Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(4) E. erzählt

Ich »fremdelte«. Ich hatte einen Gegengott. Einen kleinen Apoll.

Weil wir nicht miteinander schlafen konnten, haben wir immer zusammen geweint. Genaugenommen hat nur einer von uns beiden geweint, und das war der eigentliche Gag bei der Sache, das Verbindende: Einer weinte und der jeweils andere ermöglichte es ihm zu weinen, indem er ihm den Rücken frei hielt nach außen – so daß er sich sorglos seinem Kummer hingeben konnte –, und seinen Blick zugleich auf ihm ruhen ließ, damit sein Schmerz nicht ohne Sinn war und seine Tränen nicht ins Bodenlose fielen.

Vorzugsweise weinten wir daher einer an der Brust des andern. Oder um der Wahrheit auch hier die Ehre zu geben: Er weinte an meiner; denn er war nichts weiter als ein feingliedriges Kind, aber sein Kummer war groß. Wenn dagegen ich weinte, dann wahrte er die gleiche anteilnehmende Distanz, wie wenn wir miteinander redeten. Er wußte, daß ich nur weinen konnte, wenn ich mich dabei auch körperlich verlassen fühlte, faßte mich aber jemand an, dann gefror alles Flüssige in meinem Körper und drohte ihn zu sprengen. Ich stemmte also die Ellbogen auf die Tischplatte und stopfte beide Fäuste in die Augen, damit die Tränen nicht eher aus mir herausströmten, bevor nicht alles Feste und Widerständige in Bewegliches umgewandelt war, alles Duckmäuserische, Holzige, Trübe in Hitziges, alles Tote in Lebendiges. Dabei spürte ich seinen Blick teilnehmend auf mir ruhen, und dieses Gefühl gab mir den Mut, nicht eher aufzuhören, als bis der luftige Zustand erreicht war, der kurz vor der Auflösung, sobald ich aber an die Grenze stieß, mich auch wieder zu beruhigen; denn er saß ja da, den abgerissenen Gesprächsfaden in der Hand, jederzeit bereit, wieder anzuknüpfen, und das Leben ging weiter.

Für unsere Stelldicheins brauchten wir den öffentlichen Raum. Da wir nicht miteinander schlafen konnten, war das Zuhause, seins und meins, für uns der unwirtlichste Ort auf der Welt, schlimmer als der Bahnhof. Was für armselige Liebesleute wir dort abgegeben hätten, mit keinem anderen Hindernis als uns selbst! Vor dem kahlen Hintergrund eines dieser typischen Großstadtcafés dagegen, wo wir uns vorzugsweise trafen, stellte sich sogleich eine schrankenlose Intimität her, etwas wie ein gelebtes Vertrauen, in einer Gegenwart so ohne Hintergedanken und ohne allen Vorbehalt, daß es fast wie Lieben war. Da wir uns also bereits liebten, stellte sich die Frage von Unmöglichkeit und Möglichkeit nicht mehr, aber alles kam darauf an, im Kopf zu behalten, daß sie sich nicht mehr stellte, und nicht plötzlich aus der Fülle des Augenblicks heraus einer die Hand des andern zu ergreifen und zu sagen: Komm, wir gehen nach Hause. – Das war schwer.

Wo wir besser bekannt waren – zum Beispiel bei den Jungs im Xenzi, die für Gefühlsausbrüche und Auftritte Sinn hatten –, brachte man uns eine Serviette extra mit für die Tränen und wies uns diskret auf die Schokoladentorte hin, damit wir den entstandenen Mangel ausgleichen konnten. Wessen Augen trocken blieben, der wahrte den Blickkontakt zum Kellner. Mit einem Lidschlag bat ich um Nachschub fürs ach so kostbare Naß, das an meiner Brust vergossen wurde, und daran, daß auch ich stets ein wohlgefülltes Wasserglas vorfand, wenn ich das tränennasse Gesicht von der Tischplatte hob, konnte ich merken, daß der gleiche Austausch zwischen dem Kellner und ihm stattfand. Auch er brauchte sich keineswegs alleingelassen zu fühlen, während er mich beschützte!

Natürlich war das alles nicht frei von Theatralik und falscher Zweideutigkeit. Wer mochte sich nicht alles über uns entrüsten! Es kam vor, wenn er sich auf der Toilette das Gesicht wusch und sich die Nase schnaubte, daß ich einer förmlichen Kanonade feindseliger Blicke ausgesetzt war, und ich gebe zu: In diesen Augenblicken einer vollkommenen Wehrlosigkeit und Verlassenheit sah ich mich umstandslos mit den Augen der andern. Aber wenn er dann an unseren Tisch zurückkehrte und mir sein vom Weinen und Waschen gerötetes Gesicht zuwandte und mich anlächelte, vergaß ich das Massaker, das sie während seiner Abwesenheit in mir angerichtet hatten, oder nicht ganz: Mit verdoppelter Energie baute ich die Szene um, nicht ohne Rachsucht, und zwang sie förmlich, Publikum zu sein, wo sie Kritiker hatten sein wollen, Zeuge, wo sie sich zum Richter berufen fühlten, und nicht ohne Ranküne strich ich ihm über das blankgerubbelte Gesicht, aus dem die Jugend strahlte, und sagte, mütterlich nicht im Ton, nur in der Geste: Alles paletti?

Einmal – es war just, als ich ihn im Arm hielt und er, das Gesicht an meiner Brust vergraben, seinen Tränen freien Lauf ließ und die Außenwelt vergessen hatte – entdeckte ich im Hintergrund des Cafés ein bekanntes Gesicht, nicht unvertraut, auch es, und nicht unlieb und unbegehrt, aber in diesem Augenblick wie von einem anderen Stern; aus jener Welt, wo es möglich war, ohne Tränen zu leben, aber unmöglich, zu lieben; aus jener ganz und gar aus den Fugen geratenen Welt, in der man tränenphob war, nicht tränenlos! – und wo die Kälte anstelle der normalen Empfindung regierte.

Für einen Moment stürzte ich durch alle Himmel – in freiem Fall. Einen Liebsten hielt ich in den Armen, der der Realitätsprüfung nicht standhielt und den ich nicht im Ernst so anreden konnte, allenfalls mit »Liebstes«. Ein kalter Liebhaber maß mich mit strengem Blick, jederzeit zu unbestechlichem Urteil aufgelegt, ein Vertreter des Wirklichkeitssinns, Rechtsverdreher einer Welt, die er gepachtet hatte und in der er selbst gar nicht vorkam – in der man ihn folglich auch nicht aufsuchen, geschweige denn antreffen konnte. Ach, wie gern hätte ich mich in einer geborgten, einer in das Nichts der vollendeten Vergangenheit hineingezauberten Sekunde meiner süßen Last entledigt und mich ihm nackt präsentiert: armselig, aber unschuldig, im Arm kein Gotteskind, nur ein Büschel nasser, grüner Lilien! Nichts als Unschuld, hätte ich mich ihm präsentiert wie die Frauen, die er bevorzugte, die nichts als Körper waren und deren Drei-Wort-Sätzen, wie er sich ausdrückte, einen kleinen Schrei aus ihrer eigenen Kehle anzufügen seinen pädagogischen Eros herausforderte; denn wenn sie sich aus der Inanspruchnahme seines Körpers – oder aus der Inanspruchnahme ihres Körpers durch ihn – schon nicht das leiseste Recht auf seine Person ableiten durften, kein Recht auf irgendwas, so wollte er ihnen doch etwas geben, wenn die Gabe auch gering blieb. Zwar waren bei ihm die komplexen emotionalen Verknüpfungen zerstört und die losen Enden tanzten in einem wilden Taumel. Er konnte daher kein Vertrauen mehr bilden und, überhaupt, sich als Ganzes aufs Ganze beziehen. Wohl aber konnte er dem Nichts ein Etwas abgewinnen und war bereit, das mit Hingabe zu tun. Ich hatte eine Weile gehofft, daß er meine Unschuld mit der Nichtigkeit der ihm vertrauten Frauen verwechseln und mir ebenfalls etwas schenken würde. Aber mit der traumwandlerischen Sicherheit derer, die aus ihrem Mangel ein Prinzip machen, hatte er im Nu meine fordernde, um Erfüllung und Gestaltung bettelnde Nichtigkeit von der ihm behaglichen trägen sortiert, die seiner Kreativität schmeichelte, anstatt sie zu ersticken, und schenkte mir nichts, verweigerte mir noch jenes Minimum an Verwechslung, Illusion und Täuschung, mit dem ich mir die Niederlage hätte schönreden können. Er verweigerte sich komplett, und daß ein Seelenklempner vielleicht gesagt hätte, er rettete sich, tröstete mich so wenig, wie wenn jener behauptet hätte, er wolle mich bloß schonen. Als mein Blick nun an ihm hängenblieb, da hatte ich mich just in dem Augenblick im Gefühl der Vollkommenheit einer gewissermaßen umgekehrten Pietà geaalt, an deren Brust echte Tränen geweint wurden; ob um sie, darauf kam es gar nicht an, um wen oder was, das stellte die Generalfrage und befreite von der blöden Liebe, dem hirnrissigen Komplex aus falschem Kummer und unechter Mütterlichkeit. Als nun sein Blick auf mich fiel – denn obwohl er die Szene zweifellos von Anfang an verfolgt hatte, kam es mir vor, als wäre ich erst jetzt in den Bannkreis seiner kalten, jederzeit zu jeglichem Richterspruch bereiten, erwachsenen Augen geraten –, da stürzte ich durch alle Himmel und schlug hart auf dem Beton auf, fühlte ich mich doch ertappt: als jemand, der alles andere als nichtig, aber auch alles andere als unschuldig war.

Entschlossen rüttelte ich an den in hingebungsvollem Schluchzen bebenden Schultern, und das war noch nie vorgekommen, daß wir das Weinen des andern unterbrochen hätten.

Hör doch auf, murmelte ich und faßte ihn nun tatsächlich zum ersten Mal an, ihn, den ich bislang immer nur umhegt und gehalten hatte! Nicht anders, als es mir in meinen Schreckensträumen erschienen war, fühlte ich die zerbrechlichen Knochen unter dem dünnen Pullover und meine eigenen derben Pfoten.

Du mußt aufhören, hörst du! murmelte ich und rüttelte ihn, so als wollte ich ihn wecken. Und als hätte ich zu ihm gesagt »Wach auf!«, löste er sein verweintes Gesicht von meinem Busen, und ein verwunderter Blick traf mich ins Herz. Er machte die Vergangenheit zu Makulatur und jedes künftige Weinen zur Posse.

Stumm erhob er sich, instinktiv darauf bedacht, mich nicht mehr als irgend nötig zu berühren. Er fuhr sich mit einer kindlichen, einsamen Geste, die mir durch und durch ging, über die Augen und zerrieb die Tränen. Dann griff er – immer in derselben gebückten Haltung, so als beugte er sich über sich selbst – nach seiner Jacke und überprüfte den Inhalt der Taschen: Ausweis, Schlüssel und Geld. Er war entschlossen, für sich die Verantwortung zu übernehmen.

Wie zwei Übeltäter, die nichts verbindet als die böse Tat, traten wir einzeln vor den erstaunten Kellner und bezahlten. Nacheinander verließen wir das Café, nur mit Überwindung dem andern die Tür haltend. Im Hintergrund neigte sich ein glattes Gesicht über Tabak und Utensilien, und geschickte Finger drehten eine elegante Tüte.

Draußen blies ein scharfer Wind. Aber ein heller Schein fiel durch die Wohnzimmerfenster des Xenzi und wärmte den Bürgersteig. Junge Männer mit gehäkelten Mützen in den Regenbogenfarben der Karibik trotzten der Kälte, ältere in Jogginghosen standen breitbeinig in den Hauseingängen, hatten sich von innen gewärmt. Auf krumm gelaufenen Beinen schleppten Frauen den Einkauf nach Hause. Kinder flitzten johlend um sie herum. Würdige Männer standen rauchend beisammen und diskutierten.

Wie arme Sünderlein, als einzige aussortiert in einer Welt, in der alles seine Ordnung hatte, seinen Bezug, alles seinen Platz, so standen wir noch eine Sekunde im Licht, das durch die Scheiben des Xenzi wärmend auf den Bürgersteig fiel, und schämten uns in einer letzten gemeinsamen Empfindung. Dann gingen wir in verschiedenen Richtungen davon, er zur U-Bahn und ich Richtung Flughafenfeld.


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