Ilse Bindseil

Zwischen Ursprung und Abspaltung

Giorgio Agambens Konstruktion der Schwelle


Als »Lebens-Form« definiert Agamben in seinem gleichnamigen Essay ein Leben, »in dem es niemals möglich ist, etwas wie ein bloßes Leben zu isolieren« (13). Scharfsinnig vorausgesetzt ist bei dieser alles anderen als naiven – vielmehr in die Weite des philosophischen Denkens und ins Gestrüpp der theoretischen Konstruktionen führenden – Definition, daß die Existenz eines bloßen, wie er sagt, von »Form« entblößten Lebens es erst möglich macht, sich seiner zu bemächtigen; und das wiederum hängt mit der von ihm problematisierten Form der Bemächtigung zusammen, nämlich einer durch und durch ambivalenten Bemächtigung zum Zweck einer Bedrohung, die wiederum der Bemächtigung dient. Was dagegen gebunden ist, das könnte man zweifellos immer noch bedrohen, man könnte es auch vernichten, aber man könnte jedenfalls kein Doppelspiel, kein double-bind-Spiel mehr damit treiben. Es ginge nur etwas kaputt, es entstünde nichts daraus.

Um dieses double-bind geht es. Mag sein, daß Agamben, was den Bezug zwischen dem biologischen, »werdenden« Leben und dem bloßen, abgesonderten Leben angeht, ein wenig dunkel ist; auf den ersteren Begriff läßt er sich zu Recht nicht ein, aber der steht, als der andere Bezugspunkt für Blöße am andern Ende der Skala, an deren gegenüberliegendem Ende wiederum das Politische steht, natürlich immer im Raum. Agambens Einstieg über die beiden griechischen Wörter für »Leben«, bios und zoe, legt es zusätzlich nahe, nicht nur von der Existenz eines primär geformten, sondern, wie in stiller Konkurrenz, gleichzeitig auch von einem Leben als einer im logischen und historischen Vor gelegenen Grundlage des Lebens auszugehen, von einem Leben in dieser letzteren Variante also, das der Form erst bedarf. Aber wenn es dieser Form erst bedürfte, dann wäre es natürlich leicht, es von dieser Form zu isolieren, man bräuchte es in seiner ursprünglichen Formlosigkeit ja nur wiederherzustellen. Nur könnte man es dann nicht mehr denken, schon rein logisch nicht, fehlten doch die Formbestimmungen, die zum Denken unerläßlich sind, Denkbarkeit konstituieren. Automatisch landete man also, während man ein primäres Leben suchte, bei diesem Leben als einem vom vermittelten Leben gedanklich abgespaltenen Leben; man würde feststellen, es wäre genau das, was Agamben als bloßes Leben im Auge hat, nur mit einer freundlicheren Aura versehen.

Tatsächlich gibt es eine wichtige formale Übereinstimmung zwischen einem nicht denkbaren, primären Leben, das gegenüber jeglicher politischen Überformung den Platz einer vegetativen Basis oder eines evolutionären Davor beansprucht, und einem aus dem politischen Zusammenhang ausgesonderten, auf vegetative Nacktheit und evolutionäre Primitivität mühselig heruntergebrachten Leben, das also ganz und gar abgeleitetet ist: Beide können, wie in Agambens Modell der einschließenden Ausschließung oder ausschließenden Einschließung angedeutet, nur im Ganzen eingebaut und eingefangen werden, das als vorgängig gedachte bloße Leben, weil es keine Denkbestimmung enthält und in heideggerschem Sprachgebrauch nur angedacht werden, ihm gedanklich nur ein Platz angewiesen werden kann, das bloße Leben als äußerstes Reduktions- und Spaltprodukt aber, weil es sich durch Verdinglichung, also durch die Abspaltung von dem diskursiven Zusammenhang, der es denkbar macht, konstituiert. In Agambens These von der Selbstproduktion von souveräner Macht durch Produktion eines an sich souveränen Objekts, des bloßen Lebens – das, von der souveränen Macht produziert, ihr als nicht bloß logische Voraussetzung, sondern echte causa vorangeht, sie legitimiert – finden sich die beiden Bestimmungen des Abgespaltenen und des Primären vereinigt. Das nackte Leben ist seinem abgespaltenen, also nicht mehr aufschließbaren Wesen nach ja etwas, was man gewissermaßen nur in Schlingen fängt, so wie man den begleitenden Schatten nur mit Kreidestrichen umreißen, aber nie in ihn hineinzeichnen kann, ist er doch festgelegt, bestimmt. Das nackte Leben ist der systematische Grund für Herrschaft, von dieser als historischer Grund ausgegeben, und damit sacer: gedanklich als ›Herrschaftslüge‹, Lebenslüge der souveränen Macht unantastbar, heilig, ist es faktisch verflucht.

In dem Maß, in dem die souveräne Macht über sich selbst nachdenkt und sich differenziert, produziert und differenziert sie ihren Gegenstand und Grund: ein Leben, das, als bloß natürliches, aus dem Staat herausfällt und damit natürlicherweise vor ihm geschützt und als natürliches zugleich seinem Schutz anheimgegeben und ihm damit ausgeliefert ist. Unendlich, scheint es, kann der Souverän nun in der doppelten Weise arbeiten: das natürliche Leben als von ihm nicht mit erfaßtes, also vor ihm geschütztes hervorzubringen und zugleich als von ihm beschütztes an sich zu binden und diesen Widerspruch im Ausnahmezustand aufzuheben, wo er dem nackten Leben unmittelbar als Verfolger gegenübertritt und das nackte Leben ihm unmittelbar als verfolgtes. In dem Maß, wie er an dieser Doppelung, der Hervorbringung also des Bürgers arbeitet, der ihm sein nicht-bürgerliches, natürliches Leben wiederum als Pfand in die Hand gibt – als das, worum es im politischen Verhältnis nicht, im vorpolitischen oder mythologischen Verhältnis aber im Grunde geht –, arbeitet er zugleich an der Schärfe des Widerspruchs und am Bedürfnis nach seiner Aufhebung: Wenn er im Übersprung vom politischen zum biopolitischen Modell dann aufgehoben wird, erzeugt der Paradigmenwechsel Entsetzen und Erleichterung, ersteres, weil der Sublimierungsspielraum des Politischen dahin ist, der virtuelle Raum, dies, daß man weiß, daß ja ›alles nur politisch ist‹, Erleichterung aber, weil es unmöglich ist, nicht erleichtert zu sein, wenn etwas Künstliches, in sich selbst Virtuelles, das nur mit enormer Anstrengung aufrechterhalten werden kann, in sich zusammenfällt. Dualistische, auf dem Gegensatz des natürlichen und des politischen Menschen beruhende Modelle können, da sie der aporetischen Grundlage der Herrschaft nicht gerecht werden, mit diesem durch hohe Aufwandsersparnis gekennzeichneten, von einem krudem Scheinrealismus, einer kruden Entsublimierung gezeichneten Modell dabei ebensowenig konkurrieren wie die Modelle einer parallelen Zivilisierung des natürlichen und des politischen Menschen. Das aus dem Politischen ausgeschlossene natürliche Leben wird als natürliches ins Politische eingeschlossen; der Ausnahmezustand wird Programm.

Gegen diese gleichsam wortwörtliche Aufhebung der ›Herrschaftslüge‹, dieses ebenso unausweichliche wie mörderische Zusichselbstkommen der Politik setzt Agamben in der Abhandlung über »Lebens-Form« die Idee eines synthetischen Lebens, das, der Idee der Souveränität rigoros abgeneigt, seinen eigenen Weg verfolgt. Da diese Idee nicht nur das mögliche Ende von Herrschaft, sondern immer zugleich die Frage nach ihrem Anfang thematisiert – geht es eigentlich doch nicht um die Bedingung der Möglichkeit von Synthesis, um die vielmehr von Abspaltung –, muß das Verhältnis von Anfang und Abspaltung noch einmal genauer betrachtet werden.

Einem Leben, »in dem es nicht möglich ist, etwas wie ein bloßes Leben zu isolieren«, geht die Denkfigur des bloßen Lebens, auch wenn dieses in seiner Nacktheit an den Säugling, den biologischen, kreatürlichen Menschen erinnert, erkennbar nicht voraus, sie käme nach ihm. Und dieses Leben, dem Agamben hier gleichsam utopische Dimensionen verleiht und das dem bloßen Leben, es verhindernd, vorausgeht, ist natürlich gar nichts Besonderes. Es kann gar nichts Besonderes sein; denn dann wäre es Abspaltung. Es ist einfach das Leben. Es ist ein Leben, von dem sich, da es das Leben ist, die unentstellte Version des bloßen Lebens, kein bloßes Leben abspalten kann (denn von demselben kann dasselbe sich nicht abspalten). Es ist das in seinem Denken unabänderlich auf sich selbst bezogene Leben, von dem sich, da dieses Denken ein begleitendes, mit dem Leben, damit es zustande kommt, untrennbar verknüpftes Denken ist, auch kein Denken, in Agambens Formulierung, »absondern« läßt. Es ist das sich selbst denkende Leben. Da es das abspaltende Denken und das abgespaltene, bloße Leben aber zweifelsfrei gibt – sonst gäbe es ja beispielsweise keine Menschenrechte und keine Möglichkeit, sie zu entziehen, und der Effekt für den, dem sie entzogen werden, wäre nicht hundertfach schlimmer, als wenn er ein Tier geblieben wäre, ein Sklave oder eine dumme Frau –, da andererseits die Absonderung des bloßen Lebens nicht von einem als Lebens-Form begriffenen Leben geschehen sein kann, so muß das Verhältnis zwischen einem nicht aufgespaltenen Leben und einem aufgespaltenen Leben anders bestimmt werden. Kurz, die Herleitung des abspaltenden Denkens und des abgespaltenen, bloßen Lebens muß eine andere sein.

Der Unterschied, wie er sich darbietet, liegt im Denken. Es muß ein Unterschied sein zwischen einem Denken, das sich immer nur als Leben konstituiert, und einem Denken, das unermüdlich Leben konstituiert, einem Denken, das sich in Leben verwandelt, und einem Denken, das Leben in Denken verwandelt, einem Denken, das über das Leben nie hinausgelangt, und einem Denken, das das Leben immer schon unter sich hat, unter seiner Fuchtel, unter seinen Füßen, saure Trauben, wie es meint, zu süßem Wein stampfend. Nicht das geformte Leben also wäre utopisch – dieses Leben ist sowieso –, nur der gelungene Versuch, es adäquat zu denken. Warum es aber überhaupt gedacht werden soll, das muß wiederum damit zu tun haben, daß der gesamte Aufspaltungsprozeß, als den Agamben die Geschichte des Abendlandes beschreibt und der stets an beiden Enden der Aufspaltung aktiv ist, am biologischen und am zivilisatorischen, der also parallel die Kreatur und den Bürger hervorbringt – um die auseinandergelegten Enden sodann in einer vorläufig letzten Volte im Führer wieder zusammenzubiegen –, daß dieser gesamte Prozeß auf die Seite des Denkens fällt; eines Denkens, meine ich, das sich aus sächlichen Quellen herleitet, nicht aus lebendigen, mit letzteren erst sekundär in ein erkenntnistheoretisch falsches Ableitungsverhältnis tritt und sich als Herrschaft von Menschen über Menschen postuliert (und nicht, wie es ›korrekt‹ wäre, von Sachen über Menschen). Nicht zufällig haftet ›typisch angelsächsischen‹ Herrschaftskonstruktionen wie der Humes, die Herrschaft auf den Schutz nicht von Menschen, sondern von Eigentum gründen – wenn sie dabei natürlich auch von einem menschlichen Anspruch ausgehen, nicht von einem sächlichen Anspruch auf Menschen –, etwas erfreulich Neutrales, etwas so Unemphatisches wie Nicht-Aporetisches an. Nicht, als ob man, im Zusammenhang einer solchen Herrschaftskonstruktion, nicht zugrunde gehen könnte, beileibe nicht; aber sie gründet sich nicht darauf (und das heißt in praxi, man kann sehr wohl zugrunde gehen, und zwar in großer Zahl, aber man muß nicht).

Agamben hält sich hier bedeckt, genauer er vermeidet alles, was den Skandal der Souveränität entschärfen könnte. Gegen das Übergewicht des falschen Denkens bringt er ein mögliches richtiges Denken ins Spiel – das, wie könnte es anders sein, mit allem Denkrisiko behaftet ist, was die Möglichkeit betrifft, selbst abgespaltenes und abspaltendes Denken zu sein. In Rückbezug auf Aristoteles spricht Agamben von einem »experimentum« in Sachen Denken und in direkter Anknüpfung an Averroes vom allgemeinen Intellekt. Gegen die unerwogen bleibende, finstere Möglichkeit, so scheint mir, daß das Denken, sofern es sich verselbständigen kann, aus den Sachen, nicht aus den Menschen kommt, also selbständig ist und sich nicht erst zu verselbständigen braucht, setzt Agamben die mit der gleichen Macht des Allgemeinen ausgestattete Potenz eines Denkens, das sich nicht im Einzelnen, sondern in der multitudo, als Mitteilung, als Kommunikation über dieses gemeinsame Vermögen realisiert. In dieser des Austauschs und der Verständigung bedürftigen Natur des allgemeinen Denkens, das nur existiert, indem es sich herstellt, sieht Agamben eine mögliche Gegenmacht zu einem aufspaltenden Denken, das kein Allgemeines formulieren kann, ohne zugleich ein Besonderes zu formulieren, als seinen Grund, seine Rechtfertigung und sein Opfer.

Aber damit ist die Frage noch nicht beantwortet, wie in Agambens ›rein politologischem‹ Zusammenhang, in dem von ihm konstruierten reinen Herrschaftszusammenhang aus einem unaufspaltbaren, geformten Leben, an dem Leben und Denken nicht zu unterscheiden sind, ein aufspaltendes Denken und ein aufgespaltenes Leben entstehen können, und zwar so, daß durch Aufspaltung Herrschaft entsteht und Aufspaltung zur Herrschaft gelangt, während das synthetische Leben in den Untergrund abdriftet, dahin vielleicht, wo Folklore, regionaler Lifestyle, überhaupt das Lokale zu Hause sind, wo, in mediterraner Manier, die Regierung mit Nichtachtung gestraft und der Paella eine ganze Philosophie gewidmet wird. Agambens Äußerung am Ende von »Homo sacer«, der Versuch einer Alternative müsse »aus dem biopolitischen Körper, aus dem nackten Leben selbst den Ort machen, an dem sich eine gänzlich in nacktes Leben umgesetzte Lebensform herausbildet und ansiedelt, ein bios, das nur seine zoe ist« (197) (letzteres in ausdrücklichem Gegensatz gesagt zu den Führern, deren zoe ganz bios ist), muß hier als der existentialistische Hinweis verstanden werden, der er ist, und es muß versucht werden, ihn auf dem Hintergrund der Theorie des general intellect, des Denkens als Potenz, und diese vor dem Hintergrund des biopolitisch radikalisierten nackten Lebens zu verstehen, kurz, das eine mit dem andern in Zusammenhang zu bringen.

Das existentialistische Credo besagt ja nichts anderes, als daß Synthesis nicht durch eine bessere Immunisierung und haltbarere Ausstaffierung des einzelnen, nicht durch eine haltbarere Verklammerung seiner biologischen und seiner bürgerlichen Person erreicht werden kann, vielmehr umgekehrt nur durch eine radikale Entblößung des Lebens, so wie die Logik der Geschichte sie, allen zivilisierten Vorstellungshindernissen zum Trotz, wahrgemacht hat. Dieses bloße Leben mußte erst hervorgebracht werden, im Zuge jener als Zivilisation begriffenen Geschichte, die das Individuum, Subjekt innerhalb einer freien Assoziation von Subjekten, hervorbringen sollte und zugleich den Lagerinsassen, das unendlich anonymisierbare Objekt eines zur Regel gewordenen Ausnahmezustands, das also das eigentliche Definiens des Individuums, seine ›Schwellenexistenz‹ hervorgebracht hat, das heißt seine beständige Bedrohung durch Entindividualisierung und nackte Vernichtung. Das geschah Agamben zufolge nicht durch das Wirksamwerden eines geheimen teleologischen Prinzips, das in der Barbarei selbst steckt. Es geschah vielmehr, weil bereits der Anfang der politischen Geschichte durch einen allerdings verborgenen, nur in Spuren virulenten Widerspruch charakterisiert ist, auf dem die gesamte Zivilisationsgeschichte der abendländischen Menschheit nicht nur basiert und den sie also fortentwickeln oder überwinden könnte, sondern den sie, da er verborgen war, zuallererst herausarbeiten, dessen innere Systematik sie darstellen mußte. Dieser Widerspruch stellt sich politisch dar als die paradoxe Notwendigkeit, daß Herrschaft sich ihr Objekt erst schaffen muß und der Grund für Herrschaft tatsächlich in nichts anderem als in ihr selbst besteht; so daß die Frage nach dem Beginn von Herrschaft vollends rätselhaft wird. Dieser Widerspruch stellt sich laut Agamben zugleich philosophisch dar als haplos, das reine Sein der »Prima Philosophia« (190), das nun allerdings von jedem Widerspruch gereinigt ist, so daß sich vielleicht hieraus eine Möglichkeit ergäbe, sich den nicht widersprüchlichen Anfang eines Grundwiderspruchs wenigstens modellhaft vorzustellen: als Mißverständnis. Daß das reine Sein, wie Agamben sagt, einer der »leeren und unbestimmten Begriffe«, die »den Schlüssel zum historisch-politischen Schicksal des Abendlandes standhaft zu hüten [scheinen]« (191), nichts anderes als die »nackte Existenz« des auf seine kreatürliche Nacktheit und politische Verfügbarkeit heruntergebrachten Lagerhäftlings ist, »rein« also gleich »nackt« und nicht etwa erhaben, als Nacktes zugleich existierend, keine bloße Worthülse, wirklich – das zu begreifen bedurfte es der Geschichte. Nicht mußte die Unwahrheit des reinen Seins sich herausstellen, sagen wir durch die Herausprozessierung der konkreten Vermittlungsstufen des Seins und also sein Unreinwerden. Vielmehr mußte seine Wahrheit sich herausprozessieren. Die Frage, die der dunkle Anfang der Herrschaftsgeschichte stellt, lautet nicht: Was ist falsch am reinen Sein, das heißt, was haben die Philosophen falsch gemacht? Die Frage, im nachhinein gestellt, heißt vielmehr: Was ist wahr am reinen Sein, und diese Frage ist korrekt nur gestellt als: Was ist die Wirklichkeit des reinen Seins? Oder beinahe in der Kindersprache gefragt: Wie ist das reine Sein wirklich? Beantwortet, so daß sie in dieser Form überhaupt gestellt werden konnte, hat diese Frage das Vernichtungslager des 20.Jahrhunderts, hat sie die Oszillation des Todes in der modernen Medizin, hat sie also gleichermaßen der sogenannte Rückfall in Barbarei wie der stürmische Fortschritt (wobei es mir persönlich schlechterdings unmöglich ist, bei dieser Antwort bloß Entsetzen und nicht zugleich Überdruß zu empfinden, wird in ihr doch nicht bloß materiell das Ende der mit Auschwitz in der Tat zu Ende gegangenen bürgerlichen Geschichtskonstruktion erkennbar, sondern gleichzeitig formal das bloß Konstruierte an der Konstruktion).

Dieses im Vergleich zum ›reinen‹ Sein unendlich wertlose, einzelne, nackte Sein, von dem laut Agamben eine Gegengeschichte ihren Ausgang nehmen könnte, hat als Vorzug, daß die Frage, wie es zu ihm gekommen ist, sich nicht stellt bzw. daß sie, im Gegensatz zu jener Ursprungsfrage leicht zu beantworten ist ebenso wie, von ihr ausgehend, die Frage nach seinen Bestimmungen und seinem Wesen. In seinem Beispiel vom Muselmann, jener Verkörperung des neo-mort oder Untoten im Kontext des Lagers, der die Gefahr, die ihm vom SS-Schergen droht, nicht mehr von der unterscheiden kann, die von der Kälte ausgeht, schildert Agamben, wie das bloße Leben sich selbst von seiner Bindung an die Ausnahme – hier in der Verkörperung der faschistischen Ausnahme, die die Regel ist – befreit und sich der Herrschaft entzieht. So »scheint der Aufseher ihm gegenüber bisweilen plötzlich machtlos zu sein, wie wenn er für einen Augenblick zweifeln würde, ob das Verhalten des Muselmannes […] nicht eine unerhörte Form von Widerstand sei.« (194) Ein theoretisches Verständnis könnte hier anknüpfen; es könnte das bloße Leben ohne seine traditionelle Bindung an die Ausnahme zu denken versuchen, als die Regel vielmehr, als die es bereits im parmenideischen reinen Sein aufscheint; wo es der Ausnahme freilich nicht bloß unbedürftig, vielmehr gegen sie abgedichtet ist, wodurch es selbst als bereits Resultat, als gereinigter Widerspruch erkennbar wird. Es könnte in ihm dann jene zentralen Bestimmungen wiederfinden, die Agamben in seiner ganz unpolitischen Abhandlung über »Lebens-Form« als die Bedingung für die Verhinderung einer Produktion von nacktem Leben nennt: daß eine multitudo existiert, eine Menge; daß der einzelne in dieser Menge seine qualitative Unvollständigkeit, sein bloß partielles, nicht exemplarisches Wesen erweist; daß das Leben dieser multitudo – im Gegensatz zum reinen Sein der antiken Aristokraten – nichts enthält, was es zu verteidigen und wofür es folglich zu kämpfen lohnte, daß also nichts anderes als »Glückseligkeit« (14) sein Ziel und nichts anderes als »Potenz« (17) sein Wesen sein kann; daß schließlich sein Denken und sein Leben eins sind.

Auch wenn Agamben in einer merkwürdigen Unmittelbarkeit – die durch die fragmentarische Form seiner Überlegungen, zumal in »Lebens-Form«, gerechtfertigt wird – Aristoteles, Averroes und Dante und schließlich Karl Marx bemüht, er hat die Zukunft des Menschen vom Lager her gedacht.

Das ist natürlich ein gewagtes Vorgehen: Das reine Sein des Parmenides und das bloße Leben des Häftlings von Auschwitz werden im pointierten Sinn aufeinander bezogen. Was Parmenides kategorisch getrennt hat, das Sein und das Nichts, erweist sich am Ende der Geschichte – das, wie schon angedeutet, wohl eher das Ende der Geschichtsphilosophie ist – als dasselbe: Auch das Nicht-Sein ist; im bloßen Leben ist ihm eine Verkörperung, im Lager eine Lebensform gegeben. Am Vorabend einer »beispiellosen biopolitischen Katastrophe« (198), die auf der Grundlage aller im Laufe der Geschichte entwickelten Schutz- und Rechtsbestimmungen, nicht ihnen zum Trotz sich ereignen würde, scheint es Agamben angezeigt, diesen wohlwollenden Bestimmungen seinerseits das Wohlwollen zu entziehen und die von Adorno und Horkheimer so genannte »Dialektik der Aufklärung« oder den dieser Formulierung zugrunde liegenden Freudschen Begriff der Ambivalenz zu entdialektisieren und eindeutig zu machen im Sinn von Unheil und Haß, Schluß zu machen mit dem ewigen Schwanken; Schluß zu machen, setze ich hinzu, auch mit dem ewigen Zufluchtsuchen bei dem, was und bei dem, der einen nur vernichten kann. Was dabei zugrunde geht, ist, da das Böse der Entwicklung ja schrankenlos anerkannt wird, natürlich das Gute: Selbstbestimmung, als ein vertretbarer Inhalt, geht zugrunde. Individualität, Verwirklichung und Selbstverwirklichung: sie alle werden zu Etappen in der Produktion eines Lebens, das ihrer entraten kann und das deshalb permanent bedroht und im Endeffekt auch umgebracht werden kann, ohne daß der, der es tötet, Mörder genannt werden muß.

Agamben schlägt vor, zwar nicht von vorn – das reproduzierte nur die Aporie –, aber von ganz unten anzufangen: bei den Menschen, die nicht mehr erniedrigt werden können und, wie das Beispiel des Muselmanns zeigt, im Grunde auch nicht mehr bedroht; bei denen das Herrschaftsmodell, das Souveränitätsmodell also an sein logisches Ende kommt: wenn Herrschaft nicht länger Beherrschte produziert, sondern, in einem Paradigmenwechsel sondergleichen, bloßes Leben, das nicht mehr zu bannen ist, womöglich Natur. Sein Problem ist natürlich, daß von dieser untersten, von allem Menschlichen entblößten Existenz kein gangbarer Weg führt zu einem besseren Gebrauch des Denkens, wie er in den Bestimmungen des averroischen Aristotelismus aufscheinen mag, nämlich zu einem besseren Leben. Die nackten Bestimmungen dieses Denkens sind am bloßen Leben zwar zu studieren, aber es folgt nicht notwendig ein Gebrauch daraus.

Der einzige alternative Gebrauch des Denkens, den ich selbst mir theoretisch vorstellen kann, ist der Verzicht auf den Gebrauch des Denkens. Auf den Gebrauch des Denkens verzichten kann aber im Grunde nur das Denken selbst. Es kann dem Allgemeinen an ihm Rechnung tragen dadurch, daß es sich weigert, sich zu spezifizieren – wissend, daß alle Spezifikationen Abspaltungen sind, nicht nur die ungenügend oder in verwerflicher Absicht konstruierten. Es kann dem Spezifischen an ihm, seinem Spezifischen – daß es Denken ist und nichts sonst – dadurch Rechnung tragen, daß es seiner selbst inne wird und sich nicht anwendet. Es kann, schließlich, seiner möglichen Herkunft aus den Dingen, nicht aus den Menschen dadurch Rechnung tragen, daß es sich von dem, in dem es unvermeidlich denkt, nicht in Gebrauch nehmen lässt, daß es gewissermaßen im Zustandspassiv verharrt, gedacht zu sein – also zu den Bedingungen zu gehören, nicht zu den Handlungen –, und sich weigert, jemals in die Form des Vorgangspassivs überzugehen, daß es gedacht wird, die nur die andere Form des Aktivs ist. Diese Weigerung kann es in der fernöstlichen, ebenso schwierigen wie bündigen Form der Enthaltung tun. Oder es kann es in der abendländischen mühseligen und ausführlichen Weise der Selbstaufhebung, der Zerstörung von Gedachtem durch Denken tun, wofür nach meinem Verständnis »Homo sacer« ein großartiges und übrigens durchaus meditatives Beispiel ist.

Literatur


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt16.html.
Veröffentlicht in: Mutmaszung 1 (2004), 20–26.

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