Ilse Bindseil

Psychoanalyse als Subjekttheorie

 

Was ist die Psychoanalyse, und warum beschäftigen wir uns mit ihr?

Wäre sie nur eine Psychologie unter anderen, wie der orthodoxe Marxismus meint, und nicht zugleich eine Kritik der Psychologie, wir brauchten uns nicht extra mit ihr auseinanderzusetzen; denn Psychologien haben wir weiß Gott schon zu viel.

Wäre sie nur eine ästhetische Theorie und Texttheorie unter anderen, wie die hermeneutische Theorie ebenso wie die ästhetische Theorie von links meint, und nicht zugleich eine Kritik der ästhetischen Theorie und Texttheorie, wir brauchten uns nicht eigens mit ihr zu beschäftigen; denn von Ästhetik haben wir weiß Gott genug.

Wäre sie nur eine Selbstkritik des Bürgertums unter anderen, wie ein fortschrittliches Verständnis der Psychoanalyse meint, und nicht ein Stück wirklicher, auf Selbstaufhebung zielender Kritik, wir brauchten uns nicht eigens um sie zu kümmern. Zu lange schon steht die bürgerliche Selbstkritik im Geruch der Selbstbefriedigung und tatkräftigen Bewahrung des Status quo.

Wenn die Psychoanalyse die Psychologie kritisiert, die ästhetische Theorie und Texttheorie kritisiert und das Bürgertum, soweit es in ihren theoretischen Kräften steht, aufhebt, dann muß sie über eine Erfahrung verfügen, die weder psychologisch noch ästhetisch noch, im strikten Sinn, bürgerlich ist. Da sie diese Kritik aber durchaus im Rahmen und Gewand einer die interdisziplinäre Scheinbewegung der spätbürgerlichen Geisteswissenschaften methodologisch und theoretisch substantiierenden spätbürgerlichen Selbstbespiegelung vollzieht, muß die Erfahrung, die sie in so bestimmten Gegensatz zum spätbürgerlichen Wissenschaftszusammenhang setzt, in ihr verborgen sein. Nicht schreit die Psychoanalyse ihre psychoanalytische Wahrheit als die gesellschaftliche Wahrheit heraus – beziehungsweise insofern sie genau das tut, ist sie nicht besser als jede beliebige Psychologie –, in ihr ist vielmehr eine Wahrheit virulent, die in dem von ihr selbst repräsentierten entstellten, symptomatischen Zusammenhang allererst entziffert werden muß. Wir müssen also davon ausgehen, daß wir es bei der Psychoanalyse mit einem durch und durch zweideutigen Ausdruck zu tun haben, der seine – allerdings exquisite, im bürgerlichen Wissenschaftszusammenhang so nicht aufzufindende Wahrheit – erst unter Bedingungen einer ihn selbst auflösenden Kritik preisgibt.

Was, an der Psychoanalyse, verträgt sich nicht mit unserer Annahme einer emphatischen, systemsprengenden Wahrheit, die sie angeblich transportiert? Daß sie an keiner Stelle, oder jedenfalls nicht emphatisch und explizit, das System sprengt. Also muß die systemsprengende Wahrheit so weit zurechtgestutzt sein, daß sie ins System paßt, und in dieser zurechtgestutzten, angepaßten Form müssen wir sie noch erkennen können. (Erkenntnistheoretische Bedenklichkeit will sich breit machen: Wenn sie um den systemsprengenden Charakter, der sie identifiziert, gebracht ist, woran sollen wir sie dann identifizieren können? – Wir setzen uns über die Bedenklichkeit hinweg.) Was also ist zurechtgestutzt worden an der Psychoanalyse? Die Methode, die immerhin als die konsequenteste bürgerliche Anwendung der Dialektik gilt? Wobei man, wäre nicht das psychoanalytische Gegenbeispiel, jederzeit die Hand dafür ins Feuer hätte legen mögen, daß so viel dialektische Konsequenz, wie sie die Psychoanalyse an den Tag legt, zu einem durchaus nicht mehr bürgerlichen Resultat führen müsse – und wenn nun die Psychoanalyse das Gegenteil beweist; so macht das ihre Anstrengung ebenso wunderbar wie ihre Methode, für unseren Gesichtspunkt, in der Tat verdächtig. Indessen wird man Schwierigkeiten haben, in der Methode einen methodologisch weitreichenden Fehler auszumachen. Ist die gewaltsame Anpassung einer systemfremden Wahrheit ans System also eher in der Konzeption des Gegenstandes zu vermuten? In der Tat läßt sich der Eindruck schwer vermeiden, daß die Psychoanalyse dem Bürgertum, vergleicht man die Rolle, die dieses in der psychoanalytischen Theorie, mit der, die es im zeitgeschichtlichen Zusammenhang spielt, insgesamt entschieden zu viel Ehre antut. Aber dieser Einwand läßt sich nicht leicht substantiieren. Schließlich ist die Ehre, die die Psychoanalyse dem späten Bürgertum zollt, vor allem die Ehre der zersetzenden Kritik, und es hält schwer, verstohlene Bemühungen um eine Rehabilitation, um eine Wiedergeburt etwa unter günstigeren Auspizien, auszumachen. Immerhin können wir wohl davon ausgehen, daß die systemsprengende Wahrheit, die die Psychoanalyse mitzuteilen und, in der besonderen Form ihrer Mitteilung, zu verschweigen hat, nicht in der Weise zurechtgestutzt ist, daß sie nur noch auf ebenso geheimnisvollem wie, aufs psychoanalytische Ganze gesehen, zufälligem Wege, in einer Fußnote, einer Fallgeschichte, einer kategorialen Randerscheinung – dem ›Realitätsprinzip‹ etwa – aufgefunden werden kann, daß vielmehr die Psychoanalyse insgesamt, oder doch ein bedeutender Teil derselben, Träger der systemsprengenden Wahrheit und daher entsprechend zurechtgestutzt ist. Was ist also an der Psychoanalyse im ganzen falsch?

Wenn wir überlegen, was an der psychoanalytischen Theorie so überwältigend richtig ist, daß wir uns genötigt fühlen, in ihr eine den bürgerlichen Zusammenhang überhaupt sprengende Wahrheit zu erkennen, dann ist dies, erstens, die restlose Auflösung falscher, bürgerlicher Formen ( und wenn später, in der vermeintlichen Nachfolge Freuds, die Psychoanalytiker nicht geruht und nicht gerastet haben, bis sie das restlos demontierte Ich, die Phantasie, die Kreativität, all diese Popanze des spätbürgerlichen Kulturfetischismus, richtig wieder aufgebaut hatten, so bestätigt diese eilfertige Wiedergutmachungsattitüde die primäre psychoanalytische Zerstörungsleistung nur –, und es ist, zweitens, das Festhalten an einem unveräußerlichen, substantiellen Interesse, das nicht, wie es der bürgerliche Markt- und Herrschaftsmechanismus suggeriert, bald fahrengelassen und verraten, bald festgehalten und realisiert, sondern nur, und sei es in den depraviertesten, entfremdetsten Formen, festgehalten werden kann. Erst wenn wir diese beiden Wahrheiten, in denen nicht etwa der positive und der negative psychoanalytische Impuls balanciert zum Ausdruck kommen, sondern ein historisch bestimmtes Verhältnis beschrieben wird, zueinander in ein Verhältnis setzen, das sie nicht relativiert und um ihre jeweilige Wahrheit bringt, wird die historische Dimension erkennbar, in der die psychoanalytische Erörterung sich bewegt, und wird erkennbar, daß diese Dimension nicht mehr die bürgerliche ist.

In der Tat läßt das Verhältnis keine andere Auflösung zu. Will man nicht jene kompromißlerische, der Radikalität der psychoanalytischen Kritik selbst nicht gerecht werdende Auflösung auf sich nehmen, die in dem festgehaltenen psychoanalytischen Interesse – an dem, was »der Trieb will«, das »Symptom zum Ausdruck bringt« – nur die äußerste, wenn auch äußerst entfremdete bürgerliche Instanz erblickt, in deren Namen sich die dann freilich systematisch beschränkte Kritik vollzieht, dann bleibt allerdings keine noch so vorsichtig formulierte Kompromißformel übrig, die das, was die Psychoanalyse kritisiert, und das was sie als die Substanz und Logik ihrer Kritik festhält, in dasselbe bürgerliche Verhältnis brächte. Daß das Bürgertum für die Psychoanalyse zwar eine zentrale Rolle, aber nur die zentrale Rolle einer Rationalisierung spielt und aus ihm jedenfalls nicht die entscheidende und in der Tat das bürgerliche System sprengende Wahrheit zu gewinnen ist, die die Psychoanalyse charakterisiert, ist denn auch die zentrale Hypothese der hier angestellten Überlegungen.

Unter dieser Hypothese wird, was gemeinhin als der Bestimmungsgrund der Psychoanalyse angesehen wird, als ihre historische Substanz und historisch längst erreichte Grenze – als da ist: die jüdische Vaterreligion, die Freud die ödipale Problematik vorgegeben hat, die kleinbürgerliche Familienstruktur, die der innerfamilialen Problematik eine lebensbeherrschende Dominanz zuerkennt; die kleinbürgerlich-protestantische Moral, die in der Triebhaftigkeit die entscheidende Instanz, die für die Befriedigung und fürs Zugrundegehen zuständig ist, erblickt – zum bloßen Darstellungsmaterial einer historisch anderen Substanz und Logik, die vom ehemals vermeintlich intakten bürgerlichen Zusammenhang nur noch die »versprengten Bestandstücke« (Benjamin) vorzeigen kann und an ihnen einen ganz neuen Zusammenhang zu demonstrieren verspricht. Und diese Aufhebung der bürgerlichen Grundtendenz der Psychoanalyse und Einebnung ihrer zum Gegenstand und historisch bloßen Hintergrund einer ganz anderen Tendenz findet sich schon in der Psychoanalyse angelegt. Zwar hat sie dem bürgerlichen Mißverständnis ihrer durch die strikteste Beschränkung auf bürgerliche Zwecke und Begriffe Vorschub geleistet; längst aber hat sie auch jeglichen Versuch, sie als eine bürgerliche Selbstdarstellung zu identifizieren und ihr, in diesem Rahmen, Gewicht zu geben, durch eine den Rahmen bürgerlicher Selbstdarstellung historisch und systematisch sprengende Totalisierung jener angeblich bloß bürgerlichen Probleme ad absurdum geführt. Soll das wirklich alles bürgerlich sein, fragt sich der erstaunte Rezipient, die griechische Tragödie, der jüdische Vatergott, das mittelalterliche Märchen, die Shakespeare-Helden, und ist es, fragt er sich sogleich zweifelsüchtig, wenn es eine angeblich so globale, in Wirklichkeit also nicht einmal bürgerliche Bestimmtheit hat, überhaupt? Das wäre, wenn überall das bürgerliche Triebsubjekt aufzuspüren wäre, wahrhaftig ein imperialer Zug des Bürgertums durch die Geschichte, und es hat weiß Gott nicht an tapferen Bürgern gefehlt, die sich an ihm als an der eigentlichen Heldentat der Psychoanalyse beteiligt haben. Aber es hat auch nicht weniger gute Bürger gegeben, die, von ihrem historischen Gewissen gepeinigt, in das bestrickende Einerlei der psychoanalytisch unergründlichen Geschichtsdarstellung post festum die historisch nötigen Korrekturen einzufügen versuchten, dankbar eingedenk der Tatsache, daß erst der psychoanalytische Imperialismus die fremde Fragestellung möglich macht: Was war eigentlich, psychisch, an der Tagesordnung zu einer Zeit, als die Heimstatt der Psyche noch nicht der Bürger war?

Ist dies der richtige Weg? Die Mängel an Historizität, die die Psychoanalyse aufzuweisen hat, durch eine korrektere psychoanalytische Historizität korrigieren zu wollen, könnte zu einer nun in der Tat nicht nur beträchtlichen, sondern grotesken Verzerrung der Geschichte und der Psychoanalyse führen, dann nämlich, wenn die Geschichte, zumal die bürgerliche, das Organisationsprinzip der Psychoanalyse gar nicht ist – und diese, ihrem besseren Wissen nach zumindest, ebensowenig das der Geschichte. Anstatt also mit Hilfe der Psychoanalyse manifeste Evolutionstheorien und verkappte Geschichtstheorien zu zimmern, die ohnehin nur auf eine Beglaubigung dessen hinauslaufen, was, bürgerlich, ist oder bestenfalls, aber nicht weniger unendlich, im Perfektum war, sollte man den geschichtlichen Mangel der Psychoanalyse vielleicht eher als ein Desinteresse an Geschichte oder sogar als eine Wendung gegen die Geschichte, die bürgerliche Geschichte nämlich, verstehen, die ja tatsächlich, mangelhaft oder nicht, die Bestandstücke liefert, und frei vom Vorurteil der psychoanalytisch entfalteten bürgerlichen Systematik sehen, was in der Psychoanalyse tatsächlich mit der bürgerlichen Geschichte geschieht.

Das reicht bis in die Therapie. Was geschieht denn in der Analyse? Es wird die falsche Geschichte zerstört, es werden die Lügen, die Schutzbehauptungen, die Rationalisierungen zerstört. Mit welchem Ziel? Damit die Geschichte nur korrekt erzählt werden kann? Mitnichten. Damit man aufhören kann, sich mit dieser Geschichte zu befassen. Und das müßte man, nach einer so verstandenen Analyse, auch tatsächlich tun; denn die korrigierte Geschichte bietet keinen, richtigen oder falschen, Erzählstoff mehr. Sie besteht nicht mehr. Sie bestand nur, insofern und solange ihre Lügen, Schutzbehauptungen und Rationalisierungen bestanden. Die waren die Geschichte, nicht bloß Hirngespinste, Irrtümer und sonst nichts. Hören sie auf, hört die Geschichte, die aus ihnen bestand, auf. Die ganze Geschichte? So hätte es der Bürger gern, und da er sich nicht dazu verstehen kann, sich selbst für aufgehoben zu halten – und dies mit dem guten Recht dessen, der faktisch, als Klasse, weiterbesteht –, so verwechselt er die Psychoanalyse mit einer Erzähltheorie, der es, da es vorzeigbare Fakten nicht – ja nicht einmal die infantile Verführungssituation, die auch bloß phantasiert ist – gibt, tatsächlich bloß ums Erzählen geht – und hat damit einen schönen, theoretisch rationalisierenden Ausdruck gefunden für eine Klasse, die über eine Vergangenheit, über eine Zukunft aber nicht mehr verfügt.

Es ist aber eine andere Klasse, die die Ratio solcher Auflösung liefert. Das ist theoretisch notwendig, und theoretisch bewiesen werden kann es auch. Notwendig ist die Annahme eines anderen geschichtlichen Subjekts, damit der Zirkel gesprengt – und weder hermeneutisch ästhetisiert, noch existentialistisch radikalisiert und hypostasiert – werde, in den die Psychoanalyse durch die Radikalisierung ihrer Kritik einerseits, andererseits durch ihr radikales Festhalten an dem von ihr kritisierten Subjekt unvermeidlich gerät. Bewiesen wird sie durch die Anwesenheit gewisser materieller Elemente im System, die einerseits für die Unvereinbarkeit der bürgerlichen Psychoanalyse mit den bürgerlichen Wissenschaften bürgen und andererseits nur um den Preis der gänzlichen Zerstörung der psychoanalytischen Theorie aus ihr zu entfernen sind. Es sind dies die von Freud so genannten kriteriellen Elemente seiner Theorie – Ödipuskomplex, Sexualtheorie, dynamische Traumtheorie –, die in seiner Lehre ein ebenso geheiligtes wie, im Kontext bürgerlicher Psychologie, isoliertes Dasein führen und trotz der Heftigkeit, mit der Freud auf ihnen insistierte, ständig in Gefahr sind, als unfunktionale, die interdisziplinäre Kommunikation störende, erratische Blöcke in einer ansonsten bürgerlich angemessenen Theorie und Therapie beiseite geschoben zu werden.

Was nun den hermeneutischen Zirkel der psychoanalytischen Kritik betrifft, so braucht er, um gesprengt zu werden, nichts anderes zu werden als bloß gesprengt. Wir brauchen nur die psychoanalytische Kritik wörtlich und beim Wort zu nehmen, um in der Rekonstruktion des bürgerlichen (Trieb-)schicksals nicht die Wiederherstellung in integrum eines funktionsfähigen Bürgers zu gewahren, sondern die Bestätigung seiner Ablösung und Rekonstruktion seiner als historisches Detail, das, nach Gesichtspunkten der Gegenwart rekonstruiert, unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart seine historische Wahrheit preisgibt. Diese Prinzipien der Rekonstruktion sind hinsichtlich ihres fundamental bürgerlichen Charakters am wenigsten in Frage gestellt worden. Sie sind es gleichwohl, die am wenigsten, bürgerlich sind. Es ist dies vor allem der Begriff des autonomen, starken, nicht verdrängenden, lustbereiten, produktiven Ich, in dem von jeher das frühbürgerliche aufklärerische Konzept vom Bürger und künftigen Weltbürger wiedererkannt worden ist und die doch, wenn man von ihr nicht nur die allgemein aufklärerische Tendenz auffaßt, sondern die inhaltliche Spezifität jeder einzelnen emphatischen Bestimmung ins Zentrum stellt, nichts weniger als bürgerlich ist. Immerhin hat sich die allgemeine aufklärerische Idee eines autonomen, freien, starken Individuums längst als eine historisch definite Wahrheit, als die anthropologisch-psychologische Bedingung nämlich eines reinen ökonomischen Verhältnisses, herausgestellt. Sie könnte sich nur unter entsprechenden ökonomischen Verhältnissen wiederholen. Nicht nur liefert daher der psychoanalytische Ich-Begriff zum frühbürgerlich-aufklärerischen den genauen Gegenbegriff, er signalisiert entsprechend revolutionär veränderte, beziehungsweise der Veränderung fähige ökonomische Verhältnisse.

Daß es aber nicht genügt, den psychoanalytischen Ich-Begriff als einen zum frühbürgerlich-aufklärerischen bloß komplementären Begriff zu behandeln, als seine psychologische Detaillierung etwa oder geschichtlich reifere Ausführung – nach dem Lernmodell: »wir haben gelernt, daß das Ich auch ein Lust-Ich ist« –, erhellt aus der im bürgerlichen Rahmen unauflöslichen Kontradiktion, die im psychoanalytischen Ich-Begriff steckt. Der sagt ja nicht etwa, wie noch der frühbürgerlich-aufklärerische, wie der ideale Mensch, d. h. der Bürger, beschaffen sein muß; er sagt vielmehr, welche Ideale der Mensch hat aufgeben müssen – zum Beispiel seine Lust –, um ein Bürger zu werden. Dem frühbürgerlich-aufklärerischen Entwicklungsmodell und quasi utopischen Entwurf steht also auf der psychoanalytischen Seite ein reines Rekonstruktionsmodell gegenüber, das von einem transzendentalen, historisch längst über das Bürgertum hinausgehenden Standpunkt aus die Rekonstruktion der Konstitution des Bürgers betreibt: Es ist dieser über das Bürgertum hinausgehende Standpunkt und nicht etwa ein hinter das Bürgertum und seine fragwürdigen Errungenschaften zurückgehendes Interesse, der erlaubt, etwa den Zusammenhang von Ich und Lust auszusprechen. Denn vor dem Bürger war ja kein Ich in dem Sinn, in dem es die Psychoanalyse und, in Rudimenten, schon die Aufklärung bemüht. Seit dem Bürger aber ist es mit der Lust vorbei. Der bürgerliche Charakter zeigt ja ganz deutlich – und die bürgerlich-protestantische Ethik fordert es unüberhörbar –, daß der Bürger seine Stärke und Autonomie auf seinen Triebverzicht gründet. Ihm diesen Triebverzicht zu erlassen, heißt, ihn als Bürger aus den Angeln zu heben und nicht, ihm eine komplementäre Eigenschaft hinzuzufügen. Dieses Ausschließungsverhältnis von bürgerlicher Ich-Stärke und Triebbefriedigung ist so radikal, daß wir uns nicht einmal, wenn wir uns durchaus unbürgerlich gemeinte Befriedigungsformen auszudenken versuchen, auf eine dem bürgerlichen Triebverzicht platterdings entgegengesetzte, und in Wirklichkeit also bloß komplementäre, Befriedigung stützen könnten. Wir haben keinen Begriff von Triebbefriedigung – wir haben nur einen Begriff von Triebverzicht und eine ergänzende, von diesem abgeleitete, Vorstellung von Libertinage und Ersatzbefriedigung –, und es zeichnet die Psychoanalyse aus, daß sie uns kein Befriedigungsmodell liefert fürs bürgerliche Geschäft, sondern nur prekäre Modelle der Resignation und Balance. Es bleibt uns ja doch, was sie nicht als bloß vagen Kompromiß, sondern als reale Befriedigung verspricht, in unserem Kopf erhalten. Freilich nicht als Erinnerung, wie wir nicht zuletzt dank der Psychoanalyse fälschlich meinen, höchstens als ›Erinnerung‹ und Mahnung, daß die bürgerliche Befriedigung nicht die ganze Befriedigung ist. Noch Freud zumindest läßt keinen Zweifel daran – die späteren Anpassungstheoretiker sehen das freilich anders –, daß mit unserem Ich, in unseren Verhältnissen, eine reale Befriedigung nicht zu gewinnen ist. Das Urteil über die bürgerliche Gesellschaft ist ihm eilfertig und interessiert genug als kulturanthropologischer Pessimismus ausgelegt worden, nach dem Motto: Wenn schon im Bürgertum die Ausweglosigkeit regiert, dann soll diese Ausweglosigkeit ein universales Schicksal sein, und das Bürgertum soll wenigstens darin regierend sein, was Erkenntnis, Analyse und Ausdruck der Ausweglosigkeit betrifft. Diese äußerste Bestätigung des bürgerlichen Monopols, wie sie sich als Kult der Selbstzerstörung und perversen Selbstbespiegelung an die Psychoanalyse gehängt hat, kann unser Interesse nicht sein. Wenn Freud die Unvereinbarkeit bürgerlicher Unabhängigkeit und Triebbefriedigung konstatiert, dann können wir nur fragen: Wie sieht der Rahmen aus, in dem Unabhängigkeit mit Befriedigung nicht kollidiert? Wie sieht die Unabhängigkeit aus, die nicht mit Befriedigung, die Befriedigung, die mit Unabhängigkeit nicht kollidiert?

Angesichts der grenzenlosen mimetischen Qualitäten des spätbürgerlichen Kulturbetriebs ist es schwierig, auch nur die Radikalität der Fragestellung zu wahren. Festzuhalten bleibt, daß es bei dem, was Freud an realer Befriedigung suggeriert, nicht um irgendeine Konzession – und sei sie für den rigiden bürgerlichen Sozialcharakter auch noch so skandalös – an den Bürger geht, der des ständigen Triebverzichts überdrüssig ist. So sehr es bei der Konstitution des bürgerlichen Charakters um eine aus Triebverzicht gewonnene Ich-Stärke geht, so wenig geht es bei der Befriedigung, die Freud signalisiert, um die Aufhebung etwa bloß des Triebverzichts. Worum es geht, ist vielmehr die Aufhebung des Triebs, von dessen Konstitution als ein Ding an sich und eine abgespaltene Welt das Bürger-Ich lebt, und die Neuformulierung der Befriedigung unter einem nicht mehr bloß triebhaften, sondern einem rekonstruierten universalen Aspekt. Wo immer wir daher auf ein Befriedigungsangebot stoßen, das uns eine Befriedigung – Erinnerung, Selbstbewußtsein, Potenz, Selbsterkenntnis, Ganzheit der Person etc. – als die psychoanalytisch versprochene Befriedigung präsentiert, brauchen wir uns nur zu fragen, ob eine solche Befriedigung die bürgerlichen Verhältnisse, d. h. auch nur unseren bürgerlichen Charakter, sprengt. Wo nicht, mag uns die versprochene Befriedigung angenehm sein, sie mag uns angenehmer machen für die andern, sie mag uns zum Durchhalten befähigen, und sei es auch zum Durchhalten in untragbaren Verhältnissen, die psychoanalytisch gemeinte Befriedigung ist sie jedenfalls nicht.

Es ist nicht nur die methodische Zerstörung bürgerlicher Inhalte durch die Psychoanalyse – dies, daß jede Entwicklung als Rationalisierung, jede Befriedigung als Ersatzbefriedigung, jede Äußerung als Symptom, jede inhaltliche Orientierung als Fixierung und Regression entlarvt und als Heilung nur der Verzicht auf unbotmäßige Wünsche, milde Resignation und die Restitution einer nach bürgerlichen Durchschnittsmaßstäben mittleren Arbeits- und sexuellen ›Leistungs‹-Fähigkeit präsentiert werden –, was die Alternative schon rein logisch erzwingt. Es gibt auch inhaltliche Elemente in der Psychoanalyse, die, so sehr sie dies bürgerliche Schicksal fundamentieren, die Alternative aus der Abstraktheit einer bloß logischen Notwendigkeit und Utopie befreien und sie selbst wie immer merkwürdig und verquer zum Ausdruck bringen.

Zum Beispiel der Ödipuskomplex, Grundskandal der Psychoanalyse, die mit ihm angeblich ihren unwissenschaftlichen, im Grunde bloß mythologischen und darüber hinaus sexuell haltlosen Charakter unter Beweis stellt, und Grundpfeiler der psychoanalytischen Auflösung des Bürgerlichen, dem in keiner seiner Äußerungen gestattet wird, über diese ebenso gleichgültig-mechanische wie schicksalsträchtige Grundkonstellation der Kindheit hinauszugelangen. So sehr der Ödipuskomplex das Schibboleth des Bürgertums ist – d. h. die Wahrheit, auf die die Psychoanalyse das Bürgertum bringt –, so sehr ist er andererseits eine Wahrheit, die das Bürgertum längst sprengt und dies nicht nur, weil sie zu zerstörerisch für das Bürgertum wäre, sondern auch, weil sie längst eine materiell andere Wahrheit ist.

Die zweideutige Beziehung des Ödipuskomplexes zum Bürgerraum, dessen nackte Wahrheit er angeblich bloß ist, erhellt nicht zuletzt aus der wissenschaftstheoretischen Entwicklung, die er genommen hat und in deren Verlauf ihm seine geschichtliche Überholtheit noch innerhalb des bürgerlichen Zusammenhangs selbst und Ablösung durch sogenannte präödipale, narzißtische Fixierungen bescheinigt worden ist. In der psychoanalytischen Diskussion, auch der soziologisch orientierten, ist nie ein Zweifel daran gelassen worden, daß es sich bei der präödipalen Störung, im Vergleich zum Ödipuskomplex, um die gravierendere Krankheit handelt. Und so wie die psychoanalytische Theorie sich erst durch die scheinbar vordergründige Dramatik des Ödipuskomplexes hindurch bis hin zu den phänomenologisch unauffälligeren präödipalen Phasen vorgearbeitet hat, so hat auch die soziologisch orientierte Theorie sich durch den Ödipuskomplex hindurcharbeiten müssen, bis sie den Mut und Anlaß fand für die ihrem Verständnis nach ungleich radikalere Diagnose des ›Nicht-mal-Ödipus‹, der präödipalen Fixierung. Die geschichtliche Entwicklung ist ihr dabei zu Hilfe gekommen. Denn was in der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie quasi nur eine wissenschaftliche Notwendigkeit, ein theoretischer Automatismus war, daß man sich tastend zu immer früheren Entwicklungsphasen vorarbeitete, das stellte sich auf der soziologischen Ebene nun als die Bewegung der Geschichte selber, der bürgerlichen jedenfalls, heraus, in deren Verlauf der ödipale Typus verabschiedet und der ›vaterlose‹, präödipal fixierte, auf den Schild der geschichtlich dominanten Entwicklung gehoben wurde.

Der Vorgang ist auch wissenschaftstheoretisch interessant. Aus einigen bürgerlichen Grundkategorien – der ›normale‹ ödipale Typus etwa und seine narzißtischen Defizienzformen – mit einer bedeutenden geschichtlichen Plausibilität und einem fatalen Hang zu einer geschichtszerstörenden Anthropologisierung und Universalisierung, die weder vor den alten Griechen noch vor den modernen Eingeborenen haltmacht, wird, als Resultat einer wissenschaftsimmanenten Entwicklung und einer gleichzeitigen kurzfristigen gesellschaftlichen Veränderung, das überaus fein differenzierte soziologische Instrumentarium zur Beschreibung und Kritik eines zeitlich unerhört beschränkten Phänomens, einer kulturanthropologischen Krise nämlich im späten Bürgertum der zweiten Jahrhunderthälfte. Man ist versucht, in dieser Reduktion eine Art Gesundschrumpfungsprozeß der psychoanalytischen Theorie zu sehen, eine Reduktion ihrer anthropologisch aufgeblähten Aussage auf die Dimension der gesellschaftlichen Verhältnisse, deren unmittelbarer Reflex und reflektierter Ausdruck sie ist. Daß in dieser Reduktion eine unerhörte Hypostasierung der psychoanalytischen Kategorien steckt, die aus dem spekulativen Kontext einer ans therapeutische Verhältnis fixierten rekonstruktiven Analyse und einer den therapeutischen Standpunkt radikalisierenden Geschichtstheorie das positive Nacheinander miteinander konkurrierender und einander ablösender ›geschichtlicher Charaktertypen‹ macht, darf gleichwohl nicht übersehen werden. Diese Hypostasierung wird auch nicht dadurch wettgemacht, daß die neudefinierten Begriffe allem Anschein nach ausschließlich zu einer den psychoanalytischen Befund noch vertiefenden, ja, ihn entschieden radikalisierenden bürgerlichen Selbstkritik genutzt werden. Daß sie eine Krise und entschiedene Wendung zum Schlimmeren diagnostiziert, daran läßt die präödipale Diagnose keinen Zweifel. Denn was uns, ihr zufolge, ins Haus steht, ist ein extrem aggressiver, frustrationsintoleranter Typus, der über keine eigenen Kontrollmechanismen, Verzögerungsmechanismen, Verarbeitungsmechanismen mehr verfügt, der nur der haltlosen Befriedigung imperativer, ihm zumeist von außen eingeimpfter Bedürfnisse nachjagt, der weder zur Herstellung auch nur, noch zur Lösung eines Konflikts imstande ist und es zum Konflikt auch gar nicht kommen läßt vor lauter Dreinschlagen und Geschlagenwerden, Verschlingen und Verschlungenwerden. Seht, das ist der Bürger von heute, sagen Psychoanalytiker und Soziologen gleichermaßen entsetzt, ohne Ödipuskomplex, ohne Verdrängung und Neurose, aber auch ohne Internalisierung, Identifizierung und Sublimierung, ein Tier ohne die den Tieren eigenen Kontrollmechanismen, ein Produkt und Agent bürgerlicher Zersetzung. Wir, die Bürger von gestern, müssen uns vor ihm fürchten.

Diese unerhörte Hypostasierung eines theoretischen Verhältnisses – d. i. der Ödipuskomplex und seine narzißtischen Defizienzformen – zu einer Phänomenologie der geschichtlichen Abfolge bestimmter Typen, in denen einzelne Bestandteile dieses theoretischen Verhältnisses abwechselnd dominant werden, wird, wie gesagt, durch den selbstkritischen Gewinn, den sie erbringt, nicht wettgemacht. Nur zum Schein nämlich wird in dieser schonungslosen Diagnose dem Bürgertum eine letale Prognose gestellt und ihm der Exitus vorausgesagt. In Wirklichkeit bedeutet die Hypostasierung des theoretischen Verhältnisses zuallererst eine Hypostasierung des Bürgertums selbst, in kulturpessimistischem Gewand, und manches, was Bestimmung einer künftigen, von kleinbürgerlichen Zwängen freien Gesellschaft hätte sein können, wird unter der Überschrift Narzißmus zum Charakteristikum einer bürgerlichen Generation erklärt, der es, dank ihren Vätern, gelungen ist, die Angst vor Zerstörung in den Appetit auf Selbstzerstörung umzuwandeln. Wenn das Bürgertum schon zugrunde gehen muß, nichts anderes besagt, im Kontext gesellschaftstheoretischer Analyse, die präödipale Diagnose –, dann soll es nur an sich selbst zugrunde gehen; und noch während es schon zugrunde geht, reden wir über nichts anderes als über das Bürgertum selbst; was danach kommt, ist die Katastrophe – denn die Welt, geht mit dem Bürgertum zugrunde –, oder, wie viel eher zu erwarten steht, eine neue Seite im unerschöpflichen Buch der bürgerlichen Geschichte.

Diese in letzter Instanz affirmative Bedeutung der Narzißmusdebatte wird wahrscheinlich weniger bestritten werden als der qualitative Unterschied, der mit ihr zwischen der orthodoxen Theorie des Ödipuskomplexes und der modernen Narzißmustheorie gesetzt wird. Denn daß das affirmative, jede fremde Zukunft auch um den Preis größtmöglicher eigener Deformation ausschließende Interesse nicht schon den Ödipuskomplex kennzeichnen soll, dies wohl feinstgesponnene Produkt der spätbürgerlichen Selbstbezichtigung, wird schwerlich einleuchten. Und doch ist gerade die spekulative Abstraktheit des Ödipuskomplexes das Moment, das ihn nicht nur gegen eine vernünftige Historisierung, sondern auch gegen die bürgerliche Tautologie des »Ich bin Ich« immunisiert; und es ist gerade dieses Moment, das durch die falsche Materialisierung des Ödipuskomplexes zum historischen Typus und spätbürgerlichen Phänomen zunichte gemacht wird. Nicht, als ob es den Narzißmus als ein Produkt der bürgerlichen Aufklärung nicht gäbe. Nur, daß er ein dem Ödipuskomplex gleichrangiger psychischer Ausdruck sei, sein Resultat womöglich oder das, was geschichtlich etwa ›dran‹ ist, muß bestritten werden. Denn den Ödipuskomplex, als Theorie, trennt vom Narzißmus, daß er die objektive Tendenz der Geschichte wie immer verquer noch mitbedenkt: Der ödipale, sprich, bürgerliche Charakter wird in ein prinzipiell defizitäres Verhältnis zu sei es durch privatistische Bedürfnisse, sei es durch ein entmischtes Realitätsprinzip verzerrten Ansprüchen gesetzt, an denen theoretisch, wiewohl der Bürger sie prinzipiell nicht befriedigen kann, als an einer objektiven Instanz doch festgehalten wird. Dagegen nimmt der Narzißmus, ganz wie der Name sagt, den objektiven Status der narzißtischen Individuen gar nicht mehr wahr: Nichts bleibt, außer dem alten Ödipus, woran der Narzißmus noch gemessen werden könnte. Und so bleibt auch ganz unthematisiert, beziehungsweise wird objektiv verschleiert, daß den narzißtischen Sohn vom ödipalen Vater mitnichten nur die Verschiedenartigkeit der Neurosen trennt, mit der sie jeweils geschlagen sind, daß sie vielmehr auch die Verschiedenartigkeit der geschichtlichen Perspektive trennt, die in ihrer jeweiligen Neurose zum Ausdruck kommt und die den Vater in eine präzise Relation zu einer von ihm unterschiedenen geschichtlichen Instanz und Notwendigkeit und den Sohn ganz ungeniert wieder als die durch und durch katastrophische geschichtliche Notwendigkeit selber setzt. Die Reinthronisation des Bürgers als wie immer katastrophales geschichtliches Subjekt, wie sie um den Preis der Narzißmus-Diagnose erkauft wird, ist illusionär. Der Narzißmus, den man beim späten Bürger konstatiert, ist nicht die geschichtlich notwendige Konsequenz aus dem Ödipuskomplex, nur die spätbürgerliche Konsequenz. Die geschichtlich notwendige Konsequenz muß aus dem gezogen werden, was an ihm geschichtlich notwendig ist. Das ist jedoch zuallerletzt der Bürger, der durch nichts sonst wie gerade durch den Ödipuskomplex in seiner nicht wiedergutzumachenden Dissoziation von objektiven Zwecken – seien es seine eigenen privaten, die ihm verwehrt sind, seien es reale, die er qua privatistischer Präokkupation nicht erreicht – vorgestellt wird. Vielmehr muß die Konsequenz in dem gesucht werden, woran im psychoanalytischen Modell der Bürger selbst noch als an der Konsequenz, die aus ihm gezogen wird, gemessen wird. In der Figur des Ödipuskomplexes sind die Bedingungen der bürgerlichen Konstitution zum objektiven, durch den Vater repräsentierten Zweck in die Bedingungen der bürgerlichen Dissoziation von einem entfremdeten objektiven Zweck gewendet und so, als generalisierte Kategorien der Dissoziation und des Verlusts, um die Mutter als um den verlorenen objektiven Zweck versammelt. Was passiert im Ödipuskomplex?

Im Ödipuskomplex, sagt das entwicklungspsychoanalytische Modell, wird ein Konflikt, der auf der Ebene, auf der er angesiedelt ist, nicht bewältigt werden kann, durch eine Verschiebung auf eine andere Ebene, inklusive Objektwechsel und Gefühlswechsel, bewältigt. Ein grundsätzlicher Verzicht auf die Mutter findet statt, statt dessen Anlehnung an den Vater, Identifikation mit ihm, gebremste, hierarchisierbare, sublimierte Gefühle, die die Soziabilität des frischgebackenen Bürgers gewährleisten. Was, von den sexuellen Bedürfnissen, nicht sublimiert wird, wird durch Verschiebung auf der sexuellen Ebene selber entschärft, weg von der Mutter und hin auf Ersatzobjekte, die einerseits den Sexualakt gestatten und andererseits als bloße und im öffentlichen Interesse längst umfunktionierte Ersatzobjekte die gleichzeitigen identifikatorischen öffentlichen Beziehungen nicht hindern.

Warum braucht es aber, bei so viel Differenzierung, noch die Mutter? Weil, so Freud, diese Differenzierung sehr häufig gar nicht gelingt und der Regelfall vielmehr der Neurotiker ist, der vor den gesellschaftlichen Anforderungen ebenso wie vor den sexuellen kapituliert – weil nämlich, so Freud, der ödipale Haß auf den Vater fortdauert und die Mutter als das originale Triebobjekt sich hindernd vor die Befriedigung mit dem gesellschaftlich anerkannten Ersatzobjekt stellt. Also gelingt in den meisten Fällen gar nicht die bürgerliche Konstitution und wird selbst in utopische Ferne gerückt? Aber was wäre das dann, was seit bürgerlicher Zeit tagtäglich mißlingt? Ist bürgerliche Konstitution nicht doch gerade dies stets mehr oder weniger verfehlte prekäre Gleichgewicht von öffentlicher Funktion und entmischten Trieben, das Freud abwechselnd am Entwicklungs- und am Regressionsmodell studiert? Gerade der normale Bürger, sagt die Psychoanalyse, lebt ja vom Ersatz! Was wäre also die Mutter in einem Zusammenhang, den nur der Ersatz regiert? Der Ursprungsmythos, das archaische Ganze, an das man sich nach so viel fruchtloser Entwicklungsleistung sehnsuchtsvoll erinnert, oder, salopper ausgedrückt, die Utopie im Rücken, die dafür sorgt, daß auch in der Ersatzlösung Willkür und Zynismus ausgeschlossen bleiben und unzerstörbar nur der utopische Elan erhalten bleibt? Freilich zeigt die psychoanalytische Rekonstruktion ganz genau, daß es die gemeinte Mutter gar nicht gibt, und Unfug ist es, die Mutter, die in einer naturgeschichtlichen Beziehung zum Kleinkind steht, mit der Mutter des neurotischen Erwachsenen, der zu ihr in einer entwickelten geschichtlichen Beziehung steht, in einen Topf zu werfen. Wer sagt denn überhaupt, daß eins zu tun hat mit dem anderen? Der Patient, gewiß, denn der erinnert sich. Aber was bringt ihn überhaupt dazu, sich zu erinnern? Nicht, daß ihm die Erinnerung nicht hilft. Wem nur noch die Erinnerung bleibt, dem sollte sie auch helfen, zumal dann, wenn sie als eine negative Bestimmung fungiert, die nicht der Wiederherstellung des biographischen Zusammenhangs, sondern der Einsicht in seine privatistische Entfremdung vom objektiven, geschichtlichen Zusammenhang dient. Daß aber die Mutter, die am Ende der Erinnerung steht – beziehungsweise an deren ursprungsmythischem Anfang –, mehr als ein bloß formelles Kriterium zur. Identifikation von Ersatzbildungen ist, beziehungsweise daß sie diese ihre kriterielle Bestimmung ausgerechnet ihrer Eigenschaft als Mutter verdankt, ist eine Annahme, die nur innerhalb der Erinnerungstheorie gedeihen kann, in deren Rahmen man sich eben nur erinnern kann. Außerhalb dieses Ersatzzusammenhangs verliert auch die emphatische Bestimmung der Mutter ihren Sinn. Was könnte sie denn dazu prädestinieren, mehr zu sein als selber bloßes Surrogat? Daß ihr aus unerforschlichen Gründen schon immer zur Fixierung geneigtes Kind seine immer schon zu Triebwünschen entmischten Bedürfnisse auf sie wirft und diese Triebwünsche, als entmischte, immer schon ungleichzeitige, unerfüllbare Wünsche sind? Oder ist es die Einzigartigkeit einer monopolistisch gewalttätigen Beziehung zum Kind, das die Freiheit der physischen und psychischen Unabhängigkeit noch nicht kennt und, nach seiner bürgerlichen Bestimmung, auch nie kennenlernen wird? Ganz recht, sagt schon Freud, der aufgeblasene Bürger muß eben lernen, daß noch seine schönsten Erinnerungen bloß unvollständige, klägliche Phantasmagorien sind. Also ist auch die Mutter nur eine Ersatzvorstellung und die hervorragendste unter allen, weil sie die Konnotation von Nicht-Ersatz und Originalität am unzerstörbarsten bewahrt?

Ganz recht, insofern es um die Bedeutung der biographischen Mutter für den erwachsenen Bürger geht. Darum kann der Bürger auch mitnichten etwa auf die Mutter als auf eine qua anthropologischer Neutralität sozusagen innerbürgerliche Instanz verweisen, den Flucht- und Angelpunkt der psychoanalytischen Kritik, und diese Kritik als radikale Selbstkritik in Anspruch nehmen, um einmal mehr nur seine Autonomie in der Geschichte und, mehr noch, die Nicht-Existenz eines womöglich anderen Geschichtssubjekts zu beweisen. Aber unabhängig von diesem biographischen Zusammenhang existiert ja noch jene Reflexionsinstanz, die für die Identifizierung und Denunziation des Surrogats zuständig ist und die daher von etwas zehren muß, was nicht Surrogat in der beschriebenen Form sein kann. Wir sagen dazu ebenfalls: Mutter.

Zweifelsfrei gilt, daß diese Instanz, wenn sie schon mit der biographischen Mutter nichts zu schaffen hat, noch weniger mit dem ethnologisch-mythologischen Rekurs auf urgeschichtlich kollektive Definitionen der Mutterrolle zu schaffen hat, so lange zumindest, wie dieser nur zur anthropologischen Hypostasierung und ideologischen Rechtfertigung des einzelbiographischen Mutterkults als des spätbürgerlichen Surrogats für den verlorenen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang herangezogen wird. Die Instanz, die selbst noch die biographische Mutter, dieses »unwiederbringlich Verlorene« (Benjamin) des traumatisierten Spätbürgers, zum Surrogat erklärt, ist keine Mutter höherer oder älterer Ordnung, sondern logisches Bestandsstück eines postbürgerlichen Zusammenhangs, in dem der Bürger nur noch als restlos begriffenes historisches Detail vorkommt.

Ein Stück Begreifen ist schon die psychoanalytische Kritik. Freilich ist es verzerrt, selber entstellt im psychoanalytischen Verstande des Begriffs durch das bürgerliche Denkverbot, das sich auf alles, was nicht bürgerlichen Kategorien gehorcht, bezieht und das immer wieder die Umkehrung der historischen Abfolge, die Verwandlung von Rekonstruktions- in Entwicklungskategorien, Zerfallskategorien in Kategorien der progressiven Differenzierung und nicht zuletzt die Überdetermination geläufiger bürgerlicher Zusammenhänge durch uneingestandene, aber selbst in der bürgerlichen Terminologie noch virulente nicht-bürgerliche Inhalte erzwingt. Entstellt ist diese eigentlich schon nachträgliche Darstellung des Bürgertums durch etwas, was sie ebensosehr zu einem Stück Selbstdarstellung und authentischen Dokument des Bürgertums selber macht und ihr den Schein einer, im übrigen typisch bürgerlichen, heroischen Vergeblichkeit und äußersten Selbstverleugnung verleiht, die verzweifelte und detaillierte, an jeder Stelle des Systems bemerkliche Anstrengung einer letztmaligen Aneignung und bürgerlichen Integration von etwas, was längst nicht mehr bürgerlich ist. Und es ist wohl vor allem diese für die Substanz der Theorie in der Tat gefährliche Form der entstellenden Aneignung, die uns die Psychoanalyse so lieb macht und lieber als manche Theorie, die entschieden weniger entstellt: Daß in ihr die Wahrheit über uns noch einmal als unsere Wahrheit ausgesagt wird, auch wenn es auf Kosten der Wahrheit geht.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt11.html.
Erschienen in: Horst Kurnitzky (Hg.). Psychoanalyse und Theorie der Gesellschaft. Berlin: Medusa Wölk und Schmid (Notizbuch 1), 11–27.
Wiederveröffentlicht unter: www.isf-freiburg.org/isf/beitraege/bindseil-psychoanalyse.html.

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