Ilse Bindseil

Über die Ungewißheit der Grenzen

1. Trennung von Festem und Flüssigem – der erste Schöpfungstag

Nichts sicherer, als daß es geschieden war, nachdem Gott es getrennt hatte, das Feste und das Flüssige. Auf diesen Unterschied baute er die Schöpfung. Über dieser Verschiedenheit erhebt sie sich, wächst aus dem Ungeschaffenen, dem Nichts, wie der Felsen von Saint Malo aus dem Wasser, oder wie Helgoland.

Nichts ist gewisser, als daß es eine Grenze gibt, eine felsige Küstenlinie, zumindest einen Saum. Inbegriff des Festen ist dies Felsige. Klippen sind der Inbegriff der Küste; denn das Wasser geht immer, soweit man es läßt; das Feste aber bleibt bei sich, ausgerechnet die res extensa dehnt sich nicht aus!

Daß es mehr Salzwiesen und Strand als im eigentlichen Sinn Küste gibt, daß überhaupt das Ufer, näher betrachtet, ein umkämpftes Terrain ist, ein Schlachtfeld, tut dem Prinzip keinen Abbruch. Auch wenn Gott nicht sorgfältig genug geschieden hat (vielleicht im Interesse der Trennung, in weiser Erfindung der Knautschzone): Der Unterschied existiert allemal, und die Grenze ist für den, der die Küste von weitem überblickt, in ihrem Verlauf stets gut zu erkennen.

Unleugbar, daß Gott, der Schöpfer, mit dem Ungeschaffenen zu tun hatte. Als Allesschaffender mußte er es mit schaffen, und er tat es, indem er, das Feste vom Flüssigen scheidend, nicht nur das erstere, sondern auch das letztere schuf. Das Feste schuf er durch Verdichtung, das Flüssige, indem er es begrenzte. Denn das Feste zieht sich zusammen und türmt sich auf, das Flüssige aber dehnt sich; man kann es eigentlich nicht schaffen, da man umgekehrt, um es zu begrenzen, etwas schaffen müßte, wodurch es allerdings erst regelrecht existiert, den Status der res extensa erlangt. Übrigens heißt es im Schöpfungsbericht ja auch nicht, daß Gott Festes und Flüssiges, sondern daß er Erde und Meere schuf, und vom Festen und Flüssigen heißt es, daß er sie trennte. So, sie trennend, schuf er die Welt.

Vom Festen lernte er dabei, was Schaffen wäre, nämlich dieses Sichzusammenziehen und Sichauftürmen, das in der Form des »Sich« geschieht, so daß man es nur beobachten, nicht selbst bewerkstelligen kann; man ist eben Zeuge.

Beim Schaffen lernte er, wie das Nichtgeschaffene beschaffen ist. Nichts weniger als nichts, ist es bloß ohne Form. Da es aber, wenn es ohne Form ist, glücklicherweise auch ohne reflexive Form ist, läßt es sich prima schaffen. Auch wenn man es faktisch bloß begrenzt, so hat diese Begrenzung doch den Charakter emphatischen Schaffens, da das Unbegrenzte zugänglich ist.

Schaffen – auch wenn man es genau nimmt, als das, was Gott vorbehalten ist, in seine Zuständigkeit fällt – ist Scheiden. Und da Scheiden natürlich nicht das ist, was man unter einer anständigen Schöpfung versteht (ist es doch bloß analytisch, nicht kreativ), haftet der Schöpfung auf immer etwas Ungeschaffenes an, eine Unselbständigkeit, eine fortdauernde Abhängigkeit von dem, der es schuf und von dem Moment, in dem es geschaffen wurde, und ohne Bezug auf diesen und auf jenen kann es sich als Geschaffenes gegenüber dem Ungeschaffenen nicht behaupten.

Auf ewig scheint verbunden, was durch Trennung entstand; diese Trennung ist ja sein Entstehen; um es emphatisch zu sagen: sein Sein. Das Getrennte sehnt sich eines nach dem andern; aus seiner Vorgeschichte – die freilich nicht seine wirkliche Vorgeschichte ist, da es durch Trennung ja erst entstand: historisch und systematisch, also als Existierendes und als Denkbares –, aus dieser Vorgeschichte zimmert es sich seine Geschichte: als Trauer und Tröstung. Der abstrakten Form nach empfindet es sich als Fragment, bestenfalls als Hälfte einer anderen Hälfte, die ihr entspricht, wie Platos eine Kugelhälfte der andern. Aber nicht nur sein Lebensgefühl, auch sein Denken ist durch diesen Bezug bestimmt, insofern es nämlich transzendendal ist: immer und immer will es über die Grenze.

Greifbarer – im Wortsinn, wie der »Nabel« des Luftballons, an dem man ihn aufbläst und an dem man ihn hält – und damit wirklicher als das Abgetrennte ist der trennende Augenblick oder Akt. Er markiert den unvollkommenen Charakter der Schöpfung und stigmatisiert die Geschichte als eine, die an ihrem Anfang aufgehängt ist und es dadurch nie zu einer souveränen Form bringt, die von allen Seiten betrachtet werden kann wie das Dreieck oder das Quadrat, die geometrischen Figuren eben. Und vielleicht sagt man ja deshalb von aller Schöpfung und aller Geschichte, daß sie in bezug auf diese reinen Formen mißglückt sind.

Was wäre denn, wenn man das Geschiedene von seinem Anfang abschnitte – so wie man das Bändchen, mit dem man den Luftballon zusammenbindet, von seiner Garnrolle abschneidet, aber doch nicht zum Beispiel den Luftballon von seinem »Nabel«! Dann wäre es nicht; kurz, man müßte es vollkommen neu definieren, ohne kategorialen Bezug aufeinander, und auch ohne Bezug auf sich selbst; denn nicht nur das Geschaffene definiert sich durch das Ungeschaffene, sondern auch die Schöpfung durch das Schaffen. Gewissenhaft müßte man prüfen, was denn als Inhalt bleibt, wenn sie sowohl ihren unterscheidenden als auch ihren charakterisierenden Bezug verlieren: im kategorialen Bereich nichts, in einem freilich völlig verrätselten Ansich alles.

Im Vergleich zu diesem Nichts – im Vergleich auch zu diesem völlig verrätselten Ansich – hat die geteilte Welt durchaus ihre Vorzüge. Zwar bekommt man nie das, was man wollte (was schon an dem zeitlichen Moment liegt, mit dem die Welt dadurch, daß sie geschaffen wurde, behaftet ist); oder man bekommt, was man wollte, nie ohne das, was man nicht wollte (sei es in Gestalt des Gegenteils, sei es in Gestalt des Ausgeschlossenen, sei es in der des Verlorenen). Schlimmer noch, das Wollen dessen, was man will, verlagert sich immer mehr zu einem Vermeiden dessen, was man nicht will bzw. umgekehrt zu einem bloß gedanklichen »Wollen«, das heißt einem Thematisieren, samt allem, was man perhorresziert oder auch bloß vermeiden möchte. Und auch wenn man das beileibe nicht »will«, so formalisiert sich auf diese Weise doch das Wollen. Aber irgendwie ist dabei alles vorhanden; durchaus nicht bloß in diesem völlig verrätselten Ansich, vielmehr in dem, was nun denkend gewollt und eben gedacht wird; also nicht so, wie es ursprünglich gewollt und gedacht wurde – »ich dachte, wir könnten ...« –, sondern mit einem starken touch von Wollen und Denken, formalisiert eben (aber auch beileibe nicht reine Form, als Inhalt vielmehr unter das Mikroskop der Kategorien gerückt, sozusagen gerastert). Es ist, wenn auch geheimnisvoll verundeutlicht oder gar böswillig entstellt. Und was die eigentliche Kalamität bei der Sache ist: Das Merken des Falschen führt in die falsche Richtung (in die des Merkens); die Korrektur macht den Schaden unkorrigierbar (da sie ihn im Medium des Falschen korrigiert und das Falsche durch diese Verdoppelung im Medium der Reflexion so autonomisiert, daß vollends zum Rätsel wird, warum es dennoch wie aufgehängt wirkt). Aber es ist, oder es ist: Geschichte ist Sein, Schöpfung ist Sein; wenn man es nur erkennen könnte!

Die Ungewißheit der Grenzen geht also auf den Schöpfungsakt zurück, nicht lediglich historisch (oder mythologisch), sondern systematisch: darauf, daß sie geschaffen sind. Trennen statt Schaffen zeugt dabei nicht nur von ungenügender Qualifikation, sondern durchaus von Realismus und Sinn für Ökonomie: der ganze Komplex des Woher und Warum, auch der ganze Komplex des Wie einer Schöpfung aus dem Nichts wird schließlich erspart. Es gibt keinen Anfang. Dafür entsteht eine Grenze innerhalb der Schöpfung, zwischen dem, was geschaffen ist (obwohl das eigentlich nur sich selbst schaffen kann), und dem, was ist, obwohl es nicht geschaffen ist. Nach beiden Seiten hat die Grenze eine höchst unterschiedliche Wirkung und Funktion – Asymmetrie ist die Formel für eine Welt, die, weil sie geteilt ist, sich für symmetrisch hält und auf symmetrische Erklärungsmuster setzt! Das Ungeschaffene schafft sie, indem sie es begrenzt, und die Schöpfung (die eigentlich nur sich selbst schaffen kann) schafft sie, indem sie das Ungeschaffene begrenzt (es also systematisch außen vor läßt).

Der Grenze selbst haftet etwas Widersprüchliches an: Linear, wie Grenzen so sind, eigentlich eine Kante, an der die Welt umgeklappt wird, also ein Element des Raums (Ausgangspunkt unendlicher Beschreibungen), ist sie zugleich der Punkt, an dem diese Welt entstand, also unangenehmerweise ein zeitliches Moment (Ausgangspunkt zahlloser Berichte) und, als des Rätsels Lösung, zugleich ein abstraktes Prinzip. Vielleicht sind wir hier ungefähr an dem Punkt, den Foucault mit seiner Formulierung von der »Repräsentation der Repräsentation« in Die Ordnung der Dinge gemeint hat.

2. Das Ufer

Wenn, wie man gewöhnlich unterstellt, die Grenze einen Unterschied verbürgt – einen Unterschied zwischen dem, was sie trennt –, so verdankt sich diese Leistung genau nicht ihrer Erscheinung als Grenze, und im Gegensatz zu dem, was man sich von ihr verspricht, verbürgt sie auch keine Klarheit. Vielmehr wird ihre horizontale Erscheinung als Grenzziehung, Linie, durch eine vertikale Anbindung, eine fortdauernde Anbindung an einen Ursprung substantiiert. Und da eine Vertikale eine Horizontale nicht substantiieren kann, wird der Unterschied zwar substantiell, aber das, was er unterscheidet, zugleich enorm dunkel.

Der substantielle Unterschied schöpft also aus dunklen Quellen. Durchschaut man sie, schwindet er. Nimmt man dagegen mit einer vergleichsweise willkürlichen, aus der horizontalen Teilung gewonnenen Grenze vorlieb, dann geht man vom Unterschied nicht aus; die Grenze beruft sich nicht auf ihn, sie liefert nur den Antrieb zu unterscheiden. Es ergibt sich erneut eine vertikale Struktur, aber nicht in die Vergangenheit gerichtet (und an die Zukunft kann man sich bekanntlich nicht anbinden). Die Bindung besteht im mangelnden Unterschied des Getrennten. Die Trennung ist klar, aber der Unterschied muß sich erst herstellen. Der Unterschied wird immanent sein, er bildet sich im Innern des Ununterschiedenen, aber Getrennten heraus, da, wo getrennt wird.

Zwischen Festem und Flüssigem entsteht das Ufer. In horizontal angeordneten Schichten, in Streifen, stellt es die innere Anatomie des Festen zur Schau (oder des Flüssigen, soweit es fest ist): Sand, Muscheln, Kies und grobe Steine. Das Flüssige hat ihnen seine Form aufgeprägt. Sie sind hübsch wellenförmig drapiert oder makaber aufeinander getürmt. Man sieht, daß das Flüssige seine eigene Festigkeit hat und das Feste seine eigene Formlosigkeit, wenn ihm nicht vom Flüssigen dessen Form aufgeprägt wird. Das Feste wird analysiert – es zerlegt sich, arbeitet seine stoffliche Natur heraus, erweist sich als »bloße« Materie. Das Flüssige – ausgerechnet es, das immer so weit geht, wie man es läßt, dieser blöde Pudding, Inbegriff des Difformen – sublimiert sich und erweist sich als Form.

Im Herzen der Schöpfung also, im Zentrum der Immanenz, da wo das Flüssige und das Feste sich auseinanderdividieren müssen, um fortan aneinanderzugrenzen, entsteht der Unterschied. Der muß, um der mit ihm verbundenen Leistung und also seiner Definition gerecht zu werden und Verschiedenheit gewährleisten zu können – und obwohl er in dieser Funktion, als Urteil, wesentlich singularisch ist –, beides enthalten, und zwar aufeinander bezogen, als Zusammenhang, aber in sich getrennt und von sich selbst unterschieden: das Feste von sich als bloße Materie und das Flüssige ausgerechnet als Form!

Im Unterschied inbegriffen ist seine Dynamik: daß er sich verfestigt, verholzt. Er bildet eine immer haltbarere Grenze aus, Inbegriff eines festen Ufers, eines sicheren Ports. Die Verfestigung geschieht auf verschiedenem Weg, nur nicht auf dem, an den die unmittelbare Vorstellung glaubt: als Festwerden einer als solche ja gar nicht existierenden Linie bzw., wenn sie existieren würde, als Festwerden aus eigener Macht. Der Prozeß der Verfestigung vollzieht sich entweder nach dem eingangs beschworenen Slogan: »Das Wasser geht, soweit man es läßt, und steil erhebt sich die Küste.« – wobei die Verfestigung in Wirklichkeit in einem Rückzug aufs Feste und also in einem ganz anderen Vorgang besteht, einem gegensätzlichen. Oder aber er vollzieht sich an verschobener Stelle, und da in merkwürdig wortwörtlicher Form: als Verlandung. »Von der Düne zur Salzwiese«: Dieser Prozeß ist, als qualitativer Prozeß, schwerwiegend, aber nicht einschlägig; nicht der Unterschied wird fest, sondern das Flüssige. Es ist jetzt fester als vorher, d.h. der Unterschied wird nicht hervor-, sondern zum Verschwinden gebracht; um ihn hervorzubringen, muß man die Verlandung in der Vorstellung rückgängig machen können, d.h. man muß sie zur Vorstellung eines Prozesses machen, in dem man beliebig vor- und zurückschaltet.

Die Vorstellung vom Festwerden der Grenze ist also in verschiedener Hinsicht geborgt: Rückzug aufs Feste (das sich dann »allein überlegen« kann, wie es zustande gekommen ist und woraus es besteht) oder Imperialismus der Landgewinnung, der die Grenze nicht nach hinten, sondern nach vorn verschiebt (was in der politischen Vorstellung übrigens der Verfestigung des Kernlandes dient, seiner Stabilisierung). Es gibt eine dritte Vorstellung, die ebenfalls etwas Metaphysisches hat, also die Kraft der Überzeugung keineswegs allein sich selbst verdankt, aber dem ursprünglichen Gedanken vielleicht am nächsten kommt. Ihr zufolge handelt es sich beim fortschreitenden Unterschied eher als um ein immer festeres, um ein zunehmend breiteres Ufer, um die Entstehung einer immer umfangreicheren Austauschzone, ja um die tendenzielle Uferwerdung der gesamten Schöpfung, so daß man sagen könnte: In der ersten Phase der Schöpfung wird der Unterschied zwischen Festem und Flüssigem hergestellt, in der zweiten Phase wird dieser Unterschied wieder aufgerollt, logischerweise von innen, von jener ominösen Linie her, an der das zu Unterscheidende getrennt wird und das Verschiedene aneinandergrenzt. Da dieser Linie aber kein Sinn zuzusprechen ist, ist das Festwerden der Grenze durch ihre Erweiterung eigentlich nur als Erosionsmodell zu denken. Das Aufeinandertreffen bewirkt etwas; aus der Abgrenzung selbst entsteht der Prozeß. Der Unterschied ist, im Gegensatz vielleicht zum einzigen Motiv seiner Entstehung, nicht neutral zu halten; er wird zur Ursache von Zusammenhang, der Zusammenhang ist die Folge der Unterscheidung.

Natürlich zehrt diese Vorstellung von dem, was in der Unterscheidung gesetzt, dem, was in der Trennung hergestellt wird: vom vorhandenen Festen und Flüssigen. Alle Vorstellungen, die zur Verfestigung der Grenze beitragen, beschreiben ja nicht an sich imaginäre Vorgänge an einer gar nicht vorhandenen Linie, sondern konkrete Vorgänge am Vorhandenen, sagen wir Erosionsvorgänge, die eine breite Trennungszone erzeugen, so, beispielsweise, wie sich an Steilküsten aus dem zersetzten eigenen Stoff Vorzonen bilden, in denen Höhe durch Breite ersetzt ist. Sie schaffen nicht eine festere, aber eine breitere Grenze – dadurch auf Dauer, sagt man, vielleicht doch eine festere, eine festere also als Zeitbestimmung –, eben durch Erosion (wenn das kein Widerspruch ist!). Dabei, und das ist das Entscheidende, kommt nichts Neues zustande, »Grenze«, sondern das Vorhandene analysiert sich bloß. Grenze, als fortschreitender Prozeß gefaßt, wäre demnach der Prozeß der fortschreitenden Selbstanalyse des Vorhandenen (und wenn man keinen festgelegten Begriff vom Neuen hat, so wäre dies eben das Neue). Dieser Prozeß wäre denkbar nur aus der Mitte heraus. Und da die Mitte das Vorhandene voraussetzt, und zwar als Getrenntes, ist er nur denkbar als inmitten eines Prozesses stattfindender Prozeß oder als Beobachtung eines »mittendrin« befindlichen Prozesses!

3. Die Unbeständigkeit der Grenze: Ebbe und Flut

Grenzen können sich verschieben. Die Trennung von Festem und Flüssigem setzt sich fort (oder stellt sich dar), wobei die Bewegung vom Formlosen ausgeht, vom Flüssigen. Da es wenig haltbar, wenig fest und überhaupt wenig abgegrenzt ist, neigt es dazu, sich zu verflüchtigen: es verlandet. Oder es macht den Wasserträger fürs Feste: trägt hier ab und da auf, schleppt hin und her, läßt in beschwerlicher Arbeit alles beim alten. Sein Imperialismus ist von der flachen Art; es überzieht das Feste, es wühlt es nicht auf. Der Mechanismus der Eroberung erlaubt einen Blick auf das Bestehende: Es selbst, das Flüssige, liegt im Festen wie in einer Schüssel!

»Und dennoch ist Einer, der bei diesem allen die Fäden zieht.« Nicht um einen einzigen Millimeter verschöbe sich nach jener ersten Trennung die Grenze, gäbe es nicht außerhalb des dualen Systems eine dritte Kraft (oder hätte Gott nicht die Kraft für sich behalten!). Immerhin, durch den Druck des Flüssigen kann das Festland immer noch nachgeben und ins Meer rutschen; eine erhebliche Grenzverschiebung mag die Folge sein, denn wer weiß, wo die nächste Barriere dem Flüssigen Einhalt gebietet. Aber die Bewegung, um es paradox auszudrücken, ist statisch: Von Faktum zu Faktum geht dabei der Sprung und kommt sogleich zur Ruhe. Es ist, wie wenn in einer tödlich verstrahlten Stadt plötzlich ein Wecker klingelt; die Programmierung war vor dem allgemeinen Sterben. Ohne eine dritte Kraft kommt eine reale, d.h. in der Gleichzeitigkeit gelegene Bewegung nicht in Betracht. Stillstand regierte.

Diese dritte Kraft ist nicht die, die die Welt schuf. Im Vergleich mit Gott spielen Erde und Meer und sagen wir der Wind oder der Mond gewissermaßen in einer anderen Liga: Gott schöpft, und sie sind ein Teil des Geschehens! Mag sein, daß diese dritte Kraft ein wenig ferner, ein wenig geistiger ist und zu Verschwörungstheorien Anlaß gibt; Gott, »laß die Winde los«, heißt es schließlich beschwörend im Gedicht. Aber der Verschwörungstheorie entspricht das Gemeinschaftsgefühl und dem Gemeinschaftsgefühl die ins Zirkuläre gebannte Bewegung; spektakulär ist sie, weil sie immanent ist.

Inbegriff einer solchen gebannten Bewegung sind Ebbe und Flut. Sie markieren eine konträre Richtung sowie, als Drittes, einen Zustand, sagen wir »Watt«. Nichts im Wesen des Festen und des Flüssigen bewirkt das Steigen des Wassers, und nichts bewirkt sein Fallen; und dennoch findet es statt. Mal ist die Erde Meer – und dann sieht es so aus, als gäbe es weder Gezeiten noch überhaupt das leiseste Problem mit der Grenzziehung – und mal das Meer Erde; und in diesem letzteren Fall ist alles im Mangel. Der Umdeutung der Biologen bedarf es, um zu begreifen, daß auch dieser Mangel ein Etwas ist.

Was aber geschieht bei Ebbe und Flut, abgesehen davon, daß immer das gleiche geschieht? Wie bei der Spektralanalyse der Farben, so arbeiten bei Ebbe und Flut sich wechselnd das Feste und das Flüssige heraus: strikt aufeinander bezogen. Geht es beim Farbspektrum um die Facetten der einen Farbe Weiß, so liefern die Gezeiten das Spektrum für die verschiedenen Zustände von »flüssig« und »fest«. Aufgeblättert werden die verschiedenen Stadien ihres Konjugierens. Enthält das Farbspektrum die Farben der einen Farbe Weiß, so das Spektrum der Gezeiten die möglichen Verbindungen zweier gegensätzlicher Prinzipien, fest und flüssig. Wenn das Wasser sich zurückzieht und gleichsam ein Schatten über den Sand läuft und der stoffliche Vorgang sich in einen optischen auflöst, dann entsteht für Sekundenbruchteile ein sinnlicher Eindruck von der Sinnlosigkeit aller dualistischen Modelle: Eins wechselt sich mit sich ab, sonst könnten die Übergänge nicht nahtlos sein, bewegte sich die Welt ruckhaft, in Sprüngen. »Sich« ist, wie eingangs festgestellt, das einzig authentische Schöpfungsprinzip. Kontinuierlich ist dagegen die Bewegungsart des Flüssigen, wenn es so weit geht, wie man es läßt, durch keinen Willen »geruckt«. Wo beides zusammenkommt – und das geschieht nur, wo der Wechsel so kontinuierlich wird, daß man auf Eins schließen muß –, da bekommen wir vorgeführt die Selbstbewegung oder die Form der Materie (so daß also, ins Vokabular zurückgerückt, das zerlegte Feste immer noch bloß Stoff, das durchs Flüssige verschieden Durchdrungene aber Materie wäre; und, da schließlich die stoffliche Sortierung des Festen z.B. in Kies- und Algenstreifen auch Resultat einer Durchdringung durch Flüssiges ist, wäre alles Materie: die beobachtbare Durchdringung lebendige, die stattgefundene tote oder Stoff).

Was diese bewegliche Einheit bewirkt, soll ausgerechnet ein Drittes sein; ein Dritter, möchte man sagen, sind die Gezeiten doch vielleicht das geheime Modell aller Drahtziehertheorien, Inbegriff des Marionettenhaften in der Natur. Nach der Pfeife des Mondes tanzt das Getrennte ohne Furcht. Es vereinigt sich, ohne eins werden zu müssen. Es riskiert das Auseinander – mit allen Konsequenzen des Verödens und des Verschwimmens, die im Ernst, d.h. ohne festgelegten Rahmen, ohne Bandbreite nicht zu riskieren wären. Fest im Griff der Wiederholung spielt es auf der Klaviatur der Extreme; beschwört Wind und Wellen, schreckt vor den Stereotypen des Unheimlichen nicht zurück, vor Möwengekreisch und dem Pfeifen des Windes, wagt scheinbar alles und hat am Ende wieder einmal nur ein paar zeremoniöse Schrittchen gemacht. Vor seinem Drahtzieher braucht es sich auf diese Weise nicht zu fürchten, ist er, der Beweger, der Wiederholung doch nicht weniger unterworfen als die von ihm Bewegten. Obwohl an ihm alles hängt, so daß man nur in philosophischen oder religiösen Begriffen von ihm denken mag, als Ursache, Person und Schöpferkraft, hat es gegenüber dem Getrennten doch nicht einmal voraus, daß es zusammenhängend ist – der Mond ist nicht und also auch nicht zusammenhängend – sondern lediglich, daß es eins ist, wo das Getrennte zwangsläufig zwei ist. Zusammenhängend aber ist es darum nicht, weil sein Zusammenhang das Getrennte ist, das es bewegt, und sonst hat es keinen (nur in der völlig verrätselten Form des Ansich) . Es ist das Eine in einer elaborierten Form: mit zugrunde liegendem Getrennten.

Nach der Pfeife des Mondes zu tanzen bedeutet also, die Ungewißheit der Grenze ausreizen zu können, weil die Grenzen der Grenze gegeben sind, die Gewißheit des Eins. Gewiß ist, daß es sich um einen Austausch mit sich selbst, um eine immanente Bewegung ohne mögliches Jenseits handelt, was die Möglichkeit des Verlusts ausschließt, leider auch die Möglichkeit, daß etwas erspart bleibt. Ungewiß ist, was im Schutz der Immanenz alles zur Sprache kommen wird; gewiß, daß alles zur Sprache kommt.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt14.html.
Veröffentlicht in: Mutmaszung 1 (2004), 27–33.

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