Ilse Bindseil

Josef und seine Brüder

Erzählung

I. In Anatolien

Der jähzornige alte Mann war blind, was seinem Zorn keinen Abbruch tat. Für gewöhnlich lief er sich den Wutteufel aus der Seele, indem er auf sorgfältig abgegrenztem Terrain wie ein Feldherr hin und her schritt: hochaufgerichtet, das blinde Auge auf die Ferne eingestellt. In seiner Zeit bei den Franzosen hatte er einen dunkelblauen Blazer mit goldenen Knöpfen abgestaubt, der war mittlerweile speckig, was seiner Vornehmheit keinen Abbruch tat, und paßte hervorragend zu seinem Gehabe. Sie nannten ihn nur den Kapitän. Auch im Alter ging er nicht gebückt, der runde Schädel saß immer noch senkrecht auf dem eingesunkenen Körper; die Schultern hatten die stabile Kreuzform bewahrt, standen rechts und links über. Männlich sträubten sich die Stacheln in dem durch unzählige Runzeln verkleinerten Gesicht. Seine Hände waren so warm wie die eines Jünglings, man nahm sie gern in die eigenen. Er ließ sich betätscheln, wenn er in Stimmung war, und tätschelte zurück. Die trockene Haut hatte etwas Erregendes, wie Lehm, aus dem man das Gebackene herausbricht. Es durfte ihm aber keiner zu nahe kommen. Das hätte geheißen, über ihn zu verfügen und den schuldigen Abstand zu vergessen, der freilich nicht seinem wirklichen Stand geschuldet war, sondern dem Tier in ihm; man hielt sich besser zurück. Mochten sie ihm mit beiden Händen die Pfote streicheln, ehe sie sie ehrfürchtig an Mund und Stirn drückten, ihm machte das alles nichts. Aber wehe, jemand faßte seinen Kopf an, zog ihn zu sich herauf oder herunter und blies ihm etwas ins Ohr! Dann rastete er aus. Tunlich war es, auf die Zeichen zu achten: ob er hin und her tigerte, schnaubend, die Fäuste in den Taschen der graugemusterten Strickjacke, die den Blazer jetzt zunehmend ersetzte, ohne das Kapitänsgehabe zu beeinträchtigen. Auch seine Familie war von der Achtung der Zeichen nicht dispensiert; je häuslicher er sich gab, desto mehr heischte er Respekt. Weder die Frau noch die Söhne durften sich ihm gegenüber das Geringste herausnehmen, was nicht hieß, daß die erstere nicht ständig um ihn sein und den Fäkalieneimer hinausschaffen mußte, auf dem er als einziger sich innerhalb des Hauses erleichterte; wohlgemerkt, erst seitdem er kränklich war. Wenn aber die Frau nicht zur Stelle war – was Gott verhüten mochte –, dann durften das sogar die minderwertigen und deshalb zu noch größerer Ehrfurcht verdammten Schwiegertöchter, denn eine mußte es ja übernehmen.

Der älteste Sohn, Efrem, schien wie von einem unsichtbaren Defekt gezeichnet, einem Leiden oder Laster, so daß der Vater ihn noch weniger in seiner Nähe duldete als die andern, obwohl die sich über Anhänglichkeit von seiner Seite auch nicht beschweren konnten. Hatte er einen unguten Geruch? Der Alte war empfindsam, weil er nichts sah, und bei den Franzosen hatte er Besseres gerochen als nur die Düfte des Stalls und des am Herdfeuer getrockneten Dungs. Er hatte ein gereiztes Näschen, die Wahrheit zu sagen, einen reizbaren Zinken. Aber wenn Efrem wirklich stank, so hatte das außer dem Alten niemand bemerkt. Die andern stinken auch, hätte er auf diesbezügliche Fragen gleichgültig geantwortet; wenn er nicht wollte, dann wollte er nicht. Tatsächlich ehrte er die Jüngeren allenfalls durch Nichtachtung, während er gegenüber dem Ältesten Haß herauskehrte. Wie sie da waren, hatte er sie samt und sonders geschlagen, den einen mit mehr Wut, die andern mit mehr Eifer. Nur gegen seine Frau erhob er nicht die Hand, gegen diese seine zweite; die erste war unter seinen Schlägen zerbrochen, und es ging die Mär, er habe sie umgebracht. Da war er noch nicht blind. In der zweiten ehrte er die Jugend, die sie ihm, dem Alten, wenn auch unfreiwillig geschenkt hatte, und außerdem war ihm vom Schicksal seiner ersten eine Unsicherheit geblieben; auch die hatte er ja nicht umbringen wollen, und es war doch passiert. Er fühlte sich zu alt, um noch einmal auszutesten, wie weit er bei einem Weib gehen konnte, vielleicht auch zu schwach. Eine Altmännerrücksicht kam wie gesagt hinzu, ein Stolz auf die noch jugendliche Behendigkeit seiner Frau, ihre glatten Züge, das schwarze Haar. Was nicht hieß, daß er nicht grummelte und grollte, aber es schickte sich nicht, entschied er für sich selbst, die soviel Jüngere, die sein Bett teilte, mit Fußtritten zu traktieren. Außerdem, wer kümmerte sich um ihn, wenn ihr etwas zustieß? Wenn sie ängstlich wurde und sich nicht mehr in seine Nähe traute: wie sollte sie ihn bedienen? Was er an ihr sparte, das verausgabte er an seinen Söhnen. Er schlug sie heftig und voller Bedacht, unter Berücksichtigung sämtlicher Körperteile, mit denen man zuschlagen konnte, und gleichgültig, wohin er traf. Allein schon die Hand konnte mehr als bloß Ohrfeigen austeilen; unter den Knöcheln platzte die Haut, der Handteller aber klatschte, wie wenn man den Teig prügelte. Kamen die äußeren Waffen, Stock und Gürtel, hinzu. In Erinnerung an seine frühere Sportlichkeit teilte er sogar gezielte Tritte unter die Gürtellinie aus; höher wäre er auch nicht gekommen. Schlitzohr, der er war, war er sich nicht zu schade, einen Trick aus dem Hut der Kampfkünste zu zaubern, so daß der Älteste in die diagonale Ecke flog. Dann war der Sohn gedemütigt, und der Vater lachte zufrieden; bei so gutem Ergebnis verrauchte sein Zorn.

Nur einen schlug er nie. Das war Yusuf, der ihn führte, der seine Zeit zwischen den Ziegen und dem Vater teilte, Yusuf, der Hütejunge, der Blindenführer, sein Sohn.

Am Äußeren konnte es nicht liegen. Der Alte sah ja nicht, daß der Vorletzte, der Älteste der zweiten Frau, ein hübscher Junge geworden war, zierlich und stark, von zartem Antlitz und kräftigem Körperbau. Die schwarzen Haare waren glatt wie ein Teich; die Hände des Alten glitten daran ab. Er war längst blind, als der Junge seinen Hungerbauch verlor und sich streckte, während die kräftige Nase in das stumpfe Kinderantlitz einen kühnen Zug brachte. Und im übrigen waren alle seine Jungs ansehnliche Kerle; Besucher wurden nicht müde, dem Blinden davon zu berichten. Vielleicht war Yusuf ein bißchen feingliedriger als die andern, obwohl, ein Püppchen war der Zweite, Esmer, der von der ersten Frau; ja, so etwas Püppchenhaftes hatte man noch nicht gesehen. Hinter keinem waren die Frauen, die verheirateten und die unverheirateten, die jungen Mädchen und die Matronen, so her wie hinter Halil, der eine Stimme wie Samt hatte und Gesichtszüge wie Chaplin, wenn er geschminkt war. So groß und schwarz und hoffnungslos sahen die Augen nur aus dem Gesicht des Jüngsten, Benjamin, auch zärtlich von der Mutter Ben genannt. Und niemand flößte eine so tierische Furcht ein wie der Älteste, was von etlichen Frauen mit Liebe verwechselt und bitter von ihnen gebüßt wurde. Alles in allem brauchte der Stammvater sich seiner Nachkommenschaft nicht zu schämen. Er schämte sich ihrer auch nicht, er haßte sie bloß. Nur Yusuf haßte er nicht; dafür haßten diesen die Brüder.

Da der Alte dank Yusuf immer noch herumkam, hatte dieser die Sitten der Welt angenommen und war etwas Besseres geworden. In die ehrwürdigen Versammlungen, wo den Erzählungen seines Vaters gelauscht wurde, brachte er die Springlebendigkeit, das Glatte und Schmiegsame der Ziegen. Umgekehrt schwand in der rauchgeschwängerten Atmosphäre der strenge Geruch, den er zum Spott der Brüder nicht loswurde. Wann es angefangen hatte mit dem Alten und dem Knaben, das wußte keiner mehr; wahrscheinlich, als der Vater blind wurde, wann sonst. Aber damals war Yusuf noch zu jung, das Amt setzte ein gewisses Alter voraus. Eine Zeitlang lief der Alte noch allein, aber da sah er schon nichts mehr. Einmal hatte sich Halil verplappert – der, dem die Frauen nachstellten. Er hatte behauptet, auch er habe den Vater eine Zeitlang begleitet, dann aber keine Lust mehr gehabt. Wahrscheinlich war er unausstehlich geworden, hatte sich die Hand gekratzt, auf die der Vater angewiesen war, und behauptet, sie jucke. Er war ein nervöser Junge und, wenn ihn die Lustlosigkeit überfiel, zu nichts zu gebrauchen. Schließlich war das Amt auf Yusuf übergegangen, auch wenn niemand sich daran erinnerte. Es war Gesetz, daß nur er den Vater geführt hatte und kein anderer. Ihm war das recht, hätte er sich sonst doch fragen müssen, ob er nicht eher angeschmiert als auserwählt war. Sein nächstälterer Bruder hatte ein einmaliges Talent, den Schwarzen Peter weiterzuschieben, das unansehnliche Mädchen, die eklige häusliche Pflicht. Besser, er ging davon aus, daß er den Vater immer geführt hatte, auch wenn das die Haltepunkte seiner Erinnerungen ins Wanken brachte; irgendwie stimmte alles nicht zusammen. Den Vater aber interessierten weder Anfänge noch Abschnitte. Yusuf hier und da, so ging es den lieben langen Tag; undenkbar, daß das jemals anders gewesen sein sollte.

Es war etwas zwischen Vater und Sohn, was den ersteren mit einer seltsamen Zuneigung, den letzteren mit seltsamer Furchtlosigkeit ausstattete. Oft genug beging Yusuf beim Führen eine Nachlässigkeit und wurde angeraunzt. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, über eine Pfütze zu springen, so daß der Vater an seiner Hand strauchelte. Oder er zog ihn so ungeduldig, daß der Alte sich fluchend losmachte. Gipfel der Respektlosigkeit, ließ er den alten Mann einfach stehen, weil der nicht wollte wie er, und ging weiter. Einmal kehrte er sogar allein nach Haus zurück –, was das für einen Terz setzte! Natürlich mußte er den Alten suchen und ihm, der sich ins Blinde vortastete, erneut die Hand geben und der sie nehmen, nicht aus Zutraulichkeit, sondern weil es nicht anders ging. Das ging nicht ohne Kampf ab. Sie zwickten und quetschten einander, die runzlige Hand des Alten und die kleine, magere des Jungen, bis sie wieder friedlich ineinander ruhten. Nie aber wäre dem Jungen vor Angst der Schweiß ausgebrochen, oder er hätte gar zu zittern angefangen, wie er dies bei seinen Brüdern erlebt hatte. Schleppte der Alte gar einen Stock mit, dann sagte Yusuf höchstens gereizt: »Wenn du ihn nicht in die andere Hand gibst, kann ich dich nicht führen.« Dann nahm der Vater den Stock gehorsam in die andere Hand und gab die richtige dem Sohn. »Yusuf ist mein Auge«, pflegte er zu sagen, besonders wenn er in eine Gesellschaft trat, aber leider auch zu Hause, wenn er es für angezeigt hielt, die Flamme des Neids und der Eifersucht unter die Söhne zu werfen. Und wie um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fügte er melancholisch hinzu: »Was sollte ich bloß ohne ihn anfangen.« Es sei nicht verschwiegen, daß der eine oder andere der Söhne sich früher veranlaßt gesehen hatte, die rhetorische Frage des Vaters zu beantworten: »Ich würde dich führen, Vater, auf mich kannst du dich verlassen.« Dabei vergaß er einen sehnsuchtsvollen Augenblick lang die Brüder, an denen er doch hing und ohne die er nicht leben konnte, über der undeutlichen, aber eben darum paradiesischen Aussicht, sich zu vereinzeln und ein Individuum zu werden, so wie Yusuf. »Ich würde dich führen«, stammelte er aus übervollem Herzen, in der absurden Hoffnung, die Brüder würden es nicht hören (und irgendwie hörten sie es auch nicht). Der Alte wandte das Gesicht mit den erloschenen Augen in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Seine Miene offenbarte eine Verachtung, die nicht ausdrucksstärker hätte sein können, wenn er noch gesehen hätte. »Du«, schien sie zu sagen, »wer bist du, daß du glaubst, ich ließe mich von dir führen!« Da versteckte sich der Redner hinter seinen Brüdern. Sein unruhiger Blick schweifte zu Yusuf hinüber, der, ganz so, als befände er sich auf einer Versammlung, in anmutiger Haltung zu Füßen seines Vaters döste, ein bißchen mit den Zehen scharrte, ein bißchen gähnte, ein bißchen lächelte. Nicht daß er die bösen Blicke nicht merkte. Aber sie hatten keine Macht über ihn, kitzelten höchstens sein Selbstgefühl. Er seufzte. Der Vater sprach gut von ihm. Behaglich überließ er sich seinen Träumen.

Als ein Kind, das die Unterhaltungen der Erwachsenen mitbekam, hatte Yusuf in seinem Kopf eine Menge seltsamer Dinge gespeichert, deren Zusammenhang bedeutend war, deren Realität aber ohne weiteres bezweifelt werden durfte und deren Kontur, nun ja, ein wenig blaß blieb. Sicher aber waren diese Dinge größer, weiter, vielschichtiger als irgend etwas von dem, was Yusuf jemals ›in echt‹ gesehen hatte, zum Beispiel seine Ziegen, oder eben seine Brüder, die selbst nur Blick für weniges hatten. Yusufs Horizont gewann dadurch an Weite, wenn auch die Bilder sich nicht zu Gedanken formten, weil sie sich nicht recht von ihrem Anlaß trennen mochten und mit dem freundschaftlichen Beisammensein, der feierlichen Versammlung, dem großen Ritus verschwammen. Er war durchaus bereit, den Brüdern von seinen Kenntnissen mitzuteilen. Aber schon wie er sich in Positur setzte, reizte sie bis aufs Blut, und dann wies er sie auch noch an, die ursprüngliche Situation möglichst getreu nachzustellen; denn die gehörte seiner Ansicht nach zu den Kenntnissen dazu. So mußte der eine Bruder den lahmen Großonkel, der andere den tauben Priester, der dritte die Hausfrau spielen. Er selbst hüpfte von Platz zu Platz, wölbte hier ein Ohr mit der Hand vor, massierte dort ein Bein, fuchtelte mit dem Stock. Darüber mußten sie zwar unwillkürlich lachen, aber sie fühlten sich mißbraucht, und ihr Lachen vermischte sich mit Wut. Soviel Geltungssucht, fanden sie, war doch nicht normal. Davon wollten sie verschont bleiben. Das war womöglich ansteckend, auf jeden Fall leichtfertig. Es würde nicht ohne Folgen bleiben. Bevor er ihnen ihre Rollen zu Ende vorgespielt oder auch nur eine einzige Geschichte erzählt hatte, stürzten sie aus dem Haus. Mochte er seine Grimassen vor dem Glasscherben schneiden, den sie als Spiegel benutzten, sie brauchten frische Luft!

Hatte er sich aber zusammengenommen und auf das Drumherum verzichtet, so merkten sie sehr rasch, daß es ihm auch bei seinen Erzählungen mehr auf das Wie als auf das Was ankam. Sie wiesen merkwürdige Lücken auf, oder es fehlte ihnen an der rechten Logik; vielleicht war er zwischendurch eingeschlafen und hatte beim Aufwachen an das angeknüpft, was er als letztes gehört oder im Schlaf weitergesponnen hatte. Ihm fiel es nicht auf, wenn etwas fehlte oder durchaus nicht passen wollte. Genauso hatte er es ja erlebt, und so wie er es erlebt hatte, wollte er es wiedergeben, das war seiner Überzeugung nach wahr, und für etwas anderes konnte er auch gar nicht einstehen. Dazu kam, daß er die Bilder von der Versammlung im Kopf hatte; Helden waren sie allzumal, das Personal der Geschichten und die Anwesenden, alles war miteinander verquickt. Die Brüder aber erbosten sich, ja der Kleinste, Ben, warf sich ihm von hinten auf den Rücken, trommelte mit beiden kindlichen Fäusten auf seinen Kopf und schrie: »Er soll aufhören! Er soll aufhören!«

Je weniger Yusuf von der gelehrten Altmännerunterhaltung verstand, desto präziser heftete sich sein Blick auf die Redner, und seine Augen saugten das Allgemeine und das Besondere förmlich aus ihnen heraus. Er rümpfte seine Nase wie der fromme Vetter seines Vaters, wenn der sich, vor Ehrfurcht erschauernd, an den Alten wandte: »Und was meinst du, Onkel?« Aus Respekt sagte er Onkel zu ihm. Seine glatten Haare strich er sich mit der gedankenschweren Bewegung aus der Stirn, die er dem Pfarrer abgeschaut hatte, der sich damit den Ruf eines untadeligen Grüblers erworben hatte. Ja, er strich sich gelegentlich den nicht vorhandenen Bart, wobei die Finger sich in den verfilzten Strähnen verfingen.

Er konnte sogar das Geschlecht wechseln. Wenn die schönen Töchter des Gastgebers das Tablett mit den Teegläsern oder die Teller mit den frisch gesalzenen Melonenkernen hereinbrachten oder wenn sie mit der Wasserschüssel und dem Handtuch von Gast zu Gast gingen und dabei auch ihm bedrohlich nahe kamen, dann wußte er sich der zauberischen Gegenwart nicht anders zu erwehren, als indem er zum Mädchen wurde: unwillkürlich erblaßte, mit spitzem Zeigefinger die Linie der Augenbrauen nachzeichnete, den nicht vorhandenen Busen straffte. Von den Gästen achtete niemand auf ihn, aber die Mädchen kicherten.

Reichte ihm eine das Tuch, dann ließ er seine Wimpern erzittern, bis sie mit den kindlichen Jochbeinen seidige Tuchfühlung aufnahmen. Er drehte bei dieser schwierigen Operation zugleich den Kopf und senkte ihn auf die kräftige Brust, daß der Blick der schönen Dienerin unwillkürlich auf seinen festen Körper gelenkt wurde und von da wieder hinauf zum überraschend starken Hals wanderte. Es war der Hals eines Pelikans, flächig, daß man die Wange daran bergen konnte. Sie hätte ihn gern gespürt. Die Schüssel in ihrer Hand schwankte, und ein scharfer Blick der Mutter trieb sie vorwärts.

Da Yusuf die Mädchen nachahmen konnte, ließen die Brüder sich doch das eine oder andere Mal herab, ihm zuzuhören, denn sie konnten sich an keine Zeit erinnern, wo sie sich nicht für Frauen interessiert hatten. Nur die beiden Ältesten trieben es schon ernstlich mit ihnen; die frühe Heirat hatte sie dazu verleitet oder nicht davon abhalten können. Sie ließen Sachen verlauten, die Yusuf aus der Unterhaltung ausschlossen und ihn zwangen, sich in aller Einsamkeit mit einem Thema zu beschäftigen, dem er nicht gewachsen war, wobei er sich mit dem Duft der Mädchenhaare tröstete, mit denen er in scheue Berührung gekommen war, wenn die Serviererinnen sich über den Tisch beugten, oder mit dem harmlosen Blitzen aus schelmischen Augen; dem mußte man doch gewachsen sein! Er war nicht der Ansicht, daß diese Mädchen vom gleichen Geschlecht waren wie die Frauen seiner Brüder; obwohl er gerade die als Kameraden schätzte; denn was sie für ihn waren, das war er auch für sie, eine sanftere Ausgabe ihrer Männer. Er glaubte auch nicht, daß alle Mädchen zu Frauen wurden. Die schmalen, sanften, schlanken, glaubte er, wurden es nicht, so wie er nicht wie seine älteren Brüder werden würde, selbst wenn er es wollte. Er war immer noch auf der Suche nach dem dritten und vierten Geschlecht.

Efrem konnte anhand der Bibel nachweisen, daß die Frau eine Kloake war, in der man alles mögliche versenken durfte, nur nicht den kostbaren Samen. Daß man ihr den geben mußte, war Nötigung. Tunlich war es, sich mit Schlägen zu rächen. Sonst, meinte er, wurde sie immer frecher, und daran war niemand gelegen; ihr, die nach einem derben Liebesbeweis gierte, am allerwenigsten. Esmer hatte bei allen möglichen Frauen Geborgenheit gefunden, nur nicht bei der eigenen. Von ihm hieß es seit frühester Jugend, daß er mit Huren herumzog. Er wußte, bei welcher Frau man sich Chancen ausrechnen konnte, verhökerte auch den einen oder andren Tip für gutes Geld, und da er die Frauen nie verachtete – die eigene ausgenommen –, bekam er von ihnen mehr als andere, so daß die Freunde sich über den schlechten Rat beschwerten; denn sie waren leer ausgegangen oder lustlos abgespeist worden. Dann lachte er und ließ an dem Beschwerdeführer den Blick hinuntergleiten bis zum Schritt. »Mußt dich eben mehr anstrengen«, sagte er gönnerhaft, »mußt gut gebaut sein.« Er war zierlich wie ein Püppchen, beweglich wie ein Samenfädchen und nicht zu greifen. Aber man erzählte sich Wunderdinge von seinem männlichen Teil. Die zu Hause konnten es nur bestätigen; vielleicht war da bloß etwas nicht im gleichen Maßstab verkleinert und hätte an jedem andern normal gewirkt. Er hatte einen natürlichen Hang zum Rotlichtmilieu, zu allem, womit und worum man spielen konnte. Die Großstadt, hieß es von ihm, wäre sein Verderben gewesen. Als Ersatz entwickelte er ein sagenhaftes Gespür für Transportgelegenheiten in den Hauptort des Distrikts und für die Lügen, die er erfinden mußte, damit die Familie ihn gehen ließ. Mit wem er auch hinfuhr, er erwies sich als prächtiger Führer.

Halil hatte keine Theorie über Frauen, allenfalls eine des Begehrens: er mußte sie haben, oder er mußte nicht. Die Zahl derer, die er haben mußte, konnte sich jederzeit vergrößern, wenn eine, die ihn bislang kaltgelassen hatte, kundtat, daß sie ihn ablehnte; die mußte er dann auch haben. Ansonsten liebte er die Extreme: besonders kindliche, besonders reife, besonders enge, besonders erfahrene Frauen, versprochene und verheiratete, verwandte und verschwägerte, aber auch, sofern sich die Gelegenheit bot, exotische oder fremde. Als das eigentliche Objekt seiner Begierde, der Kern seiner fixen Idee, wurde im Getuschel die zweite Frau seines Vaters genannt; solange er die nicht hatte, wollte er alle. Das war natürlich Quatsch, und er hätte dem wild widersprochen und der Älteste ihn umgebracht, wenn er das wahrgemacht hätte; vielleicht aus Neid. Es war ihm einfach nicht gegeben, eine Frau nicht als Weib anzusehen und nicht unter dem Gesichtspunkt des Habens zu betrachten. Im zarten Alter bereits litt er unter einer gewissen Müdigkeit, vielleicht weil er ahnte, was noch alles auf ihn zukam.

Yusuf konnte nicht nur die Unschuld der Mädchen, sondern auch die Lasterhaftigkeit der Frauen, ja die Schamlosigkeit der alten Weiber nachmachen, wenn sie sich an einem neugeborenen Säugling delektierten, schmatzende Küsse auf das Hinterteil drückten und mit knotigen Fingern das Körperchen betasteten, als suchten sie nach verborgenen Schätzen. Er konnte die hohlen Busen über den Schultern der Brüder schlenkern lassen, wenn er so tat, als tischte er ihnen auf; unwillkürlich machten sie Platz, um der ekligen Berührung zu entgehen, und Ben schrie: »Er soll aufhören, er soll aufhören!« Er konnte jedes weibliche Alter nachahmen: jenes, in dem die Brüste aufsteigen und jenes, in dem sie herabfallen; jenes, wo sie zittern, und jenes andere, wo sie beben; auch jenes dritte, wo sie baumeln. Er konnte die Hüften schwenken und mit dem Po wackeln, aber das war nicht Besonderes, und darin war ihm Esmer, der alle Fähigkeiten der Welt besaß, etwas ins Lächerliche zu ziehen, sowieso über. Einzig aber war er in seiner Fähigkeit, Blicke zu schenken, und wenn er sie seinen Brüdern schenkte, weil die Darbietung es erforderte, dann wurde ihnen, obwohl sie exakt die gleichen Augen und die gleichen wunderbar gebogenen Wimpern hatten, so merkwürdig zumute, daß sie sich nur mit Roheiten von der Anmutung befreien konnten. Vor nichts fürchteten sie sich nämlich so wie vor dem eigenen Geschlecht.

Von den förmlichen Gelegenheiten, bei denen er mit Mädchen in Berührung kam, abgesehen, hatte Yusuf mit Frauen bislang nur in sportlicher Hinsicht Bekanntschaft geschlossen: er rannte vor ihnen davon. Er hatte gelernt, sich von der Nachbarin nichts schenken zu lassen, oder wenn, dann so, daß er sich mit dem Bissen aus dem Staub machte und nicht ins Haus ziehen ließ, auch wenn sie noch so silbern hinter ihm herlachte. Dunkel erinnerte er sich, daß auch seine Brüder schon dies Spiel mit der Nachbarin gespielt hatten, und ging davon aus, daß sie ebenfalls davongerannt waren. Immer lauerte sie hinter der Tür, nestelte an einem Strumpf, wenn sie vorbeirannten, prüfte den Rocksaum und lachte, als wenn alles ganz harmlos wäre. Soviel reimte er sich zusammen, daß ihr Mann brav und fleißig war, wenn auch nicht besonders hübsch und eben viel zu brav. Yusuf rannte auch vor den großen Mädchen davon, nicht weil die sich mit ihm einlassen wollten, sondern weil sie sich bereits mit seinen Brüdern eingelassen hatten und ihn damit auf ein Terrain zogen, auf dem er nicht gewinnen konnte; auch sie nicht, aber davon wußten sie nichts. Leckermäulchen waren sie allzumal. Was ihre Zukunft betraf, wußte er besser Bescheid als sie, aber das war auch schon alles, was er wußte. Ein Tröster war er nicht, und wenn ein einziges Tabu funktionierte, dann daß er nicht anfaßte, niemals, was seine Brüder angefaßt hatten.

Über die Bildung, die Yusuf durch das Leben unter den Alten davontrug, hätten am ehesten die Ziegen Auskunft geben können. Ihnen, die ihn nicht unterbrachen und nicht beschimpften, teilte er sich in überbordender Gestik mit. Die Brüder waren zu sehr mit ihrem Neid beschäftigt, um den wahren Grad seiner Verstörung zu begreifen. Sie sahen nur, daß er sich etwas Besseres dünkte. Das reichte, um ihm mit Abscheu zu begegnen. Die Ziegen dagegen hätten nie einen anderen Hütejungen verlangt. Wohl aber verlangte es die Brüder nach einem anderen Bruder. Einmal, als der Alte Yusuf in der gezielten Weise herausstrich, die ihn aus dem Kreis seiner Brüder heraushob, diese aber herabsetzte, da fanden sie sich hinterher wie von selbst zusammen und kamen ohne viel Worte überein, daß es an der Zeit sei, dem Bruder eine Lehre zu erteilen, eine richtige, die er sich merkte.

Man muß sich das wie auf einer Bühne vorstellen: Da sitzt Yakub, der Alte, auf seinem Thron, einer eigenartigen Kiste, die er sich erkoren hat und die von allen respektiert wird; zu seinen Füßen Yusuf, der ihm zuflüstert, wer alles da ist und ob er etwas taugt; um ihn, hübsch arrangiert, die Gäste. Die Frauen sind in der Küche beschäftigt, die Brüder zieren den Hintergrund. Der Alte ruft nach seiner Gewohnheit die Söhne auf; sonst weiß er ja nicht, ob sie da sind. Dann langt er nach Yusufs Schulter. »Sie taugen alle nichts«, sagt er mit Stentorstimme, »aber den hier, Yusuf, den Ältesten meiner Frau, die in der Küche werkt«, und hier steigert er seine Stimme, damit sie es hört, »ihn könnt ihr euch merken!« Er vergnügt sich am Effekt seiner Rede, dem ahnungsvollen Raunen der Gäste, dem bösen Zischeln der Brüder. Wirkung liebt er über alles.

Sie hatten Yusuf schon manche Lehre erteilt, so daß er sich schwertun würde, das Besondere, das in dieser einen stecken sollte, zu begreifen. Quer über seinen Bauch zog sich eine Narbe von damals, wo sie ihn in den Stacheldraht getrieben hatten; er hatte sich wehgetan, aber sie sich nicht die Hände schmutzig gemacht. Zwischen Daumen und Zeigefinger waren die Reste einer Verletzung zu sehen von der Herausforderung zu einem Messerkampf, bei dem nur einer ein Messer hatte. Unmöglich, die Narben zu zählen, die seine Knie verzeichneten, geschweige denn sie nach Schuld und Gelegenheit zu sortieren. Es hieß von ihm, daß er über seine Füße stolperte, aber meistens war ein fremdes Bein dazwischen. Er rappelte sich hoch und wußte nicht, wie er zu Fall gekommen war, ließ sich Träumer nennen und hielt das Gelächter für Ohrensausen. Sphärenklängen gleich orchestrierte es seine Stürze. Vielleicht seine schärfste Waffe war, daß er sich den Glanz nicht rauben ließ. Er klopfte den Dreck von seiner Hose und spielte weiter, gestikulierte, redete. Mochten die Knie schrundig sein, die Ellbogen aufgeschürft, die Nase blutig, er setzte seinen Gedankengang fort. »Ich habe mir gerade etwas überlegt«, antwortete er geheimnisvoll, wenn man ihn höhnisch oder mitleidig ansprach, nach dem Schema: »Wie siehst du denn aus!« Natürlich wollte niemand hören, was er sich überlegt hatte. Sie waren jederzeit bereit, ihn auszulachen oder heuchlerisch zu trösten, aber sie wollten ihm nicht zuhören. Er fand kein Ende, und es ergab auch keinen Sinn. Es war einfach zu kompliziert, zu innerlich.

Auch wenn Yusuf sich beim Palaver der Erwachsenen den Hintern breit saß, war er ein bewegliches Kind, ja er liebte den Sport. Rennen ging ihm über alles. Man mußte ihn sehen, wie er die kräftigen Beine unter dem rundlichen Körper einzog und wieder herausstreckte, so als wäre jeder Anlauf eine Geburt. War er im ganzen eher dicklich – mit Anflügen von Schmächtigkeit, einer Trichterbrust –, so steckte in seinen Beinen die Kraft von Antilopen. Wie sie war er unerhört verletzlich und auch ein bißchen dumm, da er in allem auf seine Schnelligkeit setzte, ein ganz klein bißchen auch auf seine Schönheit, selbst wenn man ihm ihretwegen nach dem Leben trachtete. Auch darin war er den Antilopen nicht unähnlich.

Nur beim Fußball konnte er sich einordnen. Tatsächlich war hier seine Anführerschaft erwünscht, und seine Laufstärke kam ihm wunderbar zustatten. Seine schlitzohrige, schelmische Natur inspirierte ihn zu unzähligen Finten, wobei er sich auf seine Beine stets verlassen konnte, auf ihre Schnelligkeit allzumal, aber mehr noch auf das strategische Wissen, das in ihnen niedergelegt schien, auf die unsichtbaren Sensoren unter seinen Füßen, die das Spielfeld abtasteten, das wie ein Schachbrett vor ihm ausgebreitet lag oder wie ein nächtliches Flugfeld mit der hellerleuchteten Landebahn winkte, so daß er bald im Rösselsprung am Gegner vorbei, bald in pfeilgeradem Lauf aus der eigenen Hälfte bis vor das gegnerische Tor gelangte, während die Meute ihn hetzte und die Kameraden hoffnungslos zurückblieben. Stets hatte er das Ganze im Auge, das Spiel, und sosehr es ihm schmeichelte, wenn die Mannschaften um seine Fähigkeiten buhlten, sowenig fand er es unter seiner Würde, nach einem allzu ungleich ausgegangenen Spiel auf die andere Seite zu wechseln und in das planlose Gekicke der Gegner Struktur zu bringen. Ihm war es egal, auf welcher Seite er spielte. Er konnte verlieren, war sich seiner Stärke gewiß und wußte, daß nur mangelnde Willenskraft ihn gelegentlich um den Sieg brachte. Worauf es ihm ankam, war der Moment, wenn er in lockerem Lauf an seinen Bewachern vorbeizog und die Zuschauer jubelten. Dann jubelte er auch, verdoppelte, vom Beifall angetrieben, seine Geschwindigkeit und fühlte sich traumhaft. Erst wenn er zu Hause in der Küche saß und sich auf Befehl seiner Mutter die Krusten von den Knien wusch, sah er, daß er doch nicht nur geflogen war, vielmehr Körperkontakt gehabt hatte, auch mit der Erde. Vom Klammern hatte er rote Flecken an den Armen und häßliche Schürfwunden an den Beinen, da wo er den Boden rasiert hatte. Während er mit den Füßen in der Waschschüssel planschte, ließ er die spannendsten Momente des Spiels an sich vorüberziehen. Er erinnerte sich gern, erlebte viel dabei, auch Neues. Versonnen zeichnete er mit dem Zeigefinger die häßlichen Schwellungen auf seinen Schienbeinen nach. Alles in allem war das Spiel klasse gewesen.

Ein Klassespiel hatten die Brüder sich auch für ihre Lehre ausgesucht. Sie gönnten Yusuf das Spektakuläre seines Untergangs, das Publikum; Hauptsache, sie kamen ebenfalls auf ihre Kosten. Sie duldeten seine brüderliche Umarmung, als sie am Spielfeldrand unvermutet aufeinandertrafen, drehten aber den Kopf weg. In seinem Glück fand er sie schüchtern und in ihrer Schüchternheit alles andere als unbeholfen, vielmehr reizend. Davon hatte er immer geträumt, daß sie einmal kamen und mit ihren eigenen Augen sahen, wie sehr er sich entwickelt hatte. Daß sie den Fußball mieden und während der Spiele, die das Dorf leerte, allen möglichen Geschäften nachgingen, hatte er registriert; auch daß ihnen das nicht förderlich war, war das Fußballspiel doch die Stunde der Verbrüderung, und sie strichen durchs Dorf, poussierten mit den daheim gebliebenen Frauen, betrieben hinter der Schule einen seltsamen Austausch von Geschenken und verbrüderten sich nicht. In seinem unverbesserlichen Kinderhirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, er wäre schuld daran, aber nicht, weil er sie mit ihrem Können vertrieben hatte, sondern weil sie nicht wußten, wie gut er war, und sie würden zurückkommen, wenn sie sich vom Gegenteil überzeugt hätten; nur war das nicht so einfach. Jetzt ergab sich eine einmalige Gelegenheit, und er würde sie nicht enttäuschen. Du bist der Größte, würden sie sagen, und dann wären sie wieder ein Herz und eine Seele. Er jedenfalls war mit ganzer Seele bereit, sie zu lieben.

Wenn sie ihm nur einmal zugehört hätten bis zum Ende, dann hätten sie gewußt, worauf es im Leben ankam! Er wußte es ja auch nicht, und es war daher überflüssig, daß sie ihn haßten. Aber seine Geschichten wußten es.

Bescheiden plazierten sich die Brüder an der Seitenlinie, als Yusuf bereits wie im Rausch aufspielte, die inspiriertesten Spielzüge ins Werk setzte, um dann ein paarmal so sicher und kühn aufs Tor zu schießen, daß sogar die Gegner applaudierten. Die Brüder aber rührten nur lässig die Hände, und Yusuf, der für niemand sonst Augen hatte, spürte mitten in der schönsten Hochstimmung den Anflug eines Zweifels. Die Brüder gingen selbst nicht schlecht mit dem Ball um. Es würde schwerfallen, sie zu überzeugen. Er mußte fliegen! Dieser Zweifel, der sich auf seine Größe bezog, überdeckte den andern, warum die Brüder sich überhaupt am Spielfeldrand eingefunden hatten. Wer oder was hatte das Wunder bewirkt? Um sich eine solche Frage zu stellen, hätte Yusuf schon kolossal mutig sein und auch ein bißchen weniger selbstbezogen denken müssen. Aber er war kurz davor abzuheben und sollte ausgerechnet in dieser Situation auf dem Teppich bleiben? Dazu lief das Spiel einfach zu gut.

In einen Sturmlauf hinein geschah's. Yusufs nach vorn gestreckter Kopf schoß weit über die gewohnte Zielmarke hinaus, während er statt das eine Bein nach vorn, jetzt beide Beine nach hinten warf und wahrhaftig einen Moment flog, in fabelhaft gestreckter Haltung, jedoch ohne Perspektive, zunächst steil nach oben, dann ebenso steil nach unten, und in einer unsanften Landung die plötzlich hohl gewordenen Wangen auf die erdfarbenen Buckel bettete: Staub zu Staub. Von seiner Schläfe tropfte ein wenig rasch verkrustendes Blut. Das meiste vermischte sich mit der Erde auf seinen Wangen und kam gar nicht bis zum Boden. Es blieb aber erstaunlich – und zeugte auf seine Weise von Talent –, wie der Stein, der Yusuf offensichtlich an der Schläfe getroffen und ohne viel Federlesens umgebracht hatte, so millimetermetergenau hatte geschleudert werden können. Wahrscheinlich ein Unfall, eine Verquickung unglücklicher Umstände!

Die Bosheit deutete auf Efrem, das Talent sprach für Halil, der Zufall für Esmer; er hätte sich selbst auf Erden nicht vermißt und konnte aus Achtlosigkeit jeden umbringen. Für Bens noch kindliche Kraft war der Bruder einfach zu weit entfernt.

»Er ist tot«, flüsterten die Spieler, die Yusuf als erste erreichten. Die Botschaft pflanzte sich bis an den Spielfeldrand fort, und die Brüder duckten sich wie unter einem Urteil. Es wäre unmöglich gewesen zu behaupten, einer von ihnen hätte sich noch kleiner als die andern gemacht. Selbst Ben schrumpfte und war weiß Gott winzig. Dem Täter aber brannten die Finger. Er war nicht schuldiger als die andern, bloß eitler, also dümmer. Nicht zuletzt wegen der schmeichelhaften Begründung hatte er die Aufgabe übernommen. Er war nämlich kein Schläger, dafür über die Maßen geschickt, ein rechter David. Jahrelanges Billardspielen im einzigen Café des Ortes hatte seine Finger so gelenkig gemacht, daß er einen Vogel mit der bloßen Hand genauso sicher traf wie mit dem Katschi; wie ein Stein fiel der Spatz herunter. Er aber, in Gedanken versunken, ließ die Gelenke knacken. Wenn er denken wollte, dachte er an Billard. Wenn es um Billard ging, verfügte er über Vorstellungsvermögen und Phantasie. Er spürte das Queue in seiner Hand und lockerte sanft den Griff. Meistens war er mit einem Stoß beschäftigt, der noch nie geklappt hatte und doch funktionieren mußte. Hier war er stoisch wie ein Jäger auf der Pirsch, während er sonst ebenso faul wie nervös war. Technische Schwierigkeit war für ihn kein Hindernisgrund, eher ein Wegweiser zum Ziel. Sie gliederte den Akt. Er mußte es nur mit Geduld angehen, dann gelang ihm alles.

Dieser Bruder war Yusuf altersmäßig am nächsten, und wenn mit einem, dann hatte der mit ihm Fußball gespielt, so lange jedenfalls, bis der Ältere sich dem Billard zuwandte oder im Schatten der Schule, die am Nachmittag leer und verlassen dalag, den Mädchen auflauerte. Er spielte auch nicht schlecht, war aber weniger athletisch, feingliedrig nach Art von Esmer, wenn auch im ganzen erheblich kräftiger. Mit einem Blick erkannte er, daß Yusuf vor ihm davongezogen war, und sparte innerlich nicht mit Anerkennung. Der Kleine hatte sich herausgemacht! Er ließ den Stein zwischen seinen beringten Fingern hin und herwandern und verfolgte die überlegten Spielzüge seines Bruders, die nur von genialen Einfällen unterbrochen wurden, und folgte dann ebenfalls einer Eingebung. Als Yusuf – in einem Flug, der nur mit einem Fall enden konnte – stieg, schleuderte er den Kiesel nach ihm, und der Bruder stürzte, fiel zu Boden wie ein Stein.

Dennoch brauchte er die Last der Schuld nicht allein auf sich zu nehmen. Er war zu träge, um bösartig zu sein – auch wenn die Tat alle Merkmale der Heimtücke aufwies –, der finstere Haß Efrems, Esmers Umtriebigkeit konnten ihren Anteil nicht verleugnen. Alles was er tat, beruhte auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, so wie alles, was er einheimste, ihm geschenkt wurde. Hätte er den Vater geführt, dann wäre es aus freiem Willen geschehen; da er aber nicht wollte, führte er den Vater nicht. Er spielte hervorragend Billard, obwohl man ihm beim Fußball gern behalten hätte, für den aber sein Wille erloschen war. Er hatte noch nie in seinem Leben eine größere Summe gestohlen, aber Unsummen ausgegeben. Er konnte sich rühmen, noch nie ein Mädchen vergewaltigt zu haben, aus einfachem Grund, während Efrem mehrfach den Versuch unternommen hatte, mit unterschiedlichem Erfolg, und vom ganzen Dorf pflichtschuldig dafür gejagt und immer wieder aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen worden war. Übrigens spielte er auch nicht um Geld wie Esmer, aber er hätte jederzeit um ein Mädchen gespielt. Auch in ihm, wie in Yusuf, steckte der Geist des Wettstreits, so wie in Esmer der Geist des Spiels. Er bekam seinen Hintern nicht hoch, solange das Ziel vertraut war. Aber wenn es um eine Wette ging – »Wetten, ich schaff's?« –, dann war er der erste auf den Beinen und im Ziel. Bei diesem Ehrgeiz hatten sie ihn gepackt: »Wetten, du schaffst's!« Er hatte nicht einmal zu nicken gebraucht. Und nun war Yusuf tot.

Esmer mißtraute dem Augenschein, da er in seiner heftigen Karriere schon die unglaublichsten Dinge erlebt hatte: Da waren Tote wieder aufgestanden, Lahme gegangen, Blinde hatten gesehen. Er beschleunigte deshalb den Schritt, um sich mit seinen eigenen Augen zu überzeugen, im Schlepptau die reuigen Brüder. So kam es, daß sie sich den Erfordernissen der Trauer entsprechend benahmen und um den reglosen Körper einen verwandtschaftlichen Ring schlossen. Da lag er, der Tote, hingestreckt wie eine Wildente, und war so dumm gewesen, sich erlegen zu lassen. Nur Esmer, der die andern zu gern einmal mit seinem vermeintlichen Tod geneckt, ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt und sich an diesem Schrecken geweidet, auch gehört hätte, wie sie über ihn redeten, stupste ihn mit der Schuhspitze. »Komm, Alter«, sagte er, »du verstellst dich bloß.« Aber wenn Yusuf sich verstellte, dann jedenfalls sehr gut. Auch Esmer mußte schließlich einräumen, daß der Bruder tot war.

Es wäre alles noch gegangen, auch wenn Yusuf das Herz seines Vaters besaß und der Alte jähzornig war und keine Ruhe gab, bevor er sich nicht ausgetobt hatte. In seiner Beziehung zu den Söhnen steckte etwas Theatralisches, was er ebensogut seinlassen konnte, wenn es keinen Sinn mehr ergab. Bis weit ins Erwachsenenalter hinein war er ein famoser Raufbold gewesen, der weder die eigene noch die Gesundheit des Gegners geschont hatte. Viele seiner Abenteuer ließen sich nur hinter vorgehaltener Hand berichten, da ihnen etwas Finsteres anhaftete, in der nächstgrößeren Stadt hätte man wahrscheinlich gesagt: etwas Kriminelles. Seine Kraft war legendär, und natürlich hatte er von ihr Gebrauch gemacht. Darüber hinaus aber war er einfach böse, und man erzählte sich, daß er seinem leiblichen Bruder nicht nur mit der Faust gedroht, sondern das Gewehr auf ihn angelegt hatte; vom Dach seines Hauses hatte er gebrüllt: »Komm doch!«, nach einer anderen Version: »Bleib, wo du bist!«, und noch einer anderen: »Ein Schritt und ich schieße!« Vom unabgegoltenen Haß zwischen Brüdern konnte er also ein Lied singen. Der brachte Schlimmes hervor, aber es gab weder Grund, ihn zu verleugnen, noch sich von ihm ins Bockshorn jagen zu lassen. Nachdem er also gebrüllt und gedroschen hätte, ohne Ansehen der Person und des Mobiliars, hätte er sich beruhigt, das heißt das Interesse verloren. Alles wäre in dem Rahmen geblieben, den er selbst mit seiner gewalttätigen Natur so weit gezogen hatte. War nicht die Frau unter seinen Händen gestorben, die ihm drei Söhne geboren und nicht das Geringste getan hatte? Sie durfte nicht erwähnt werden; wie er sie verloren hatte, stammte wie alles Wesentliche in seinem Leben aus anderen Quellen. Er hatte sich der bösen Tat nie gerühmt. Es war die ungeradeste Sache in seinem Leben, und dabei hatte er doch Männer mit Vorsatz erschlagen und sie bloß aus schlechter Laune. Auch Yusufs Tod hätte der Alte überlebt. Zwar, ihn hätte der Schlag gerührt, wenn die Söhne den toten Bruder gebracht und in der Stube aufgebahrt, etwas von derbem Spaß und unglücklichem Ausgang gestottert hätten. Die Kleider hätte er sich zerrissen und das Brusthaar gerauft – der spiegelblanke Kopf ließ ihn bei dieser Aufgabe im Stich –, und die Söhne wären umhergeschlichen wie Greise, gebückt. Aber jeder hätte eine Rolle gehabt und seinen Part gekannt. Alles wäre über die Maßen schrecklich, aber auch erhaben gewesen, und von der Beerdigung hätte man im Dorf noch lange erzählt, auch wenn Yusuf später ins Tabu gefallen wäre und sich damit der Mutter seiner älteren Brüder zugesellt hätte; denn auch an seinem Tod war etwas, das die Folklore sprengte.

Unglückseligerweise war die Frau des Alten gestorben, vor kurzem erst, die noch jugendliche Mutter der beiden Jüngsten, und in der Trauerzeit hätte Yusuf gar nicht zum Fußball gedurft. Wenige Tage, nachdem der Alte seine Söhne vor dem Dorf bloßgestellt hatte, rutschte sie in der Küche aus und brach sich das Genick. Eigentlich hätten die Brüder nach dieser Katastrophe ihren Zwist vergessen müssen; Belehrung stand nicht mehr an, wenn das Schicksal selbst eine Lehre erteilt hatte. Aber in der Erstarrung, in die sie nach dem Tod der Hausfrau fielen, blieb ihr Plan als einziger lebendig. Auch in Yusufs Kopf spukte der Gedanke an Fußball; er wollte spielen, nicht um sich zu amüsieren, sondern um zu leben. Als die Brüder am Spielfeldrand auftauchten, schien es ihm, als würden sie sein Verhalten ausdrücklich billigen.

Im Handumdrehen hatte der Tod seiner Frau aus dem Kapitän einen Greis gemacht. In natürlicher Harmonie mit dem Verlust seines Augenlichts kehrte sich seine Aufmerksamkeit nach innen. Er brütete. In ihrer Tumbheit erschien es den Brüdern ungleich schwieriger, ihn da herauszuholen, als ihm die traurige Tatsache mitzuteilen. Wie sollte man ihn von dem Unheil, das ihn ereilt hatte, in Kenntnis setzen, wenn er nicht zuhörte? Wie laut mußte man brüllen, damit er die schlechte Nachricht vernahm! Mit seiner Frau war ihm die Illusion der Jugend genommen worden. Solange sie lebte, konnte er sich wer weiß was einbilden; daß er mit dem Zeugen noch nicht fertig war – sie hatte gewisse Andeutungen gemacht, daß eher sie als er unfruchtbar würde – und das eigentliche Alter ihm noch bevorstand. Jetzt war es da.

Um der Wahrheit willen muß hinzugefügt werden, daß der Alte nach der Beerdigung eine Bemerkung gemacht hatte, halblaut, wie es seiner neuen Verfassung entsprach, aber für die Trauergäste vernehmbar. In ihr ehrfürchtiges Schweigen waren seine Worte getropft: »Jetzt habe ich nur noch ihn.« Mit tastender Hand hatte er dabei an Yusufs Schulter Halt gesucht. Wie gewohnt saß der Junge zu seinen Füßen, und es war nicht sicher, ob er an seine Mutter dachte oder an Fußball.

Die Brüder hatte es wie ein Schlag getroffen. Reichte es dem Alten nicht, daß seine Frau gestorben war? Sollten sie auch tot sein? Die Bedächtigen unter den Gästen warnten: »Versündige dich nicht, Yakub, danke Gott, der dir eine große Familie geschenkt hat, damit dein Lebensabend sich würdig gestaltet und du dich um nichts zu sorgen brauchst.« »Um nichts zu sorgen!« brauste der Alte auf. »Nichtsnutze und Spitzbuben sind sie alle miteinander!« »Gott versteht, daß du den größten Trost in deinen beiden Jüngsten findest«, sagte der Pfarrer beschwichtigend, »erinnern sie dich doch an deine Frau.« Hier ging ein mahnender Blick hinüber zu den Älteren: »Wofür Gott Verständnis hat, dem werden sich auch deine andern Söhne nicht verschließen.« In diesem Augenblick erinnerten sie sich ihres Vorsatzes. Der Zeitpunkt für die definitive Lehre war gekommen. Mochten sich die Leute wundern und das eine Unglück mit dem andern erklären, getreu dem alten Spruch, demzufolge eins selten allein kommt. Wenn man es genau bedachte, hatten der Tod der Mutter oder die Mahnung des Pfarrers das Schicksal ihres Bruders besiegelt. Die Geschichte zurrte sich zusammen. Tragik stand bevor.

Der Alte war gegen Belehrung immun. Am liebsten reagierte er gar nicht. Er konnte sich in sich zurückziehen, wo und wann immer er wollte. »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« – selbst wenn er von Gott kam, verfing der Befehl bei ihm nicht. Immerhin brach er nicht erneut in Beschimpfungen aus und ließ die Söhne ungeschoren. Er hatte keine Lust, sich noch länger mit ihnen zu beschäftigen. Man kann es auch anders ausdrücken: er wollte trauern. Die Brüder verstanden sein Schweigen besser zu deuten als die Gäste. Erstens verachtete der Alte sie so sehr, daß er sich mit ihnen nur in der Erregung abgab, und zweitens war er nicht mehr derselbe. Aus der doppelten Tatsache zogen sie die Kraft für die definitive Lehre.

Sie wollten ihren Vater nicht kränken; jedenfalls nicht bewußt. Bewußt hätten sie seine Liebe gewollt. Wenn Yusuf nicht mehr da war, dann würde er seine Zuneigung ihnen zuwenden: das glaubten sie zwar nicht im Ernst, aber sozusagen im Spaß. Dabei schafften sie es bloß nicht, so unterschiedliche Dinge wie den Tod der Stiefmutter und Yusufs Bestrafung zusammenzubringen. Sie waren froh, daß sie einen Plan gefaßt hatten, und entschlossen, die Sache durchzuziehen. Vielleicht ordnete das Verworrene sich durch die Tat, womöglich zum Besseren. Wenn man nicht weiterwußte, dann mußte man etwas tun und sehen, was daraus folgte.

Für die Ausführung hatten sie Halil bestimmt, vielleicht weil sie eine Ahnung davon besaßen, daß die Waagschale der beiden Ältesten sich bereits zum Unguten neigte; sie würden in die Hölle kommen oder aus dem Dorf gejagt werden, auch ohne Zutun des Vaters. Der Dritte mußte in die Bresche springen, von dem sie alle Boshaftes zu vermelden hatten, der aber noch nie bei einer eindeutigen Schlechtigkeit erwischt oder in flagranti ertappt worden war. Außerdem war er am geschicktesten. Da Yusuf nichts so wie das Fußballspiel liebte, wollten sie ihn auf dem Platz stellen; sagen wir, um ihn zu ehren. Der Billardspieler mit der lässigen Haltung und den geschickten Händen sollte ihn abschießen. Ob er sich dabei auf die bloße Hand oder auf das Katschi verließ, blieb ihm überlassen. Aber er sollte ihn im vollen Lauf treffen und Yusuf merken, wie es war, wenn man durch eine höhere Macht ausgebremst wurde. Er würde einmal so richtig auf die Fresse fliegen, in den Ohren das Gelächter der Mitspieler, in den Backen Dreck und im Herzen Einsicht; denn letzten Endes war alles pädagogisch gemeint. Der Kiesel sollte seinen Höhenflug unterbrechen. Nie wieder würde er sich leichtfertig versündigen. Wenn er, jeder Zoll ein gestrandeter Albatros, mit gelängtem Hals und plattem Schnabel im Staub badete, würde er begreifen, daß er nur ein pummeliger, kurzbeiniger Junge war, nichts Besseres als sie alle. Er würde sich aufrappeln und den benebelten Kopf schütteln. Alles in allem wäre es ein klasse Spiel gewesen.

So sollte es gehen, und als es anders kam, beschlossen sie ohne viel Verabredung, dem Vater den Hergang und sich die Schilderung zu ersparen.

Benjamin hatte alles mit angehört. Auf ihn achtete man nicht, da er noch zwischen den Beinen der Großen spielte. Was die Brüder vorhatten, erinnerte ihn an das einzige Kinderbuch, das ihm jemals zwischen seine kleinen Finger gekommen war und in dem der Hase, von seinem Ehrgeiz und der Klugheit der Schildkröte gehetzt, in jämmerlichem Zustand verendet, auch er eine Beute des Staubs. Natürlich hätte er Yusuf warnen können. Aber wer wußte, was er damit anstellte! Vielleicht brachte er noch mehr Zwist in das Verhältnis der Brüder. Oder er, mit seiner Vorwitzigkeit, brachte den Bruder um; Worte waren wie Taten, und bislang war noch nichts passiert. Womöglich legte er die Lunte an das Feuer. Yusuf würde petzen, der Alte die Söhne erschlagen, und er, Ben, der Kleine, wäre an allem schuld. Besser, er überließ die Großen ihrem Hader, auch wenn es ihm um den Bruder bitter leid war.

Er hegte diese Gedanken nicht wörtlich; er war ja noch klein. Vom Plan der Brüder war er unwillkürlich fasziniert. Auch wenn er Yusuf herzlich liebte, schon weil er von jeher mit ihm in einem Atemzug genannt und für sich allein gar nicht erwähnt wurde, so wäre es um das Projekt doch schade gewesen. Es gab nicht mehr viel zu lachen, seitdem die Mutter gestorben und der stolze Kapitän ein Greis geworden war. Angstvoll richtete er die Gedanken auf den großen Tag und achtete darauf, daß ihm nichts unterlief, wofür man ihn zu Hause lassen konnte, auch daß er sich dem Vater nicht in Erinnerung brachte. Es kam dann alles so, wie er in seinem Bilderbuch gesehen hatte. Yusuf stürzte in den Staub und rührte sich nicht mehr. Der brüderliche Plan war aufgegangen; eigentlich hätte man applaudieren müssen. Vor Schreck tat Benjamin, wonach ihn in der allgemeinen Aufregung und angesichts der entwürdigten Lage seines Bruders am meisten gelüstete: nach Herzenslust weinen.

Was tun? Ein furchtbarer Blick des Ältesten traf die Mitspieler. Es waren nicht viele. Von elf gegen elf konnte keine Rede sein, und der von natürlichen Grenzen umgebene Platz hätte eine solche Besetzung auch nicht vertragen. Da fast alle mitspielten, blieb für das Publikum nicht allzuviel übrig, und freiwillig zog niemand den Platz am Spielfeldrand dem auf dem Feld vor. So standen sie in einem Häuflein um den reglosen Spieler herum, bildeten aber eine Sichtblende, bis sich die Zuschauer getrollt hatten, sah es seltsamerweise doch so aus, als hätte sich der Wettkampf in eine Beratung verwandelt und das Spiel wäre zu Ende. Von denen, die übrigblieben, hätte niemand versucht, als erster die Nachricht ins Dorf zu tragen; bevor er einen solchen Gedanken auch nur fassen konnte, hätte ihn der Strahl aus den Augen des Ältesten getroffen, des Mörders, zweifellos, was seine Autorität erhöhte und dem Gegenüber alle Kraft raubte. Die Brüder aber mußten eine Möglichkeit ersinnen, wie sie der Katastrophe Gestalt geben konnten. Esmer blieb auch in der traurigsten Lage ein Clown. »Wir sagen, ein herabfallender Stein hat ihn erschlagen«, schlug er vor, aber da war nun weit und breit kein Felsen. Esmer blickte zum Himmel auf: »Ein Vogel hat ihn aus dem Schnabel fallen lassen.« Das war kapitaler Blödsinn, brachte den Brüdern aber zu Bewußtsein, daß Yusufs Verletzung das Problem war; sie sprach Bände. So wie sie aussah, konnten sie die Leiche nicht durchs Dorf tragen. Einmal angekurbelt, war Esmers Phantasie nicht so leicht zu stoppen. »Er ist im See ertrunken«, schlug er als nächstes vor, und die andern nickten. Eigentlich war das unmöglich, kam aber trotzdem immer wieder vor, da der See zwar flach, aber verschilft war, vielleicht auch Treibsand enthielt. In der Mythologie des Dorfes stellte er so etwas wie einen zweiten Friedhof dar, weniger für die Ertrunkenen als für die Verschwundenen: in der Mehrzahl Entflohene, die das Dorfleben leid waren und sich abgeseilt hatten. Immer wieder kam es vor, daß ein junger Mensch, dessen Pläne am ehernen Nein seines Vaters gescheitert waren, den Weg gewissermaßen über den See genommen, das heißt sich vorgeblich umgebracht hatte. Er wollte lieber beweint werden als bleiben. »Er ist über den See«, war denn auch die zweideutige Formulierung für alle, deren Schicksal ungeklärt war. Da der See das eine oder andere Mal den Toten wiedergegeben hatte, war seine Zuständigkeit für Untaten und Unglücke unbestritten.

Nun war der See so weit, daß an einen heimlichen Transport nicht zu denken war. Außerdem war ihnen körperliche Anstrengung ein Graus, sofern sie nicht mit Beifall honoriert wurde. Ja, wenn Yusuf im Rahmen der anerkannten Möglichkeiten gestorben wäre, sie hätten sich den Sarg auf die Schultern geladen, die Arme zum Geflecht verschränkt, und den Bruder in feierlichem Zug durch das Dorf getragen, vom einen Ende zum andern und zurück; nichts hätte ihren Elan gebremst. Aber in aller Einsamkeit, noch dazu wo der Tote sozusagen nackt war, versagten ihnen Mut und Lust. »Los!« sagte Efrem in dem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und kein Wort!« drohte er zu den Mitspielern. Er zeigte in die dem See entgegengesetzte Richtung und konnte nur den stillgelegten Brunnen meinen, der, kaum hundert Meter vom Spielfeld entfernt, sein trauriges Dasein fristete; die Gegend war nicht so reich an Verstecken, daß es viel zu mutmaßen gab. Erleichtert hoben die Brüder den Toten auf, während die andern sich abwandten, glücklich, daß sie mit alldem nichts zu tun hatten. Von dem Erlebten sagten sie niemand ein Wort; als die offizielle Kunde sich im Dorf verbreitete, wußten sie bald selber nicht mehr, was sie glauben sollten. Während die Brüder den Brunnen abdeckten und den Toten mit einem »Hau ruck!« in den schon halbwegs mit Steinen aufgefüllten Brunnen hievten, saßen sie bereits beim Essen und unterhielten sich über die nächste Hochzeit, die Einberufung, die Ernte. Nur der verwitwete Alte tobte, daß man ihn so lange allein ließ, obwohl er beim Weggang der Brüder nicht mal den Kopf gehoben hatte, und so hatten sie die Genugtuung, bei ihrer Heimkehr mit einem Trommelfeuer von Beschimpfungen und Schlägen empfangen zu werden, die zwar wehtaten, aber die Untat symbolisch sühnten. Auf die Frage nach Yusuf erklärten sie harmlos, er käme sicher, »wenn er ausgespielt hätte«, und als er dann immer noch nicht kam, beunruhigten sie sich ebenso wie die Frauen. Schließlich schickte der Vater sie nach ihm aus, und als sie ihn in der Dunkelheit, wo die Chancen schlecht standen, nicht fanden, aber auch am nächsten Tag im hellen Sonnenlicht nicht, da fingen sie an, um ihn zu trauern. Wie von ungefähr kamen sie auf den See und daß Yusuf ein Träumer war, in ihrer Sprache nicht alle Tassen im Schrank hatte. Wer weiß, vielleicht wollte er nach dem Spiel baden! Das mochte zwar keiner so recht glauben, konnte aber auch nicht widerlegt werden. Noch einmal holte der Alte zu einer Tracht Prügel aus, die an seine besten Zeiten erinnerte und der sich niemand entzog, obwohl er blind war und der Stock hart und auf dem Rücken brannte. Wie konnten sie es zulassen, daß Yusuf allein zum See ging, schrie er. Schlechte Hüter ihres Bruders waren sie. Da fingen sie an zu weinen, weil der Alte gar so heftig drosch und mit Prügeln kein Ende fand und weil sie ihren Bruder umgebracht hatten. So erschöpft waren sie, daß sie sich einbildeten, sie hätten ihre Strafe gehabt. Auch Benjamin greinte, mehr aus Müdigkeit; denn er war noch so klein, daß die Schläge des Vaters an ihm vorbeiprasselten. Aber das häßliche Geräusch vernahm er doch.

Binnen ein, zwei Tagen war der Alte noch um etliche Jahre gealtert. Die Brüder aber dachten an Auswandern. Sie hätten es gern gesehen, wenn der Vater vorher noch gestorben wäre. Die Sache hätte sich beträchtlich vereinfacht.

 

II. In Deutschland

Yusuf wußte nicht, wie er aus dem Brunnenschacht herausgekommen war, und machte sich auch keine Sorgen darum, war er doch nicht mit Bewußtsein hineingelangt. Von diesem vielleicht wichtigsten Moment in seinem Leben wußte er gar nichts. Zwar erzählten ihm seine Retter, wie sie ihn gefunden hatten, und er erinnerte sich prompt an den Brunnen, aber eher wie an eine Theorie als eine Tatsache. Sein Ortsgedächtnis billigte die Erklärung. Der Brunnen aber war ferner, als mit einer einfachen Tatsache zu vereinbaren war. Deshalb nickte er auch nur bestätigend mit dem schmerzenden Kopf, das heißt, er senkte die Lider und bekundete so relativ schmerzfrei seine Zustimmung. Im Brunnen? Ja, das klang plausibel. Und wie weiter?

Peu à peu, in dem Maß, wie die Erinnerungen zurückkehrten, verlor der Fundort seinen geheimnisvollen Charakter, wurde aber nie mehr zu dem Brunnen. Oder anders gesagt, der Brunnen, den er sehr wohl gekannt, in dessen Schatten er sich viele Male aufgehalten, in dessen schützendem Schacht er an einem geschickt geknoteten Seil ein kostbares Stück Melone geborgen hatte, verschmolz nicht restlos mit dem Loch, in dem seine Retter ihn gefunden hatten, oder vielmehr der Hund. Immer blieben die beiden Orte wie zwei schlecht übereinander gelegte Kopien ein und desselben Originals, und wenn sie auch vieles gemeinsam hatten bis hin zu bestimmten Gefühlswerten wie Unheimlichkeit, Enge und Furcht, so hatten sie das Wesentliche doch jeder für sich, und dabei handelte es sich um den Brunnen seiner Kindheit, nicht um einen andern. Hier brachte Yusuf die letzte, entscheidende Synthetisierung nicht zustande. Es blieb ein Spalt in seinem Gedächtnis und ein haarfeiner Riß in seiner Person, der die Ursache für manche Ungereimtheit in seinem künftigen Leben war, die gleichsam physische Basis seiner zwar wohlgelungenen, aber doch reizbaren und nicht ganz zusammenhängenden Person. Auch seine Retter mußten sich letztendlich damit abfinden, daß sie entweder ein fehlerhaftes Exemplar erwischt hatten oder nicht imstande gewesen waren, ein kostbares Gut heil nach Hause zu bringen. Kein Wunder – damit gaben sie sich zufrieden –, wenn man sein Kind aus dem Brunnen holte.

Es vergingen Jahre, bis Yusuf Herr über die Einzelheiten seiner Rettung wurde. Hatte man ihn entführt? Woher stammte überhaupt seine Verletzung? Hatte man sich ihretwegen seiner angenommen, oder war man mit dem Geretteten unachtsam umgegangen? War man gar erst unachtsam mit ihm umgegangen und hatte ihn dann retten müssen? Das waren Fragen, die in der Schwebe blieben, während Yusufs Status von dem eines Flüchtlings zu dem eines Gastes und schließlich eines beglaubigten Adoptivsohns oder Neffen eines Anatoliers wechselte, der für den Aufwand entschädigt wurde und trotzdem ein fürsorglicher und netter Mann war. Es waren Jahre, in denen Yusufs privater und bürgerlicher Status und seine Nationalität je nach Zuschreibung schwankten. Bald wurde er als Türke, bald als Araber, ja sogar als Latino und schließlich als Zigeuner gehandelt, und natürlich als Jude. Man brauchte sich bloß mehr auf seine glatten schwarzen Haare und sein strenges Gesicht oder aber auf seine hervorspringende Nase und seinen heftigen Blick zu konzentrieren, um in ihm todsicher entweder einen Bewohner des einen oder des anderen Erdteils zu erkennen. Etliche hielten ihn für einen Iraner, andere für einen Inder, aber alle für etwas Besonderes, und er war nicht der Kerl, dem auf Dauer Widerstand zu leisten, und verstieg sich zu einer Art Erwartung. Aus dem früheren Leben, vielleicht von dem Riß in der Persönlichkeit stammte seine Überzeugung, daß ›besonders‹ mit ›nichtig‹ unheilvoll verschwistert sei. Da er sich von diesem Glauben, der ja ein Teil von ihm war, nicht lösen konnte, hielt er sich bei allem Glück, das ihm beschert schien, für unglücklich oder, da das schon rein logisch nicht ging, dann eben für mißraten und lebte, seiner eigenen Auffassung zufolge, die er niemandem anvertraute, als Böser unter Guten. Gerade herausgesagt, er hatte Heimweh nach den schlechten Brüdern.

Mitglieder einer Exkursion hatten Yusuf aus dem Brunnen geholt. Unter anderen Bedingungen hätte er es wohl auch nicht außer Landes geschafft, weder rechtlich noch gesundheitlich und auch nicht faktisch. Er hätte bei seiner korrekten Rücküberstellung in den Schoß seiner Familie das getan, was er schon vorher hatte tun sollen: er wäre gestorben. So aber vervollständigte er den aus gebildeten Abenteurern ausländischer Herkunft zusammengewürfelten Teppich durch einen einheimischen Flicken und zeichnete sich weniger durch die Tatsache an sich als durch die Art und Weise aus, wie er dazugestoßen war, und daß sie ihn nicht mehr loswurden. Der Dorfhund, der ihn erschnüffelt hatte, wurde nicht mit aufs Schiff geschmuggelt, durch Steinwürfe vielmehr aus der Nähe des Piers vertrieben, bis wohin sie ihn mitnahmen, damit er nicht ›plauderte‹. Auch der Dolmetscher, den sie in Kleinasien angeworben hatten, weil sie doch jemand brauchten, der Türken und Kurden, schließlich noch Armenier und Aramäer oder sagen wir überhaupt Aufständische und Regierungstreue unterscheiden und im Bedarfsfall die Situation entschärfen konnte, kam natürlich nicht mit, wohl aber Yusuf. Der löbliche Grundsatz, daß man so heimkehren soll, wie man ausgezogen ist, mit dem gleichen Gepäck, fand in seinem Fall keine Anwendung. Aber bis sie auf dem Schiff waren, war es auch gedanklich ein weiter Weg. Zuerst mußten sie begreifen, daß ihr Schützling lebte – was durch den berühmten Druck auf die Halsschlagader geschah, der Leben verkündete, auch wenn der Anblick von nichts als Tod sprach –, ihn sodann aus seiner Ohnmacht herausholen. Gleichzeitig mußten sie sich klarmachen, daß der Weg ins nahe Dorf nicht in Frage kam, war der Junge den äußeren Zeichen zufolge doch Opfer eines Anschlags geworden. Ihn nach Hause zu bringen hieß womöglich, ihn in die Hände seiner Mörder zu geben. Für die Untat kam bei ihrer verschwommenen Landeskenntnis alles in Betracht: die Familie als Brutstätte von Gewalt, das Dorf als Hort von Blutrache und Stammeshaß, die Polizeistation als ein Synonym für Folter und Mord. So nahmen sie Yusuf denn in einer tollkühnen Aktion mit; wäre sie mißlungen, sie hätte ihnen im schlimmsten Fall eine Anklage wegen vertuschtem Mord, im günstigsten wegen gewaltsamer Entführung eingebracht. Der Dolmetscher, von ihrem Eifer angesteckt, leistete den einen oder anderen Vermittlungsdienst und bekam ein Extratrinkgeld, weil er gegen die Gesetze verstieß.

So wie ein Adoptivkind, das seine komplizierte Geschichte vollständig zu kennen glaubt, über kurz oder lang mit der Realität seiner wahren Eltern konfrontiert wird, so Yusuf mit der Herkunft der seltsamen Narbe an seiner Schläfe. Bis dahin hatte er alles mögliche geglaubt. Das fing beim Unfall an und hörte beim Selbstmord auf. Zu den Vorzügen des Unfalls gehörte, daß er ihn überlebt hatte; Gott hatte ein Auge auf ihn gehabt und ihn für die erlittene Unbill mit einer spektakulären Wende in seinem Leben entschädigt. Er hatte – dies ganz unter uns – dem Besonderen, um nicht zu sagen Göttlichen in Yusufs Wesen Rechnung getragen und im letzten Augenblick den Satz »es war um ihn geschehen« in den Topf der ungesagten Sätze zurückgelegt. War der Junge nicht der Heros der Familie, Hermes, der ewig bewegliche Bote, und konnte einfach nicht im Brunnen enden? (Kopfüber hineinstürzen schon, als klassischer Berufsunfall, aber doch nicht krepieren!) Freilich durfte man es dem Schicksal nicht zu schwer machen. Man mußte sich gehörig anstrengen und überleben.

Was den Selbstmord betraf, so konnte Yusuf sich dies und das andichten, von der unbedingten Liebe zur Mutter bis hin zu einer riesengroßen Schuld, bei der ihm freilich kein Bild, keine Vorstellung zu Hilfe kam. Was um alles in der Welt hatte er verbrochen? Die Frage war akademisch und irgendwie falsch gestellt. Zur Schuld zog es ihn gleichwohl, Schuld war für ihn so etwas wie Größe. Aber er wußte wahrhaftig nicht, worum es sich handeln konnte; vielleicht war ja der Geist seiner Brüder in ihn gefahren. Daß, umgekehrt, seine Brüder über ihn gekommen waren, war zwar leicht gesagt, die Möglichkeit stand sozusagen logisch im Raum, brachte aber nicht weiter. Yusuf versetzte sich zwar mit Wonne in seine Brüder, sah mit ihren Augen, gebrauchte ihre Worte, urteilte nach ihren Maßstäben. Aber er ließ sie nach seiner Pfeife tanzen und betrachtete sie stets als seine Geschöpfe. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ihre Wut, wie soll man sagen, original war und ihn treffen könnte. Mit seiner seltsamen Spaltung, seinem Brunnengefühl, hatten sie seiner Ansicht nach nichts zu tun, es sei denn als jenes dunkle Gefühl einer Macht, die ihn verfolgte, oder als intuitive Gewißheit, daß sie ihn einholen würde, weshalb es ihm in der Brust manchmal eng wurde. So sehr er den Schatten seiner Brüder auf seiner Seele fühlte, so sehr lebte er von der Gewißheit, anders zu sein, wofür er nur den altmodischen Begriff der Reinheit kannte. Er hatte immer gewußt, wenn er nicht rein sein konnte, wollte er gar nicht sein; eine suizidale Neigung, wie es in der Gutachtersprache heißt, mußte ihm also unterstellt werden. Wenn ihn jemand fragte, was er werden wollte, wurde er leise und sagte: Ein guter Mensch. Die Antwort unterschied ihn in doppelter Hinsicht von den Brüdern. Die hätten nicht nur eine andere Bestimmung für sich gewollt, sondern auch gar nicht verstanden, daß er von dem Wichtigsten in seinem Leben redete. Ein guter Mensch, das klang in ihren Ohren nur so wie ra ra ra, es hatte überhaupt keine Bedeutung.

Er konnte sich natürlich auch fragen, warum seine Mutter die Segel gestrichen hatte, die junge Frau, und ob das etwas mit Selbstmord zu tun hatte. Vielleicht hatte er ihr ja Kummer gemacht und, als es zu spät war, tätig bereut; nicht tatkräftig genug, freilich.

Der Gedanke an die Familie war Yusuf unheimlich, zumal er ja wieder eine hatte. Er hätte es besser gefunden, wenn sie tot gewesen wäre. Er favorisierte daher eine dritte Erklärung, der zufolge er während eines Raub- oder Militärüberfalls wie das jüngste der Geißlein im Brunnen gesessen und das Massaker als einziger überlebt hatte. Auch diese Erklärung hatte ihre dunklen Stellen – an Benjamin zum Beispiel mochte er in dem Zusammenhang nicht denken –, aber ein unbekannter Tod war leichter zu verkraften als ein unbekanntes Leben; mit Gespenstern war nicht gut Kirschen essen. Das eine oder andere Mal waren ihm seine Brüder im Traum erschienen. Wie in Uhrwerk Orange waren sie auf ihn zugeschlendert, es schauderte ihn, wenn er sich daran erinnerte. Lieber hätte er einen Verlust mit sich herumgeschleppt, als daß er sich an langer Leine geführt fühlte; was, wenn sie plötzlich zuckte!

Nicht zuletzt deshalb, weil Yusufs intellektuelle Kräfte gebunden waren und seine Gedanken sich beharrlich im Kreis drehten, kamen seine Retter jahrelang mit den dürftigsten Erklärungen durch, wie zum Beispiel, daß sie ihn bewußtlos im Brunnen gefunden, der Schwere der Verletzung wegen mitgenommen und, gewissermaßen um sein Leben rennend, auf dem Rückweg das Dorf nicht mehr gefunden hätten. Was das Hinterher anging, so gab ein Schweigen das andere. Yusuf interessierte sich zwar glühend für den Brunnen und wie man ihn gefunden hatte; die Szene stand ihm deutlich vor Augen, er hing an dem Bild. Aber vor der möglichen Banalität der Auflösung scheute er zurück. Daß er als ein unentdeckter Nachkomme Atatürks oder als die Frucht einer sündigen Beziehung des syrischen Bischofs aufgespürt worden und im Brunnen gelandet war, hätte ihn weniger erschreckt, als wenn es auf Grund eines gewöhnlichen Raubüberfalls geschehen wäre oder gar weil er seine Brüder geärgert hatte. Kam auch die Zeit, wo die ollen Kamellen den Heranwachsenden nicht mehr interessierten, und genau in diese Zeit fiel die entscheidende Aufklärung.

Es war sein sechzehnter Geburtstag, eigentlich ein Tag wie jeder andere, aber so behaupteten es seine falschen Papiere. Yusuf wußte gar nicht, wann er geboren war, nur daß seine Mutter ihn sich für die Frühjahrsbestellung auf den Rücken gebunden und in der schon wärmenden Sonne in die Furchen gelegt hatte; ein Grund mehr, sich für Osiris zu halten. Über das Jahr waren seine Eltern sich sehr bald nicht mehr einig gewesen; ein Grund, in das eigene Leben wie in einen Trichter zu blicken. Mehr als die Beschwernisse seiner Herkunft aber, den endlosen Grübelstoff, liebte es Yusuf, die Gewohnheiten seiner Freunde, ihre Kümmernisse und Feste zu teilen. Zu seinem Geburtstag lud er sie daher regelmäßig ein. Verlegen stellte er ihre Gaben, manchmal noch unausgepackt, beiseite und bedankte sich nicht, stürzte sich dafür in die Bewirtung. Gastgeber von Natur, ein Hausherr der liebenswürdigsten Sorte, plante er nächtelang, was es zu essen und zu trinken geben, welche Spiele er spielen und welche Preise er verlosen sollte; niemand durfte sein Fest unbeschenkt verlassen. Da er selbst reichlich eingeladen wurde, verfügte er über genug Anregungen, die er in seinem Kopf zu überraschenden Ideen kombinierte. Dabei ging es ihm nie um das Prächtige und Teure, eher um das Typische – Luftballons und Girlanden in der Wohnung, im Hinterhof abends Laternen –, um den Eindruck von Fülle und Verschwendung. Es war egal, daß die Chips von Aldi stammten, der reichlich vorhandene O-Saft aus Pappkartons ausgeschenkt wurde und die Bonbons von der Sorte waren, die man in Kilopackungen kaufte, war doch alles irgendwie Zitat, fröhliche Anspielung. Der älteste und kindlichste von allen, hatte er die Grundschule in halsbrecherischer Verkürzung und wie im Traum durchlaufen und von ihr zwar nicht den logischen Aufbau, dafür das Phantastische wahrgenommen, das unvergeßlich Festliche. Seitdem zauberte er aus Kreppapier und Stanniol bunte Schlangen, mit denen er Fernseher und Immergrün schmückte, und richtete bunte Teller an. Obwohl verträumt, war er alles andere als träge und organisatorisch geradezu talentiert, sobald er ein Ziel hatte. An Mut fehlte es ihm ohnehin nie, aber auch seine Energie schien unerschöpflich. Der benachbarte Park wurde zum Austragungsort gigantischer Wettkämpfe bis in den Abend, wenn ein angenehmes Gruseln den Grundstein für die Erinnerung an »Josefs Geburtstage« legte; so nannte er sich jetzt, zu große Unterschiede waren ihm nicht geheuer, und er träumte davon, diesen Namen dereinst in seinen deutschen Papieren zu sehen. Wenn es regnete, baute er im Schlafzimmer seiner Nenneltern eine Bühne mit echten Vorhängen auf, wo er seine Lieblingsstücke zum besten gab, Ein Fest bei Papadakis und was er sonst noch im Kindertheater gesehen hatte. Auch hier legte er wenig Wert auf Originalität und verstand überhaupt nicht, was ein Plagiat sein sollte, wenn nicht ein Schimpfwort für eine langweilige Aufführung. Ihm wäre es sinnlos vorgekommen, etwas zu erfinden, gab es doch mehr Stücke, als er spielen konnte. Außerdem hatte sein Vater auch nicht ständig Geschichten erfunden, genauer gesagt, gar keine, nur beim Vortrag mal mehr, mal weniger übertrieben. Warum, wenn man neue wollte, hätte man ausgerechnet nach dem alten Yakub verlangt?

Manchmal schlugen die Jungen über die Stränge, und Josef wußte sich dann nicht zu helfen und war auf einmal ganz klein. »Sie sollen gehen!« weinte er in den Armen der Stiefmutter, während die Gäste die Bühne auseinandernahmen; sein Überschwang hatte eigentümliche Bedürfnisse in ihnen geweckt. Meistens aber gerieten seine Feste zur allgemeinen Befriedigung und kristallisierten zu festen Punkten in den Erinnerungen der Kinder, den glanzvollen Ereignissen ihrer frühen Jugend. Josefs schöpferischer Geist beschäftigte ihre Energien in genau dem Maß, in dem er sie weckte. Der Park hallte wider von ihren Rufen, und in seinem Herzen gab es ein eigentümliches Echo, wie von einer Antwort aus dem früheren Leben, an das er sich prima erinnerte, aber in Bildern. Um die hatte das Vergessen Gräben gezogen, so daß es aussah, als hätte er stets das gleiche gemacht, den Vater geführt, Melonenkerne geröstet, Dung gesammelt und Wurzeln ausgegraben, Schlangen gesteinigt. Keine Frage, daß er sein bester Gast war, nicht der beste Esser, aber der beste Spieler, der eifrigste Sucher und natürlich der schnellste Läufer, unschlagbar im Rennen und Jagen, ein Flieger.

Zu seinem Sechzehnten hatte Josef zum ersten Mal keine Kindergesellschaft, sondern eine echte Party mit Mädchen veranstaltet; am Vorabend, wie es sich gehörte, damit man in den Tag hineinfeierte. Alles andere als nüchtern, nur scheinbar von glasklarem Verstand, in Wirklichkeit übernächtigt und verfroren, saß er am frühen Morgen in der Küche. Seine Lippen schmeckten noch nach den Küssen, die er seiner Flamme geraubt hatte. Auf Zärtlichkeiten seit eh und je erpicht, hatte er keineswegs zum ersten Mal geküßt, diesmal aber anders. Wie um den seltsamen Riß in seiner Person zu heilen, hatte er früh angefangen mit der Liebe, war dann aber auf halbem Wege stehengeblieben. Er war berühmt für das Repertoire unschuldiger Zärtlichkeiten, mit denen er die jeweilige Liebste beschenkte, und galt als leidenschaftlicher Küsser, aber nicht als jemand, auf den Verlaß war. Im Vergleich mit seinen deutschen Freunden ausgesprochen frühreif, übte er zugleich Zurückhaltung wie ein katholisches Mädchen, entwickelte Techniken des In-der-Schwebe-Lassens – auch später noch und bis in den Liebesakt hinein –, ein ganzes Repertoire, bei dem die schönen Dinge zwar in die Länge gezogen, aber zu keinem erlösenden Ende geführt wurden, und konnte plötzlich aufhören, die Leidenschaft ausklingen lassen, ja, wie böse Zungen behaupteten, den Faden verlieren. Er wirkte dann gleichgültig, unbeteiligt, kalt. Dabei hatte er ein warmes Herz, und es fiel ihm bloß schwer, es zu verschenken. Bei dieser Liebsten nun hatte er etwas Neues, eine andere Vorstellung von der Liebe gespürt, eine drängende Entschlossenheit, einen Rhythmus, anders als sein eigener, und war aufgeregt. So war es also, wenn man sechzehn wurde und das Leben begann. Es hing nicht mehr alles nur von einem selbst ab, ob man sündigte oder nicht, sondern auch von andern! Sollte er sich der fremden Führung überlassen? Die Frage beschäftigte ihn. Er hätte hier gern einmal den Rat seiner Brüder gehört, war aber zugleich froh über ihre Abwesenheit. Alles was er brauchte, war ein bißchen Zeit, um in Ruhe nachdenken zu können, und sie hätten ihm bloß die Freundin ausgespannt; kein Mädchen kam an ihnen vorbei, und wenn an dem einen, dann nicht an dem andern. Als er zu frühmorgendlicher Stunde am Küchentisch die wahren Umstände seiner Rettung erfuhr, hätte er just eine andere Aufklärung gebraucht. So war er im ersten Moment nur mit halbem Herzen bei der Sache, im zweiten schien sie ihm aber wie eigens dazu ersonnen, das so dringend benötigte Selbstvertrauen zu zerstören.

In dürren Worten teilte man ihm mit, daß er keineswegs in den Brunnen, vielmehr, die Schläfenwunde wies es aus, Mördern in die Hände gefallen war.

Er war Opfer eines Anschlags geworden, hatte sich also mißliebig gemacht. Jemand hatte sich über ihn geärgert und ihn umgebracht, wie einen Hund in den Brunnen geworfen. Das war so unzweideutig klar wie im einzelnen rätselhaft, wer auf so kaltblütige Art die Konsequenz gezogen hatte, und vor allem, warum.

Es konnten alle gewesen sein, »verstehst du, Josef, alle!«

Als würde er nicht mehr geschont, so kam ihm die Neuigkeit vor.

Ein Kind im Brunnen kann alles mögliche bedeuten, ein Loch im Kopf dagegen nur ein ganz gewöhnliches Verbrechen. Josef, mit seinem archaischen Hintergrund – so der Lieblingsausdruck seiner bürgerlichen Freunde – wußte, daß die sinnlosesten Taten meist einen harmlosen Grund haben. Hatte sich nicht jüngst ein absurdes Gemetzel, verübt auf dem platten Land, aber im Herzen Deutschlands, zum Entsetzen aller, die es analysiert und der Mafia, den Nazis, dem Ku-Klux-Klan zugeschrieben hatten, als schlichte Eifersuchtstat entpuppt, und hatte er bei sich selbst nicht diese blöde Ich-habe-es-ja-gewußt-Reaktion gespürt? Irgend etwas in ihm fühlte sich eben angesprochen. Vorher hatte es ihn gekränkt, daß er politisch und privat wieder einmal nicht auseinanderhalten konnte, aber nachträglich hatte er sich bestätigt gefühlt: nichts war so barbarisch wie das Private.

Eigentlich hatte er bei Gelegenheit seines Geburtstags ja über seine Ferien reden wollen. Mit ein paar Freunden sollte es nach Griechenland gehen, und danach wollte er allein weiter in die Türkei. Den Gedanken fand er anheimelnd und aufregend, von faszinierender Schicksalhaftigkeit. Jetzt erfuhr er, daß er weniger als jeder andere in die Türkei konnte, am allerwenigsten in die Heimat, und in ihm ging mehr als nur ein Ferienplan zugrunde. Er verbannte den Gedanken aus seiner Vorstellung, vermied Unterhaltungen über das Land, aus dem er und etliche seiner Freunde stammten, ja entwickelte eine Aversion gegen den bloßen Namen. A-na-to-li-en, skandierte er bei der allerersten Vorstellung, wenn der Graben ohnehin so breit war, daß selbst das Wort nichts mehr verschlimmern konnte, noch lieber Ost-a-na-to-li-en, so als wollte er sein Trauma förmlich übergeben, als wäre damit schon alles gesagt. Der Riß in seiner Person hatte sich unleugbar vertieft. Es lag ihm fern, die beiden Hälften seines Wesens zusammenzuzwingen, nicht weniger, sich als Detektiv zu betätigen und den Dingen auf ihren gefährlichen Grund zu gehen. Wollte er Rache üben oder sich noch einmal umbringen lassen? Und wenn nicht, was wollte er dann? Hierauf wußte er keine Antwort. Er war zwar ungewöhnlich tapfer, was äußere Gefahren betraf, aber keineswegs mutig gegenüber dem Feind in seinem Innern. Dagegen duldete er nicht die kleinste fremde Stelle an seinem Körper, befühlte regelmäßig seine Schläfe und schöpfte Mut daraus, daß die Narbe immer noch kleiner wurde. An guten Tagen kam es ihm vor, als wäre er noch einmal entronnen und konnte sich vor Glück nicht fassen, daß er existierte. Er wollte sich des göttlichen Wohlwollens würdig erweisen – auch der Menschen, die sich um ihn gekümmert hatten –, indem er ein guter Mensch wurde. Zweideutigkeit war keine Eigenschaft seines Charakters. Er mußte nicht etwas verlieren, um es zu wollen; ihm fehlte etwas. Wenn er heimgefahren wäre, dann um sich ein triumphales Wiedersehen zu gönnen, nicht in alten Geschichten herumzustochern, höchstens die Frage nach dem Warum zu stellen. Er war sich gewiß, daß ein guter Mensch ein glücklicher Mensch war und daß man den ersteren an letzterem erkannte. Ein fanatischer Aufklärer und Rechthaber war aber nicht gut und ganz gewiß nicht glücklich. Dank der politischen Orientierung seiner Freunde war Josef sogar auf dem besten Wege, ein fortschrittlicher Mensch zu werden, eine Synthese aus Glück und Güte, auch wenn er manchmal die Stimmen seiner Brüder hörte. Machten sie sich nicht lustig über die Gesellschaft von Duckmäusern, in die er geraten war und die auf ihn abfärbte? In einem Winkel seines Herzens fand er, daß sie recht hatten. Auch ihm war, als wenn er in all dem Durcheinander seine Männlichkeit verloren hätte. Aber vielleicht war ja genau das fortschrittlich.

Es war nicht so, daß Josef pausenlos darüber nachdachte, aber auch vom Nichtdenken wurde er ein bißchen dumm. In seinem Kopf taten sich Lücken auf, die er durch einen achtsame Lebensführung auszugleichen suchte, nicht ohne Erfolg; aber je älter er wurde, desto mehr haftete ihm etwas Pedantisches an. Von der äußeren Welt hatte er nicht viel Ahnung. Nicht daß er sich nicht für sie interessierte. Aber ihm fehlte das Zupackende. Unvermittelt klinkte er sich aus, was ihm den Ruf der Unzuverlässigkeit eintrug. Er war ohne Zweifel klug, aber sein Verstand leistete nicht das, was man von ihm erwartete: er war der wunderbarsten Einsichten fähig, verweigerte sich aber jeder Methode, so daß sie wie zufällig erschienen. So war Josef den andern in intellektueller und praktischer Hinsicht wenig von Nutzen. Aber für sich selbst trug er die ungeteilte Verantwortung, hielt Ordnung in seinen Sachen, hatte sein Sportzeug stets dabei und die Termine im Kopf. Er kannte seinen Körper, wärmte sich vor dem Training sorgfältig auf und lief nach dem Spiel freiwillig ein paar Runden. Er ehrte seine Fußballschuhe wie andere ihre Familienfotos, dachte beim Spiel nur an den nächsten Zug und versuchte hinterher an nichts zu denken. Wenn er eine Berufsvorstellung hatte, dann war es Trainer. Für die Jugend, versteht sich.

Das größte Ereignis im Leben eines jungen Mannes glitt an ihm vorbei. Seine Unschuld verlor er, ohne daß er sie im vollen Umfang des Wortes verschenken konnte. Ernüchtert ging er aus der stürmischen Liebesbeziehung seiner frisch vollendeten sechzehn Jahre hervor, nicht ohne gewisse Einsichten in die separaten Entwicklungsmöglichkeiten von Liebe und Begehren, Sinnlichkeit und Freiheit: er konnte, aber er mußte nicht. Die erwartete Krönung seines Liebeslebens, das er, leidenschaftlicher Küsser auf Schulfluren und in Jugendherbergswinkeln, mit Feuereifer, aber immer schon mit einer gewissen anschmiegsamen Ziellosigkeit betrieben hatte, blieb aus. Konfrontiert mit dem entschlossenen Begehren der ersten und dann noch einer zweiten oder dritten jungen Frau, stellte er fest, daß man beteiligt sein und danebenstehen, sich erhitzen und einen klaren Kopf behalten, sich als Akteur betätigen und doch Zuschauer bleiben konnte. (Im Fußball ging das zum Beispiel nicht.) Er bekam seine eigene Ansicht über die Sexualität der Frau, die der der Bibel nicht unähnlich war, nur ohne Wertung, und eine ironische Ansicht über den Mann. Da er mit seiner fortdauernden Unschuld, seiner anhaltenden Freundlichkeit, seiner unerklärlichen Zerstreutheit, um nicht zu sagen Gleichgültigkeit, fachmännisch ausgedrückt mit seinen Spaltungen natürlich ins Zentrum des weiblichen Interesses geriet, erwarb er sich eine gewisse Übung, wie die Philosophie sagt, im Falschen zu leben, ja ein Interesse an den Verschachtelungen. Er entwickelte ein Gespür für den morbiden Reiz unerfüllter Beziehungen, für die Möglichkeit, Hysterie zuzuschreiben, wo er selbst sich nicht hingeben konnte, für die innere Reinheit der Prostitution, in die ihn ein Freund, Bootsflüchtling, einführte, und wäre bei letzterer vielleicht ernsthaft eingestiegen, hätte er nicht das Gefühl gehabt, auch dadurch seine Freiheit zu verlieren.

Schon vor Jahren hatte der Jugendtrainer ein Auge auf ihn geworfen und keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu fördern. Noch bevor er sich eingelebt hatte, die Wunde an seinem Kopf war kaum verheilt, fing er wieder an, Fußball zu spielen. Die Folgen der Gehirnerschütterung überwand er auf dem Platz. Er war sich der seltsamen Ekstase bewußt, die der Sport schon immer in ihm auslöste und die andere, die ihre eigene Fußballgeschichte hatten, provozierte; schien es doch so, als hätte nur er ein Recht auf den Ball. Diese Ekstase war ihm nicht geheuer, sie paßte so gar nicht zu seinem vorsichtigen Umgang mit der Welt. Aber er war vom Fußball wie imprägniert, er hätte nicht auf ihn verzichten können. Wie sollten die andern merken, daß er kein Affe, sondern ein Mensch war, wenn er ihnen nicht zeigte, was er draufhatte! Als die Erwachsenen anfingen, sich Gedanken um seine sportliche Integration zu machen, da war er auf der Straße schon ein kleiner König und die Einladung, im Verein zu spielen, nur die logische Folge.

Er erinnerte sich: in einem Verein, mit Trikot, Stulpen und Hose! Er war, ohne ein einziges Mal innezuhalten, vom Park nach Hause gerannt und hatte mit Betteln nicht aufgehört, bis der überraschte Ziehvater ja gesagt hatte.

Ins Vereinsleben gezwängt, machte er beinahe unbemerkt Karriere. Nicht, daß er es selbst nicht mitbekam; auf eine fröhliche Weise war er immer noch stolz und auf eine kindliche Weise eitel. Aber kaum hatte er den Schweiß abgespült und die primitiven Umkleideräume verlassen, dem geduldigen Hausmeister tschüs gesagt und sich mit schlenkernder Sporttasche auf den Heimweg gemacht, verlor er allen Mut. Dabei ging ihm das Geleistete durchaus nicht aus dem Kopf, im Gegenteil, er vergaß auch nicht das Ansehen, das er unter den Kumpels genoß, das Lächeln des Trainers, seinen väterlichen Stolz. Aber übergangslos nahm die Erinnerung den Charakter einer Erzählung an; kurz, er war nicht mehr allein, oder je mehr er allein war, desto mehr fühlte er sich wie von einem Publikum begleitet. Zu dem rechnete er alle, die es anging, selbstverständlich auch sich selbst, und dann natürlich die Brüder, die seine Entwicklung aus dem Hintergrund verfolgten. Denn wenn seine Zieheltern das Teuerste waren, was er besaß, und mittlerweile den ihnen zukommenden Platz von Leitbildern im Olymp von Josefs Bewußtsein, seiner höheren Vernunft oder seinem Gewissen, eingenommen hatten, so bevölkerten die Gespenster der Kindheit sein Traumleben, und die Brüder zerrten nach Belieben an ihm, waren sie doch ein Teil von ihm, oder er, wie er bedrückt feststellte, von ihnen. Der verstorbenen Mutter legte er seine Erfolge zu Füßen, sie war seine Himmelskönigin, und wenn er von Benjamin träumte, dem Winzling aus demselben Stamm, traten ihm noch im Schlaf die Tränen in die Augen, und es befiel ihn ein gar nicht auf den jüngsten Bruder persönlich gemünztes Bedürfnis zu weinen. Seinem Vater aber glaubte er immer noch viel zu verdanken – in diesem gestelzten Ton redete er mit sich –, war jener doch groß gewesen, als er ihn führte, er selbst klein, und er glaubte, daß er mit dem Vater an der Hand wer weiß was für eine Welt- und Menschenkenntnis erworben hatte, und hielt sich für einen rechten Wilhelm Meister; es waren jedenfalls seine Wanderjahre gewesen. Dabei kam es ihm vor, als wenn ihm etwas fehlte, so als hätte er ein wichtiges Ereignis in seinem Leben nicht mitbekommen oder vergessen. Das hatte seiner Ansicht nach mit dem Brunnen nichts mehr zu tun. Er war noch nicht erwachsen, so kam es ihm vor, oder da er den Augenblick verpaßt hatte, würde er es nicht mehr werden. Ein in sich gekehrter junger Erwachsener, sann er dem verpaßten Augenblick nach, während andere an seiner Profikarriere bastelten.

Erst in der Rückschau erkannte man den direkten Weg – von der C-Jugend aufwärts über die Kinderstuben regionaler Vereine, Jugendturniere und Spiele mit erstem Lohn –, der ihn bis hinauf in die Stammannschaften der nationalen und internationalen Ligen führen sollte. In diesem Zusammenhang mußte er doch einmal in die Türkei reisen und ging im Flughafengebäude von Istanbul, ohne es zu merken, an seinen Brüdern vorbei, die von einer Reise nach Anatolien und an die Strände des Mittelmeers zurückkehrten und eben einchecken wollten. Josef, zum ersten Mal in der alten Heimat und fest entschlossen, diese Tatsache nicht zur Kenntnis zu nehmen, hielt den Kopf gesenkt und sein Gepäck beieinander. Die Brüder, die ihre dörflichen Verhaltensweisen über die wechselvollen Jahre bewahrt hatten, schlenderten erhobenen Hauptes durch die Halle, das Revier markierend, und es kann nicht mit Sicherheit behauptet werden, daß Josefs glatter Scheitel nicht von einem einzigen Blick gestreift wurde; schließlich waren sie zu dritt, nur Benjamin war wegen der Schule zu Hause geblieben. Efrem jedenfalls, der Älteste, spürte zum ersten Mal auf dieser Reise die Gegenwart des verlorenen Bruders, den sie zwar halblaut erwähnt hatten, dem sie in der Heimat aber keineswegs auf Schritt und Tritt begegnet waren; was heikle Erinnerungen betraf, war sie vielmehr angenehm leer, und schon deshalb hatte die Reise sich gelohnt. Hier jedoch, in der Halle des internationalen Flughafens von Istanbul, spürte er auf einmal die Gegenwart des Bruders, es zog ihm förmlich den Kopf herum, und er musterte die Ströme der Ankommenden und Abfliegenden wie ein Rancher sein Vieh, sah aber nichts. Er warf einen Blick zu Halil, dem Mörder, hinüber und glaubte auch an dessen Nasenspitze eine nervöse Veränderung zu erkennen. Nur Esmer, der Zweite, tänzelte, animiert vom allgemeinen Kommen und Gehen, wie immer sorglos herum und hielt sich in Form: für einen Flirt, ein Spielchen, eine spöttische Bemerkung, was immer sich aus dem Zusammentreffen so vieler Menschen ergab.

Um auf die Chuzpe zurückzukommen, mit der sie ausgerechnet dahin zurückkehrten, wo sie im buchstäblichen Sinn eine Leiche im Keller hatten: Es war ihnen nicht gut gegangen, seit sie das Dorf verlassen hatten, und sie durften sich gut und gern zur Hefe jener Gesellschaft rechnen, in der sie ihr Glück machen wollten. Dies war ihre erste Reise nach Hause, aber andere waren längst vor ihnen gefahren, Heimat und Erholung kombinierend und um die Lage zu checken; ob sie etwa zurückkehren sollten, an diesem Gerede hatten mehr oder weniger alle teil. Als sie des Strandlebens überdrüssig wurden, auch die erotischen Abenteuer einen Ortswechsel anrieten, damit sich die Wellen glätten und der periodische Wechsel der Urlauber das Vergessen befördern, die Gemüter befrieden konnte, bekamen sie wie zu erwarten Sehnsucht nach zu Hause. Im Handumdrehen mieteten sie einen Wagen und fuhren über schlechte Wege ins Land hinein nach Osten, verbrachten die Nacht im Auto, wechselten sich am Steuer ab und gelangten schließlich in ihr Dorf. Daß sie ihrem Bruder übel mitgespielt hatten, hielten sie dadurch für abgegolten, daß das Leben mit ihnen nicht besser verfahren war. Zwar, sie lebten noch, und Yusuf war tot, aber nicht eine Minute seit ihrem Weggang waren sie ihr eigener Herr gewesen. Daran war vor allem der Vater schuld, der sich nicht an die Regeln gehalten hatte. Er war nämlich nicht rechtzeitig gestorben. Es war ihm wohl doch nicht so wichtig, seine Gebeine in Heimaterde zu betten und, wie tausendmal gefordert, neben seiner zweiten Frau, der einzig geliebten, zu liegen. Hinfällig, pflegebedürftig, über große Teile des Tages bettlägerig, und dann auf einmal nicht, war er nach wie vor das Zentrum der Familie und zugleich der Hinderungsgrund für alles. An ihm lag es, wenn die Brüder von Ängsten geplagt wurden, die ihrem Alter nicht angemessen waren, und an diesen Ängsten wiederum, daß sie den Tod des Alten ebensosehr fürchteten, wie sie ihn herbeisehnten. Auf wen sollten sie es künftig schieben, wenn ihnen alles mißlang? Sie waren eigenbrötlerisch und unverträglich wie je, die rückständigsten in der Gemeinschaft der Landsleute, in die es sie unwiderstehlich gezogen hatte, schon des Vaters wegen, oder sagen wir die unverständigsten; denn einen Automotor konnten sie schon auseinandernehmen, einen Handel abschließen, die Wohnung renovieren, daran fehlte es nicht, wohl aber am Sinn fürs Vorwärtskommen und überhaupt an Strebsamkeit, Pünktlichkeit und Fleiß, den Tugenden ihres Gastlandes, die ihre geselligeren Cousins sich nicht nur im Handumdrehen zu eigen gemacht, in denen sie sich wiedererkannt hatten. Seitdem zum 95.Geburtstag des Vaters der Bürgermeister sich eingefunden und erklärt hatte, ab dem hundertsten käme er jährlich, wußten sie, daß sie zu Hause einen Schatz hüteten, und achteten streng darauf, daß sich die Schwiegertöchter keine Nachlässigkeit zuschulden kommen ließen und der Vater immer sauber angezogen war, ja, wenn der Nachmittag kam, fein herausgeputzt in seinem Sessel saß. Unter den Landsleuten galt er, seiner Weisheit wegen, als noch älter, als er war. Nach wie vor erzählte er Geschichten, wiederholte sich jetzt aber öfter oder vergaß die Hälfte, und überhaupt war er jetzt seine eigene Geschichte, wenn er nach den Schwiegertöchtern rief, über die Söhne herzog, im Nichtbeachtungsfall mit Pantoffeln und Tellern gegen die Wand warf, nach Josef jammerte; geradezu anheimelnd war es. Er hatte übrigens auch eine deutsche Schwiegertochter, die den Bogen raushatte, das durch geschmacklose Garnituren zugestellte Zimmer mit wenigen Handgriffen gemütlich zu machen und das Tüchlein um seinen faltigen Hals, die Mütze auf dem kahlen Schädel so zu drapieren, daß aus dem furchterregenden Alten ein schnurrender Kater, aus dem alttestamentarischen Patriarchen ein deutscher Opa wurde. Die anatolischen Schwiegertöchter sorgten dagegen für reichliche Nahrung und wurden durch den sinnlosen Aufwand der Schwägerin, ihren lächerlichen Sinn fürs Ganze, mehr zum Lachen als zur Eifersucht gereizt.

Die Jahre gingen über sie hinweg in einem Land, wo sie Diener mit Herrenallüren waren, Handlanger und kleine Betrüger, stocknüchterne Machos mit einer Leidenschaft für Chips und Cola, kurz junge Männer von zweifelhaftem Ruf. Unerträgliche Spottdrosseln und unverträgliche Querköpfe, wechselten sie von betriebsamer Geschäftigkeit zu dumpfem Brüten, auch echter Reue, nun nicht gerade für Vergewaltigung, Totschlag und Mord, aber doch so ähnlich. Jeder für sich waren sie zu der Überzeugung gekommen, daß Yusuf sich um die Anstrengungen des Lebens wie immer gedrückt und ihnen zu guter Letzt auch noch den Vater aufgehalst hatte. Hatte er nicht schon immer das Weite gesucht, wenn es zu Hause zu tun gab, und auch die gottverdammten Ziegen mehr als Ausrede denn als Aufgabe betrachtet, vom Vater ganz zu schweigen? Hatte er sich nicht sogar mit Fußball herausgeredet, wenn es Mauern zu errichten oder Mist zu trocknen galt, und behauptet, er würde – sein Lieblingsausdruck! – gebraucht? Hatte es ihn nicht, kaum daß seine leibliche Mutter unter der Erde war, wie an unsichtbaren Fäden zum Bolzplatz gezogen? Hatte er auf seine unschuldige Art nicht geglaubt, er könne ein Spielchen riskieren, und hatte Gott ihn nicht energisch dafür zur Kasse gebeten?

Vielleicht am unangenehmsten war, daß er in ihrer Vorstellung immer noch so aussah wie damals, als er sie verlassen hatte, strotzend vor jugendlicher Verheißung, während sich bei ihnen schon die Haare lichteten. Vom schäbigen Wohlleben hatten sie einen Bauch bekommen, und lang war es her, daß sie ihrerseits den Ball bewegt hatten. Andere hatten sich da besser gehalten; daran änderte auch ihr gehässiger Kommentar nichts, der hochfahrende Ton, mit dem sie etwa feststellten, dieser und jener ihrer Cousins habe sich kein bißchen verändert. Sie wollten damit andeuten, daß er von den Problemen der Immigration nichts wußte beziehungsweise der Unterschied zwischen Deutschland und Anatolien ihm noch nicht aufgegangen war, pflegte er in ihren Augen doch dieselbe kindliche Unmittelbarkeit wie im Dorf, buckelte auf der Arbeit vor den Deutschen und zu Hause vor den Alten. Tatsächlich widmeten ihre Altersgenossen die Freizeit der Gemeinde, brachten auch den dazugehörenden Fußballverein nach vorn und waren selbst immer noch beachtliche Spieler.

Auch in der Liebe zeigte sich erster Verschleiß; nicht bei der Technik der Eroberung – da machte ihnen keiner etwas vor, und jeder, der seine Frau werthielt, hatte nach wie vor ein Auge auf die Jakobsöhne –, wohl aber beim männlichen Elan. Mag sein, daß ihnen der sorglose Gebrauch von Kräftigungsmitteln, wie sie sie im Fitneßstudio erhandelten, einen Streich spielte. Stocknüchtern, wenn auch mit einem Hang zum Spintisieren und zur Spekulation, der rein abstrakt gemeinten Erörterung des Müssens und Sollens, auch des Woher und Wohin in der Welt, waren sie gleichwohl empfänglich für die Verlockungen des Markts und sorglos gegenüber seinen Gefahren. Sie wären wohl auch nicht zurückgeschreckt vor den Pulvern, die es in den dunklen Ecken des Parks zu kaufen gab, hätte es ihnen nicht eben an Phantasie gemangelt; so aber waren sie unempfänglich für den Rausch, den diese versprachen, grausten sich auch wie die Kinder vor dem Anblick realen Jammers, der dazugehörte.

Alles in allem war ihre Lage nicht dazu angetan, sie davon zu überzeugen, daß sie sich Yusufs wegen irgend etwas versagen müßten; ihnen war alles versagt. Warum hätten sie nicht ins Dorf zurückkehren sollen, zumal es von seinen ursprünglichen Bewohnern fast vollständig geräumt war und das Vergangene seinen Sinn verloren hatte, kaum noch real genannt werden konnte; bereits der erste Augenschein, als sie die Hauptstraße auf und abschritten, gab ihnen recht. Wie auf Verabredung schlenderten sie, nachdem sie das Vaterhaus sowie die übriggebliebenen Alten aufgesucht, pflichtschuldig Grüße ausgerichtet, das Brot mit ihnen gebrochen und Fotos geschossen hatten, zu »Yusufs Brunnen« hinaus, umringten ihn wie Kinder beim Ausflug das ersehnte Ziel, und Efrem zog unversehens eine Taschenlampe heraus, blitzte einmal und noch einmal hinein, freilich ohne daß sich das Geringste erkennen ließ. Esmer hampelte wie üblich herum und bedachte das Mauerwerk aus innerem Zwang zur Blasphemie sogar mit einem Tritt, der wie gesagt alles andere als persönlich gemeint war und lediglich einer falschen Stimmung zuvorkommen sollte. Halil, den Mörder, schauderte es; er hatte nun einmal schwache Nerven. Bei der Annäherung an den unheimlichen Ort kreuzte er in unbewußter Abwehr die Finger, schlug dann aber gemeinsam mit den Brüdern sein Wasser auf dem Felsgrund ab, wobei Esmer eine Geste machte, die man als Aufforderung, in den Brunnen zu zielen, mißdeuten konnte, wozu sich aber niemand verstehen mochte. Schließlich wanderten sie noch zum See hinaus, um auch da nach dem Rechten zu sehen, und hier pinkelte Esmer wohlweislich nicht; es hätte ihn ja ein Blitz treffen können.

Anderntags, auf dem Flughafen, kreuzte wie gesagt der Bruder ihren Weg, und zurück in Deutschland, kaufte Halil, noch wie durchgepustet von der großen Reise, ein türkisches Blatt und vertiefte sich in den Sportteil. Beim Betrachten der Fotos stolperte er über ein Gesicht, das so grob gerastert war, daß es zu den freiesten Assoziationen einlud, wenn man näher hinblickte, sich aber vollends auflöste. Dabei achtete er nicht darauf, ob er etwa einen Spieler der türkischen oder der deutschen Mannschaft bewunderte. Er interessierte sich eben für Fußball, und es war denn auch die Szene, die ihn ergriff, korrespondierte sie doch mit etwas ganz tief in ihm drinnen; wer weiß, vielleicht hatte der Blick, mit dem er am Flughafen von Istanbul den glatten Scheitel Josefs streifte, etwas bewirkt, und der Anblick war ihm geradewegs ins Herz gedrungen, in die unzugänglichen Gebiete seiner Person, gewissermaßen in die Löcher.

Josef hatte wie meistens nicht selbst aufs Tor geschossen, sondern den Punkt vorbereitet, mit zwei, drei seiner schwer nachvollziehbaren Spielzüge, die sein Bruder für einzig auf der Welt hielt. Halil hatte ja selbst keinen schlechten Fußball gespielt und Josef sich die ersten Jahre an ihm orientiert. Was er sah, war nur für den Eingeweihten zu erkennen, und der erkannte es nicht. Ratlos starrte er aufs Papier, knüllte es schließlich zusammen und schmiß es weg, nicht ohne das seltsame Gefühl, sich selbst etwas anzutun. Dann wandte er sich den vertrauten Überlegungen zu: wann er sein erst kürzlich erworbenes Auto verkaufen und ob er auf das merkwürdige, aber nicht uninteressante Angebot jener Frau eingehen sollte, die ihm als Bezahlung für die von ihr gewünschte Arbeit ihren Körper angeboten hatte. War da nun ein Haken dabei oder nicht?

In der folgenden Zeit kam es knüppeldicke für die Brüder, und die Reise, die Heimat, der seltsam aufgerührte Gedanke an den toten Bruder versanken. Die Stimmung des Alten verdüsterte sich und ließ sich nicht mehr aufhellen. Häufiger als je zuvor verlangte er nach Josef, wollte ausgehen, zur Not allein, und gelangte das eine fatale Mal sogar bis vor die Tür und schwang so drohend seinen Stock, daß die Brüder ihn halb ängstlich, halb höhnisch stehenließen. Er war ja blind, dachten sie, hatte von Deutschland, ihrem Wohnort, ihrer Straße kein inneres Bild, und würde freiwillig wieder umkehren. Von drinnen hörten sie den dumpfen Aufprall im Treppenhaus. Der Vater war die Stufen hinuntergestürzt und hatte sich den Oberschenkel gebrochen; von da an rannten die Schwiegertöchter mit der Bettpfanne herum. Auch sein Gehirn hatte etwas abgekriegt. Er redete wirres Zeug und tagelang überhaupt nicht. Den hundertsten Geburtstag würde er nicht mehr erleben.

Aber das war noch nicht alles. Dem Pfiffigen, Esmer, ging eine Transaktion so übel aus, daß die Geschädigten sich an seine Fersen hefteten. Er mußte das Feld räumen. Nun war er zwar leichtfertig, aber keineswegs selbständig. Die Familie zu verlassen, auf sich allein gestellt zu sein, diese Aussicht setzte dem erwachsenen Mann so zu, daß man um sein Wohlergehen fürchten mußte. Vielleicht wären sie ja mit ihm gegangen, neuen Ufern entgegen, hätte der Vater nicht Streß gemacht und Halil nicht als einziger eine regelmäßige Arbeit und überdies einen Prozeß wegen eines Verkehrsunfalls mit Personenschaden, wie es im hiesigen Deutsch hieß, am Hals gehabt; er konnte und wollte sich nicht wegrühren. So wurde Esmer in die andere Ecke der Republik, zu Landsleuten geschickt, von wo er seltsam unzusammenhängende, wie immer unernste, gleichwohl beunruhigende Anrufe nach Hause tätigte. Da Frau und Kinder ihn begleiteten, fehlte beim Alten die beste Pflegerin; um die Kleinen aber, für die er nur die allgemeinsten, also gar keine Gefühle hegte und nicht das geringste Verantwortungsbewußtsein empfand, mußte man sich sorgen.

Unbemerkt bei all dem Aufruhr vollzog sich im Jüngsten eine Wandlung, die wie die genaue Entsprechung zur mangelnden Aufmerksamkeit war, die ihm zuteil wurde: er entzog sich. Man könnte sagen, auch er wanderte aus, aber nach innen; dort war alles wie gedämpft, der Ton ausgeschaltet, das Licht gedimmt, die Brüder, die Vettern, die Freunde gefügig, und er, Benjamin, die Ursache von allem. Später stritt man zuweilen, wann das angefangen hatte; von den Gründen ganz abgesehen. Im Verhalten der am meisten Angepaßte, geistig beweglich, jeder Zoll ein Deutscher, dabei streng in seinen Zügen, geradezu unheimlich, von dunklem Teint, mit einer eigentümlichen Verlorenheit in den tiefliegenden Augen, dabei umgänglich und bei seinen Freunden wohlgelitten, hatte er innerlich wohl etwas abbekommen, damals, als seine Mutter starb und gleich darauf Josef zu Schaden kam und er das zweifelhafte Glück des Jüngsten hatte, mehr zu wissen, als er verantworten konnte. Der Schaden war nicht gleich bemerkbar gewesen; ja in den ersten Jahren schien der Kleine die Lücke zu nutzen, die sich durch das Verschwinden seines Bruders aufgetan hatte, und an ihm schienen die Brüder gutmachen zu wollen, was sie an Josef verübt hatten. Er wuchs beim Zusehen. Seine Brüder förderten ihn auf ihre Weise, indem sie ihm die verheißungsvollsten Perspektiven ausmalten, ihn gelegentlich auch an Orte mitnahmen, für die er noch zu klein war, und zu Verhandlungen, deren Gegenstand und Verlauf er sich auf die abenteuerlichste Weise erklärte. Da sie den Moment verpaßten, wo er sie äußerlich und innerlich überholt hatte – und der kam bald –, verloren sie ihn gewissermaßen aus den Augen, wußten aber nicht, warum. Er machte sein eigenes Ding, das merkten sie wohl. Aber sie redeten über ihn, als wenn er wieder klein geworden wäre; dabei war er an ihnen vorbeigezogen. Als Jüngster blieb er wie selbstverständlich in der Familie, wandelte aber als ein Schatten darin umher, aß nicht mit den andern, schwieg, erteilte übrigens auch keinen Rat, obwohl er zum Beispiel als einziger das Behördendeutsch verstand (und in seinen Phantasien auch selbst verwendete), wurde auch nicht gefragt. Bei Besuch kam er gar nicht erst aus seinem Zimmer, und peinlich war es, wenn die Familie die Frage, ob Benjamin zu Hause sei, wahrheitsgemäß bejahte; peinlich für die Gäste, denn die Brüder sagten, so war er nun mal, und lachten wie über eine unanfechtbare Tatsache.

Es passierte noch mehr, was sich nicht erzählen läßt, würfe es doch ein allzu ungünstiges Licht auf Josefs Familie. In der Regel waren sie bei aller Untätigkeit zu sehr beschäftigt, um sich Gedanken zu machen, und wenn, dann in einer Weise, die sie gleichzeitig betraf und nicht betraf. Aber gelegentlich kam es ihnen zu Bewußtsein, daß sie unter einem Unstern geboren waren. Selbst hier, in der Emigration, hatten sie es nicht geschafft, sich bei ihren Landsleuten zu integrieren. Mitten unter ihnen waren sie noch schlechter dran als sie, wurden noch von denen schief angesehen, die selbst gemieden wurden, und die wenige Achtung, die man ihnen bezeugte – auch die sie vor sich selbst hatten –, verdankten sie ihrem Vater, ausgerechnet dem senilen Alten! Dabei war im Grunde alles nicht so schlimm. Von fünf Brüdern waren sie immerhin noch vier und hatten sich längst fortgepflanzt, wenn auch nicht immer auf dem geraden Weg. Dadurch daß der verfluchte Vater nicht starb, hatte er ein biblisches Alter erreicht. Segen lag auf ihrem Haus, ein schwieriger Segen, aber hinreichend, daß man ihnen in der Gemeinde immer noch, wenn nicht mit Liebe, so doch mit Vorsicht begegnete und daß sie selbst das Gefühl hatten, einem höheren Gesetz als bloß ihren Lüsten und Launen zu folgen, bei aller Willkür Geführte zu sein, um nicht zu sagen Erwählte; denn fromm waren sie immer noch, und Halil, als er schließlich seinen Prozeßtermin bekam, glaubte vor seinen höchsten Richter zitiert und dann auch prompt von ihm freigesprochen zu werden, Esmer, als er sich davonmachte, Gott selbst im Nacken zu spüren. Benjamin aber rang offenbar Tag und Nacht mit seinem Gott; sonst hätte er seine Zimmertür doch nicht verschlossen gehalten. Wenn sich auch nicht alles zum Guten wenden würde, so hatte doch all das Schlimme, das ihnen zustieß, seinen Grund: daß sie nicht hochkamen, obwohl sie nach allen Seiten strampelten, sondern Millimeter für Millimeter im zähen Sumpf versanken.

Von dem Widerspruch zwischen Größenphantasien und nichtigem Alltag zermürbt, hatte Efrem sich in ein Geschäft begeben, das entschieden eine Nummer zu groß war; außerdem mußte er, der Älteste, sich unter die Befehlsempfänger einreihen. Es handelte sich um die Erpressung von Landsleuten, vorzugsweise jungen Emporkömmlingen, die in ihrem neuen Leben noch nicht gehörig Fuß gefaßt hatten und die man, wie Efrem seinen Brüdern erklärte, mit geringem Risiko bedrohen konnte; eine hochprofessionelle Sache, nichts was mit Mord und Totschlag zu tun hatte. Als im letzten Moment ein Mann ausfiel, bot er in alter Großartigkeit an, auf einen seiner Brüder zurückzugreifen und das bereits eingefädelte Ding mit ihm zu drehen.

So kamen sie vor Josef.

Der erkannte sie im ersten Moment so wenig wie sie ihn. Ganz in Anspruch genommen von dem neuen Leben, in das ihn der Aufstieg gestürzt hatte, sah er in ihnen nur das Alte. So abstoßend er sie in ihrer Grobheit fand, so anheimelnd fand er sie zugleich, so wenig anstrengend, so vertraut. Liebenswürdig bat er sie herein. Als er ihnen aber antworten wollte, nachdem sie ihm – rauhbeinig im Ton, aber gesetzt in der Form – die Misere einer unterdrückten Minderheit, seiner eigenen, vor Augen geführt und an seine landsmannschaftlichen Pflichten erinnert hatten, stolperte sogleich über seine eigene Sprache und brachte nur die allgemeinsten Formeln heraus, so etwas wie »Gott soll euch schützen, eure ganze Familie, die Onkel und so weiter auch«, was seiner Ansicht nach der unklaren Situation angemessen war, auf sie aber anstößig wirkte, ja sie beinahe an die preziösen Rollenspiele Yusefs erinnerte, wenn er von den Gesellschaften erzählte. Als sie schließlich zur Sache kamen, mußte er sie doch wahrhaftig bitten, deutsch zu reden, denn er verstand nicht, was sie von ihm wollten. Da kam dann aus ihrem erwachsenen Mund ein seltsames Gemisch aus Straßen- und Kinderdeutsch. Josef, kilometerweit entfernt von jeder Angst und durchaus nicht auf der Höhe der Situation, entgegnete ihnen mit einer Liebenswürdigkeit, der es nicht an Herablassung mangelte. Er mußte mit einem kräftigen Stups auf den Boden der Wirklichkeit zurückgebracht werden.

In diesem Augenblick erkannte er sie, und sie, wie er da auf dem Boden saß und sich die kostbaren Schienbeine rieb, erkannten ihn. So widersprüchlich war die Situation, daß die Brüder den Bruder noch einmal hätten umbringen können, wären in diesem Augenblick nicht Josefs Trainer und sein Manager hereingekommen. Josef bedachte in Windeseile die Situation, man kann auch sagen, fand zu sich selbst zurück. Er beschrieb die außerordentliche Freude, die ihm zuteil geworden war, stellte die Brüder vor und äußerte seine Entschlossenheit, das Glück, seine Familie wiedergefunden zu haben, mit unermüdlicher Sorge um sie bezahlen zu wollen. Das heißt um alle, die am Leben waren.

Der Vater?

Er lebte immer noch.

Die beiden andern?

Auf ihre Weise schon.

Josefs Vormünder priesen den Zufall, der sie mitten in das Wiedersehen platzen ließ; so konnten sie von Anfang an Einfluß nehmen auf die neue Verwandtschaft und den Überschwang der Gefühle in geordnete Bahnen lenken. Wenn sie sich die seltsamen Brüder ansahen, konnte Josef ihnen für ihren mäßigenden Einfluß am Ende nur dankbar sein. Und das stimmte ja auch; nur weil sie da waren, durfte er sich so unbefangen freuen. Während er sein Schienbein streichelte, bekräftigte er seinen Wunsch, die Familie so bald wie möglich zu besuchen, und umarmte sie dann zum Abschied. Aber da die beiden Manager zugegen waren, umarmte er sie so, wie er wußte, daß man es von Immigranten gewohnt war, das heißt, er stellte das Urtümliche der anatolischen Sippe zur Schau.

Am Tag nach dem nächsten Spiel fuhr Josef seine Familie besuchen. Klugerweise hatte er den neuen Wagen zu Hause gelassen – klug für ihn, der sich freier bewegen konnte, weniger klug in den Augen der Verwandtschaft, denn sein Glanz erstrahlte nun weniger hell. Es wurde dem jungen Star ein wenig mulmig, als er durch die kahle Siedlung irrte. Er empfand das Öde des Ortes und fühlte sich aus jedem Fenster beobachtet. Bei der Beschreibung seiner Brüder hatte ihm schon geschwant, daß es sich um eine Enklave handelte, gewissermaßen um ein anatolisches Dorf. Gedankenvoll schob er einen Kieselstein vor sich her, probte hier einen eleganten Zug, dort einen andern und hatte bald die Aufmerksamkeit der Kinder erregt. Er ließ sich von ihnen das Haus zeigen und hätte sie am liebsten mit hineingenommen, an ihrer Spitze Einzug gehalten, so schwach fühlte er sich. Schwer fiel ihm auf die Seele, daß er erwachsen war. Das galt in seiner alten Heimat ungleich mehr, als eine Person zu sein: Josef, der Verlorene, der Wiedergefundene, das Kind. Nun hatte er durchaus nicht das Gefühl, erwachsen zu sein. Seine übersteigerte Vorstellung hinderte ihn daran; gleichzeitig verstand er nicht, warum die Gesellschaft ein solches Theater darum machte. Daß er jung war, war außerdem sein Kapital; nur in verlängerter Jugend konnte er zeigen, was er im Fußball draufhatte. Wenn er einmal aufhören mußte zu spielen, dann, so hoffte er, würde er vielleicht doch noch erwachsen werden, nicht zuletzt deshalb faßte er ja eine Trainerkarriere ins Auge. Er war sich sicher, daß er sein Leben lang an nichts, was man schieben und bewegen konnte, vorbeikommen würde. Aber in seinem klösterlich strengen Kopf war Fußball ein Spiel und eine Leidenschaft der Jugend, da mochte soviel Geld drin stecken, wie nur wollte.

Wenn er denn eine Rolle wählen mußte, dann hatte er erheblich mehr Lust, den verlorenen Sohn zu spielen und sich dem Vater zu Füßen zu werfen – ihm die Hände, die blinden Augen zu küssen –, als den Retter der Familie; obwohl, das hatte auch was, aber der Weg nach unten, auf die Knie, war nun mal der direkte. Wie er die kahle Treppe hinaufschritt, vorbei an blitzenden Augen hinter halbgeöffneten Türen, begriff er, daß er keine Wahl hatte: er mußte den Heuchler spielen, den Retter im Gewand des Büßenden. Daß er es nicht freiwillig tat, würde seinen Hochmut mildern und ihm die Rückkehr in das andere Leben erträglich machen. Gefaßter, als er selbst gehofft hatte, brachte er die Begrüßungszeremonie hinter sich und beugte ehrfüchtig den Kopf vor dem alten Vater, der, zugleich unbeteiligt und aufgeregt, nach allerlei Ausflüchten suchte und schließlich anfing, nach Yusuf zu rufen. Dann wandte er sich liebenswürdig den Schwägerinnen, den Cousinen zu, deren eine er laut Übereinkunft der Eltern hatte heiraten sollen, und streichelte den Kindern den Kopf. Er erkundigte sich pflichtschuldig nach den Abwesenden, lächelte über Esmer, den unverbesserlichen Zweiten, und verdüsterte sich einen Moment, als er hörte, daß sein Besuch Benjamin nicht davon abgehalten hatte, wie immer seiner Wege zu gehen. Bereits zur Begrüßung hatte er angedeutet, daß er wieder fahren müsse, und den Protest der Familie überhört. Es war eine Schande, daß er nicht unter ihrem Dach schlief, und gab zu mehr Anlaß als bloß zu Mißverständnissen und Gerede. Aber so verlangte es nun einmal das neue Leben.

Bereits im Aufbruch, mußte er noch Esmer begrüßen, den Zweiten, der von den Brüdern heimlich bestellt worden war. Ohne alle Rücksicht auf die Umstehenden warf der sich ihm zu Füßen und rief: »Wir haben Unrecht an dir getan, Yusuf, vergib!« Da war es nun ein Glück, daß er der Unernste, das Spielkind, der Clown war, so durfte man sich, die Augen voller (Lach)tränen, nach Herzenslust verwundern, ohne der Sache auf den Grund gehen zu müssen. Für Josef aber tat sich ein Abgrund auf. Was er an Unbehagen empfand, das hatte er auf das neue Leben geschoben, das die Unterhaltung beschwerte und die Freude anstrengend machte. Die Vergangenheit war hierfür nicht notwendig gewesen; jetzt war sie da. Josef mühte sich, den Knienden aus seiner unbequemen Stellung zu befreien, und nahm ihn in die Arme, sich gleichzeitig verabschiedend. Für die andern aber schämte er sich so, daß er versprach, keines ihrer Kümmernisse, mit denen sie ihn förmlich überhäuft hatten, auf die leichte Schulter zu nehmen, weder die Schulden des einen noch den Prozeß des andern, weder die Pflege des Vaters noch die Sorgen um die Kinder, weder den Ärger mit den Deutschen noch den mit den Landsleuten. Brüderlich wollte er die Last mit ihnen teilen und ihnen das Leben leicht machen; nach seinen Kräften, versteht sich. Dann ging er, und so kaputt war er im Moment der Trennung, daß er sich in einer Aufwallung von Zorn die Begleitung verbat. Er wußte nicht, wie er am nächsten Tag auch nur ein Bein heben sollte. Seine Muskeln schrieen.

Wie benommen überquerte er das wüste Gelände rings um die Neubaublöcke der Immigranten und wollte sich soeben innerlich einen Schubs geben und seine Gedanken auf das morgige Training richten, da sah er in der Ferne die hagere Silhouette eines Don Quijote. Es war Benjamin, lang und fremd und wie überzeichnet. Josef stockte der Atem. Ihm war, als wäre die Welt plötzlich schattig geworden. Er gab den mannhaften Versuch, sich wieder einzukriegen, auf; denn da vorne wandelte sein Schicksal.

Der ihm entgegenkam, war ohne Zweifel größer als er und, wer weiß, älter. Josef empfand seine eigene unziemliche Weichheit, seine Formlosigkeit. Dieser fremde junge Mann hatte bis in die ausgemeißelten Backenknochen, was ihm fehlte. Erkennbar war er nicht von hier, während Josef von manchen schon nicht mehr herausgekannt wurde. Und wenn man Josefs große, dunkle, dichtbewimperte Augen rühmte, auf die die Mädchen flogen, so waren die, in die er jetzt blickte, gespenstig. Die mächtigen Kiefer teilte Benjamin mit seinem Bruder, aber im Gegensatz zu diesem fehlte ihm das Fleisch auf den Wangen, die bewegliche, zur Faltenbildung bereite Haut, das ganze verschiebbare Darunter.

Nie in seinem Leben hatte Josef einen so einsamen und fremdartigen Menschen gesehen.

Nicht Freude empfand er, als er dem Bruder entgegenging, sondern Angst, das schmerzhafte Glück der Verschmelzung. Ihm war, als sollte er noch einmal umgebracht werden.

Benjamin, sagte er nun leiser.

Der Bruder wendete sein Raubvogelgesicht, das aus dem hochgestellten Kragen des dunklen Mantels herauswuchs, abweisend zur Seite. Plötzlich entkrampfte er sich, ja er lächelte, und sofort wurde sein einsames Gesicht wie von einer kindlichen Sonne überstrahlt.

Eh, kuck mal, Alter, sagte er, ohne Josef anzusehen, und hielt ihm die rechte Hand hin, die eine böse Wunde aufwies.

Behutsam drehte Josef die Hand hin und her.

Wie hast du denn das gemacht? fragte er entsetzt.

Sein Bruder grinste.

Hab versucht, mein Moped zu reparieren. Kraß, nicht?

Er hielt die andere Hand hin.

Josef betrachtete den dünnen weißen Strich, der quer über das Gelenk verlief.

Sieht aus, als hättest du versucht, dir etwas anzutun, sagte er.

Unwillkürlich hatten sie sich in Bewegung gesetzt und gingen auf die Straßenbahnhaltestelle zu.

Es hat nicht geklappt, sagte Benjamin. Ich bin nicht mutig, weißt du.

Gott sei Dank, sagte Josef und drückte seinen Arm.

Du mußt nicht falsch von mir denken, sagte Benjamin. Ich hatte dich vergessen. Der Umzug und das alles.

Und das? fragte Josef und berührte sein Handgelenk.

Ach das. Wenn man tot ist, dann kann einem nichts passieren. Man ist unbesiegbar. Ich hab das ausprobiert. Manchmal, wenn mir Leute entgegenkommen, gehe ich einfach durch sie hindurch. Ich denke, ich bin tot, und dann gehe ich durch sie hindurch.

Er lachte.

Ich sage dir, es klappt immer. Du berührst nicht einmal ihre Ärmel.

Josef warf blieb stehen.

Ich würde mich auch vor dir fürchten, sagte er, wenn du nicht mein Bruder wärst.

Mit dem Schuh rieb Benjamin die Stelle glatt, auf der er stand, und sah an Josef vorbei.

Da hinten kommt deine Bahn, sagte er, du mußt rennen.

Gott sei Dank, daß du mein Bruder bist, sagte Josef und setzte sich in Bewegung.


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