff hervor: ihm gegenüber hätten die Amerikaner gerechtfertigter Weise böse sein können und waren es, in der äußerst verschobenen Form der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki, dann auch.

Das Böse bekämpfen hieß dann auch vor allem: böse sein dürfen. Alles, was durch den Nationalsozialismus ins Tabu gerutscht war, wenn es einmal als faschistisch gebrandmarkt war, nicht weiter erörtert, gar relativiert und pragmatisch angeeignet werden durfte, wurde im einen geheiligten Fall rehabilitiert und stieg wie Phönix aus der Asche: wenn es den Kampf gegen das Böse galt.

Das Böse mußte her, damit der Riß in der Biographie gekittet werden konnte.

Im vom Nationalsozialismus unmittelbar getroffenen Europa führte das Böse nach Hitler geraume Zeit eine Schattenexistenz. Die Bundesrepublik war schrankenlos gut und bedankte sich bei ihrem letzten Kaiser, daß er sie von den Kolonien befreit hatte – eine wesentliche Bedingung für außenpolitisches Gutsein. Sie bedankte sich bei Hitler, der sie militärisch und politisch so schwach gemacht hatte, daß sie gar nicht mehr böse sein konnte. Die übrigen europäischen Länder waren als atlantische Koalition, aufgeklärte, bürgerliche Koalition, ehemalige Koalition gegen Hitler, aktuelle Koalition gegen den Ostblock, im Prinzip ebenfalls gut. Schranken des Guten wurden ihnen lediglich durch ›interne‹ Auseinandersetzungen um Entkolonialisierung und Separatismus eingezogen, die freilich ein von allem Anfang an entsublimiertes Böses hervorbrachten, das zum zivilisierten Selbstbild dieser Staaten in grobem Widerspruch stand. Ansonsten war der Kampf gegen das Böse wesentlich im Kalten Krieg verortet und gebannt. Er fand, von der Atomkriegsebene notgedrungen auf die ideologische Ebene verschoben, an der Seite der USA und als eine Verteidigung von Werten statt. Den USA – innenpolitisch durch Traditionen antistaatlicher, rassistischer Renitenz mit der Fragilität der Konstruktion ›guter Staat‹ und mit der Existenz eines selbstbewußt, konkurrierend auftretenden Bösen im übrigen beständig konfrontiert – blieb es überlassen, in Gestalt von Korea- und Vietnamkrieg diesen Kampf auch real zu führen. Erst als sie in die Isolierung rutschten, als aus dem Repräsentanten eines allgemein einsichtigen Guten, ja eines einsichtigen Allgemeinen, als aus dem Repräsentanten der bürgerlichen, freien Vernunft der Verfechter einer fixen Idee wurde, an der alles partikular war, nur nicht die ökonomische und militärische Macht, die hinter ihr stand – als sie nicht mehr nur militärisch und materiell, sondern auch ideologisch von ihren Bündnispartnern im Stich gelassen wurden, da konnte sich die antideutsche Kritik ihnen anschließen, hatte sie in den USA doch einen Partner in Sachen Verweigerung gefunden, auch eine ›Minderheit‹, die sich gegen den Zeitgeist und gegen das Vergessen stemmte; die den Mut zum Bösen hatte, gegen das Böse.

Der Kreis hatte sich geschlossen, das Verhängnis zu sich selbst gefunden. Mit dem mächtigsten Gegner Hitlers, Amerika, gegen das hitlerische Prinzip kämpfen zu können: aus dieser nur im strengsten Irrealis zu formulierenden Sehnsucht war eine konkrete Möglichkeit, eine Allerweltsangelegenheit geworden. Nur Banausen und Geschichtsvergessene – Geschichtsphilosophievergessene! – konnten verkennen, daß, was wie ein einfaches Votum für den Stärksten aussah (vor allem wie ein einfaches Votum!), in Wirklichkeit immer noch dieselbe wesentlich geistige Position aus den finstersten Zeiten der Totalverweigerung war, ein bei allem laut herausgeschrienen Ja immer noch wirkliches Nein, eine bei aller geäußerten Blutrünstigkeit immer noch höchst geistige Option, bei aller zur Schau getragenen Regression immer noch beharrlich vorangetriebene Reflexion. Umgekehrt konnte nur, wer Entscheidungen und Positionierungen durch begriffsmächtige Subjekte eine größere Realität zubilligte als dieser selbst, sich über die wirkliche Kontinuität der Geschichte hinwegtäuschen, über den ihr innewohnenden Zwang – oder das ihr innewohnende, vielleicht einzig wirkliche Telos –, ihre Kontinuität auch deutlich zu machen. Wiederholungszwang wäre noch ein unzutreffendes, verharmlosendes Wort. Kontinuität ist die unangenehme Losung der Geschichte. Auschwitz hat sich als keineswegs Ende der Geschichte, vielmehr gewichtiger Beginn eines neuen Kapitels herausgestellt, das nicht um Gedanken, sondern um Werte zentriert ist – wie sollte es auch das Ende, reine Bündelung von Vergangenem sein, wo es doch soviel Unbegriffenes und Unbegreifbares, also Potential enthielt! Mit der ihm eigenen Schwerkraft, dem ihm eigenen entsetzlichen Schwergewicht hat es keineswegs nur das Zeitalter der Aufklärung beendet, sondern das Zeitalter des Bösen begonnen, dergestalt daß wir nicht mehr nur zurückdenken müssen, um es nicht zu vergessen, vielmehr an Auschwitz zurückdenken dürfen, um uns Auskunft über die Gegenwart zu holen, Hilfe beim Verstehen. Was für die Biographie der Geschichte gilt, ihren eisernen Zwang zur Kontinuität, Zwang, sich eine Biographie zu geben, das gilt auch für die einzelnen. Nicht reicht es den Kindern der Täter von einst, den Rettern von damals die Hand zu reichen im Kampf um die Rettung der einstigen Opfer. Sie müssen auch – das heißt, sie wollen keineswegs, aber die Geschichte will es, das ist ihre Kontinuität, und so tun sie's eben –, indem sie sich an die Seite der Retter von damals stellen, in die Täterrolle ihrer Eltern schlüpfen: den Mut zur Entscheidung aufbringen, den Mut zur Tat, den Mut zur Schuld.

Und hier auf der biographischen Ebene erweist sich plötzlich das Wort Kontinuität als zu harmlos und zu schwach und drängt sich erneut der Wiederholungszwang auf.

Anmerkungen

  1. Damit man die Umständlichkeit des hier vorgetragenen Ansatzes eher nachvollziehen kann, nenne ich die Texte, in denen ich mich mit dem Gegenstand bereits auseinandergesetzt habe. »Wolfgang Pohrts Ideologiekritik«, in: Frauen 2 Polemik und Politik, Freiburg: ça ira, 1991, S. 113–156; »Die Intellektuellen und der Golfkrieg«, in: Kritik und Krise. Materialien gegen Ökonomie und Politik 4/5, hg. v. ISF Freiburg, Freiburg: ça ira, 1991, S. 73–79; »Reale Abstraktion und reelle Subsumtion«, in: Ästhetik und Kommunikation 113 (2001) Entfernte Künste, S. 77–80; »Auschwitz und Wahnwitz« (Offener Brief an Gerhard Scheit) sowie »Anmerkungen zu Scheit ›Kosovo und Auschwitz‹«, in: Streifzüge 1, hg. v. Kritischen Kreis, Wien 2002. Zu den Grundlagen der Auseinandersetzung verweise ich auch auf »Wir und das Tier«, in: Ästhetik und Kommunikation 117 (2002), S. 109–114.
  2. Es ist eine Anekdote: Als ich Anfang 1991, genau am Beginn des Golfkriegs, nach Frankfurt am Main zu einem Referat auf dem von »Linke Liste – Undogmatische Linke« veranstalteten Kongreß Hochschule und Gesellschaft kam, geriet ich in einen Vortrag von Eike Geisel, auf dem er einer konsternierten Zuhörerschaft den erwähnten Vorschlag machte; ich, solche Reden wenig gewöhnt, erlebte gebannt, wie der Aufruf zur freilich längst versäumten Gewalt zugleich Skandal erregte und verpuffte. – Zu Eike Geisel, aus dem Umkreis dieser Zeit, erwähne ich »Lastenausgleich, Umschuldung. Die Wiedergutwerdung der Deutschen«, Berlin 1984; »Jenseits des Vorurteils – Rückblick«, in: Eingriffe – Jahrbuch für gesellschaftskritische Umtriebe, hg. v. Klaus Bittermann, Berlin 1988; »Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung«, Berlin 1998 (postum). Zu Ruth Klüger siehe insbesondere ihre Autobiographie weiter leben – Eine Jugend, Göttingen 1992 (dtv 1994), die in der Bundesrepublik auf ungewöhnliche Resonanz gestoßen ist.

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt2.html.
Veröffentlicht in: Gerhard Hanloser (Hg.). 2004. ›Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken.‹ Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Münster: Unrast, 275–291. (Wiederveröffentlicht: www.unrast-verlag.de/unrast,3,0,252.html).

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