Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(3) E. erzählt

Als ich mich in der überfüllten U-Bahn, von allen Seiten geschoben, unwillkürlich an ihn herandrängte, lächelte er amüsiert, und dieses Lächeln im offenen Gesicht hatte auf die nach soviel wüstem Monologisieren immer noch feindselig entstellten Züge eine seltsame Wirkung: wie wenn das Böse ein Gesicht kriegte. Ich stellte die Sporttasche zwischen den Beinen ab und fuhrwerkte noch ein bißchen mit den Füßen herum, ganz benommen von der Unwiderruflichkeit der Nähe, die nicht, wie es unserem Umgang entsprach, in jedem Augenblick geleugnet oder einfach aufgehoben werden konnte, jedenfalls nicht für die nächsten zwei Stationen. Mühselig hob ich den Kopf vor der schwarzen Wand, die seine Jacke war, und sah die Knöpfe Etage um Etage an mir vorbeiziehen, bis das in einer schwindelerregenden Mischung aus Einladung und Hohn lächelnde Gesicht auftauchte, aus dem die Wollmütze jedes Haar entfernt hatte; ich selbst hatte sie ihn im Pariser Banlieue-, im beur-Stil aufzusetzen gelehrt: zuerst tief in die Stirn hinein-, sodann sorgfältig wieder aus ihr herausziehen, bis die nackten Züge modelliert und die Haare am Hinterkopf geborgen sind. Daß er vor den abendlichen Arbeitsterminen seine Morgenrasur vorzunehmen pflegte und deshalb so nackt wirkte, wußte ich damals noch nicht.

Den einen Arm um die Stange geschlungen wie ein Urwaldaffe, den andern um seinen Rucksack, damit er im finsteren Neukölln nicht beklaut wurde, das Gesicht zu mir heruntergeneigt, die von Gott Zufall persönlich, nicht von ihm zu verantwortende Nähe durchaus genießend – aber ohne das geringste Bedürfnis, aus dem Aroma dieser abendlichen Heimfahrt eine Perspektive zu machen, irgend etwas, was dem Leben eine Bestimmung geben konnte –, hatte er sich gleichsam in die »stabile Seitenlage« gebracht, in der er unbegrenzt aushalten konnte. Ich dagegen, nachdem der von uns sonst eisern gewahrte Mindestabstand einmal unterschritten war, raste wie ein Meteor auf ihn zu, in freiem Fall; und vielleicht genoß er das ja auch, weil er nämlich ahnte, was in mir vorging, und bloß stillhalten, das heißt seinem Nicht-Impuls nachgeben mußte, damit ein paar zauberhafte Augenblicke lang alles möglich war und am Ende gar nichts passierte.

Um dem unvermeidlichen Zusammenstoß eine akzeptable Form zu geben und den Aufprall zu mildern – oder eigentlich, weil ich ja auf ihn zuraste und mich zur Landung richten, das Fahrgestell ausfahren mußte (vielleicht auch in einer Art Abwehrzauber, wer weiß!) –, streckte ich unwillkürlich die Hand nach ihm aus, um ihn zu berühren. Denn wenn schon die räumlichen Schranken gefallen waren, sagte ich mir, mußte ich ihn auch anfassen dürfen. Er arbeitete schließlich mit dem Körper und würde es verstehen. Von den Erfahrungen, die er ihm zumutete und die, wie er behauptete, seinem Geist zugute kamen, arbeitete es übrigens auch sichtbarlich in seinem Gesicht, das noch ständig umgeschaffen wurde, was ihm im Vergleich mit dem eines normalen Erwachsenen einen nicht nur lebendigen, sondern bei aller chronischen Unzufriedenheit ausgeglichenen Ausdruck verlieh – so als hätte er das Kind in sich nie verraten und wäre gewissermaßen beim Thema geblieben. Wenn jemand so sehr in seinem Körper gegenwärtig war wie er, dann mußte er es auch aushalten, wenn man ihn berühren wollte.

Aber »in echt« hielt keiner von uns beiden irgend etwas aus.

Ich sah noch, wie er zurückzuckte – und ich schwöre, das geschah einen Augenblick, bevor ich die Hand gegen ihn ausstreckte, just einen Lidschlag davor –, aber ich hätte die Bewegung nicht mehr stoppen können; abgesehen davon, daß ich ihn ja unbedingt anfassen wollte! In dem Augenblick hörte ich eine unbekümmerte Stimme »Hallo!« rufen beziehungsweise, damit in dem überfüllten Wagen keine Mißverständnisse aufkommen konnten: »Hallo, Frau E.!« Auf ihre Art drückte diese Stimme ebenfalls einen Wunsch aus, und sei es bloß den, gehört zu werden. Offensichtlich wollte auch sie etwas erreichen und konnte insofern in unserem Konzert gegensätzlicher Bedürfnisse mitwirken. Ich ließ die Hand sinken. S. brachte seinen Kopf unauffällig in die normale Position zurück und schämte sich hoffentlich; denn es konnte ja tatsächlich so aussehen, als wenn die junge, aber durchsetzungsfähige Stimme ihn im letzten Moment von mir weggetrieben hätte. Zumindest konnte das multikulturelle Gemisch um uns herum, das er verabscheute, es so auffassen, und das wäre eine Niederlage für ihn gewesen; denn sie sollten ja zurückweichen, verkündete er jedem, der es hören wollte, er, längst in der Minderzahl, wollte sich behaupten! Ich schämte mich übrigens auch, schließlich hatten wir aufgrund der Umstände die Köpfe zusammengesteckt. Aber ich hatte eine unendliche Routine im Schämen vor diesen jungen Leuten, von denen ich schon hundertmal ertappt worden wäre, wäre ich nicht cool geblieben und hätte mich nicht eisern aufs Ignorieren verlegt – so war das, wenn man mit jungen Leuten zu tun hatte und selbst nicht geradezu verknöchert war. Verhindern konnte man gar nichts, nur cool mußte man bleiben. Außerdem konnte ich den harschen Ton einordnen, der wie das Eintrittsbillet zur nordafrikanischen Männergesellschaft zu sein schien, zu der Said gehörte, und doch mehr mit dem Stimmbruch des Jugendlichen zu tun hatte, und zwar gerade in seinem rauhesten Timbre. Auch mich hatte Said früher mit dieser Stimme erschreckt, aber das war schon lange her. Vielleicht fühlte ich mich noch ein wenig gemahnt, aber ertappt fühlte ich mich nicht mehr, und eher beschützt als mit Absicht erschreckt.

Fein gemacht, als ginge er auf eine Hochzeit, geschrubbt und rasiert bis unter die Haut, strahlend vor innerer und äußerer Sauberkeit, zudem nicht allein, vielmehr in Gesellschaft eines Kumpels, auf den er, eingehängt in eine Halteschlaufe, nach den Rhythmen der U-Bahn zubaumelte und mit dem er den Abend in komfortabler Zweisamkeit verbringen würde, war Said Herr der Lage und Herr über die U-Bahn. Er sah hübsch aus im Schwarz-Weiß-Look der Immigranten; das heißt, er war rundum schön, und das sah in dem heruntergekommenen und zugleich selbstbewußten Milieu dieser südöstlichen Bahnlinie nett aus, nicht auf eine dogmatische Weise schön, sondern hübsch. Die krausen Haare standen wie ein Heiligenschein um sein schmales, nach den scharfen Kanten gearbeitetes Gesicht mit den dunklen Augen. Ich hätte ihn gern gefragt, was er für den Abend vorhatte, wußte aber, daß Vorfreude und Ereignis bei ihm in der Regel in keinem Verhältnis standen. Wahrscheinlich trafen sie sich nur mit Freunden.

Alles klar? rief Said über die dicht gedrängten Köpfe der Umstehenden hinweg. Neugierig drehten sich die Köpfe und machten bei mir halt, und obwohl ich Saids Methoden kannte, fühlte ich mich durchschaut. Nie hätte ich auf eine Frage von ihm etwas anderes als die Wahrheit antworten können.

Nur andeutungsweise schüttelte ich den Kopf, wie ich es manchmal im Unterricht tat, wenn einer von ihnen etwas Ungereimtes sagte und ich nicht wollte, daß ein Aufhebens darum gemacht wurde. Said würde mich schon verstehen.

Nicht so schlimm, setzte ich sogleich laut hinzu, und sein Freund, der uns neugierig beobachtete, schaute konsterniert.

Südstern, du verpaßt das Aussteigen, sagte S. in dem Moment zu mir, ich hörte es eigentlich erst hinterher, als ich schon auf dem Bahnsteig gelandet war, auf den er mich, ich weiß nicht wie, mit einem wohlgezielten Tritt oder Schubs befördert hatte, in einer sagenhaften Geschwindigkeit, geradewegs durch die sich öffnende Tür. »Kopf hoch, Frau E.!« rief Said mir noch über die Köpfe hinweg nach. »Tschüs!« setzte S. auf seine trockene Art hinzu.

Dem Zug nachblickend, versuchte ich noch tschüs zu sagen.


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