Ilse Bindseil und Susanne Jüdes

Wenn ich aufgerufen würde …

Kommentar zum gleichnamigen Stück für Frauensoli, gemischten Chor, Flöte/Violine, Klarinette/Bratsche, Fagott/Violoncello und Klavier (Text: Ilse Bindseil, Musik: Susanne Jüdes, uraufgeführt: 29.November 2003 zum 30.Jubiläum des Hanns Eisler Chores im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin)


Böse, so an die Schulzeit erinnert zu werden: Wenn ich aufgerufen würde und hab nicht gelernt! Aber das ist natürlich Quatsch; denn ich hab mir die erste Zeile ja selbst ausgedacht; also wird es wohl eher die narzißtische Masche sein, eine düstere Geschichte zu zimmern, die es einem erlaubt, unbemerkt oder ungestraft »ich« zu rufen: Ich!!! Kompliziert wird das Ganze durch die berühmten Umstände; denn es könnte ja sein, daß ich etwas zu sagen hätte – oder, wie Therese Giehse sagt, »zum Sagen« – und daß mich keiner hört. Kein Wunder, wenn dann das psychologische Modell, das Triebmengen-Modell, in Kraft tritt: Etwas staut sich auf, und wenn ich dann dürfte, kann ich nicht … Wobei als Verbindung der beiden Versionen und sozusagen Kompromiß in Betracht käme, daß mir ja alle immer schon zugehört hätten, wenn ich nicht ein kleiner Gernegroß wäre und alles haben wollte, alle Geduld und alle Aufmerksamkeit; und Liebe und Respekt und Nachsicht. Wenn ich dann darf, kann ich nicht; denn da ist ja nichts.

Die Sache mit der »düsteren Geschichte«, die der kleine Gernegroß als Schutzschild vor sich herträgt, hat einen Gag: Düster ist sie nur für ihn, unverstellt tragisch! Nimm ihn raus aus der Debatte, und du weißt buchstäblich nicht mehr, was das Problem war. Es sei denn, du schaltest auf Nostalgie um: Da war doch soviel oder Das war doch alles differenziert, präzise angeordnet nach Modus und Tempus; so verdammt ehrlich! Aber die Wahrheit ist niemandes Ehrlichkeit, und deshalb ist sie (heute) auch keine dogmatische Wahrheit (mehr), keine Gewissenserforschungs-Wahrheit, die noch der subjektiven Ehrlichkeit auf die Schliche kommen will. Sie ist einfach, und sie ist so einfach, daß sie es nicht bis zum Gedanken bringt, bis zu seiner Form. Was der kleine Gernegroß, wenn es sie in einer denkbaren Form denn gar nicht gibt, an Möglichkeiten sogenannter geistiger Tätigkeit verliert, das könnte er vielleicht an Möglichkeiten praktischer Tätigkeit gewinnen. Ganz im Ernst, er könnte seine Chancen verbessern, im entscheidenden Moment reflexhaft das Richtige zu tun! Durch eine systematische Abwendung von sich und zugleich von der ihm eigentümlich verbundenen Wahrheit könnte er seine Chancen verbessern, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun. Er könnte die Chancen dafür verbessern, daß – utopisch, traumhaft! – im entscheidenden Moment die Reflexe und das Richtige eins sind.

Wenn es ein Lob der Dialektik gibt – gibt es auch einen Tadel? Lehrerinnendenkweise. Also kurzerhand die Kollegin gefragt: schreibst du etwas dazu, dann versuche ich die Musik.


Das erste Problem: wie kann ein Chor »ich« sein? Die Teilung in Soli und Chor kann es teilweise lösen, doch sollen die Rollen nicht ganz klar verteilt sein, sich gegenseitig aus wechselnder Perspektive kommentieren.



Und ein Chor kann wunderbar hysterisch werden, durcheinander rufen, kreischen: »Ich, ich!!«




Und auch verstummen kann ein guter chorischer Effekt sein, summen, flüstern, ganz aufhörenĀ …

Andererseits sind Begriffe wie »Wahrheit« und »Ehrfurcht« eigentlich unvertonbar, entweder unerträglich – oder geht’s vielleicht doch, nostalgisch, mit einer Prise Ironie ? Den einen stockt das Wort in der Kehle vor Ehrfurcht, während die anderen munter Eisler vor sich hin summen (»das Sichere ist nicht sicher«); die Wahrheit ist vielleicht – oder vielleicht doch nicht ? – zu kompliziert, albert die kleine Fuge pseudobarock herum und zwingt die Stimmen zur Atemlosigkeit.


Die Wahrheit ist einfach die Wahrheit – eine Endlosschleife à la Gertrude Stein im fröhlichen alpenländischen Zwiefachen, die fern aller gerundeten musikalischen Form daherkommt. Die Argumentation bleibt dabei auf der musikalischen Strecke, sie kann nur gesagt, nicht gesungen werden, aber dafür ist ja wieder die Gegenüberstellung von Soli und Chor gut, zu der die Musik ja auch am Ende zurückkehrt.

Das »Tun« allerdings ist ohne Peinlichkeit kaum musikalisch darzustellen, aber vielleicht ist gerade der statische Klang, der dem Ganzen unterlegt ist, eine Möglichkeit, minimale Bewegungen wahrzunehmen – oder sie sich herbeizuwünschen.

Tadel oder Lob? Immerhin liefert Eislers »Lob der Dialektik« das gesamte Material: Alles basiert auf den Tönen zweier einander ähnlicher Akkorde (der Einleitung und der Harmonie bei »Heute noch!«). Durch die Kombination der beiden Klänge sowie die Verwendung zweier Zitate im Chorsatz (»Das Sichere ist nicht sicher« und »Wer wagt zu sagen: niemals?«) entsteht ein etwas dissonanteres harmonisches Gefüge. So wird das »Lob« zerlegt und bewahrt, kurz: aufgehoben!

O Dialektik!



Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt18a.html.
Erschienen in: So wie es bleibt, ist es nicht [Programm zum 30.Jubiläum des Hanns Eisler Chores], 28–29.

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