Ilse Bindseil

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Schokoladenessen

Sechs!

Hut ab, Schal aus, Handschuhe aus. Krawatte lockern, oberster Hemdknopf auf.

Sechs!

Knopf zu, Krawatte richten, Handschuhe, Schal und Hut. Während Max sich beeilt, damit er am Spiel wieder teilnehmen kann, zieht Karsten bedächtig die Handschuhe aus, legt Hut und Schal ab, lockert mit elegantem Schwung die Krawatte und macht den obersten Hemdknopf auf. Komisch, manchmal spürt man, man hat alle Zeit der Welt.

Na, los! Mach schon!

Max zerrt an den Handschuhen und greift nach dem Würfel. Karsten zieht den Gürtel aus.

Glotz nicht! Los!

Eine Drei. Wenigstens hat er jetzt einen Augenblick Ruhe.

Sechs!

Bedauernd legt Karsten den Gürtel wieder um, schließt das Hemd und schiebt die Krawatte hoch. Lukas hat die Handschuhe in Windeseile abgestreift. Der Hut fliegt ihm vom Kopf. Der Schal hat sich von allein abgewickelt. Nur die Gürtelschnalle klemmt.

Sechs!

Glück muß man haben. Heinz grinst. Er hat das Spiel organisiert. Solange die andern mit Anziehen beschäftigt sind, stockt der Würfelverkehr. Er wirft einen Blick hinüber auf den Gewinn und zieht die Handschuhe aus. Die Krawatte wird losgezurrt. Der oberste Knopf ist schon auf. Das ist regelwidrig, aber der Hals von Heinz ist nun mal so, und außerdem sind alle mehr oder weniger mit Anziehen beschäftigt. Heinz steht auf und zieht den Gürtel aus. Auch der oberste Hosenknopf ist auf. Heinz hat einen Bauch.

Erst den Hut! kreischt Max. Und den Schal!

Heinz schüttelt nur leicht den Kopf, und der Hut fällt ab. Der Schal kriecht schon von den Schultern.

Los! heult Max. Karsten zieht den zweiten Handschuh an. Lukas ist praktisch noch bei den Anfängen. Heinz schüttelt seinen Bauch.

So, sagt er.

Sechs!

Na ja. Heinz wirft einen bedauernden Blick auf den Gewinn und nimmt erst mal einen Schluck, ehe er sich den Strapazen des Wiederanziehens stellt. Max heult:

So komme ich nie dran!

Geduld.

Ausgerechnet Karsten tröstet ihn. Er bringt Ruhe in das Spiel, indem er das Tempo beim Ausziehen verlangsamt. Er hat das Spiel noch nie gespielt, aber er weiß, im Endeffekt kommt es auf die Durchschnittsgeschwindigkeit an, und die Vorfreude ist die schönste Freude. Noch ehe Heinz seinen Gürtel wieder umgeschnallt hat, ist Karsten schon ohne Hut, Schal und Handschuhe.

Komisch, sagt er, ich suche immer das Besteck.

Die andern lachen. Die Stimmung hebt sich. Nur Max ist schrecklich nervös.

Mach doch, Heinz, sagt er.

Lukas ist mittlerweile angezogen. Heinz fingert am Knopf. Max muß wegsehen. Karsten hat seinen Gürtel ausgezogen und steht auf.

Heinz zieht die Handschuhe an. Zierliche Finger hat er wenigstens, das muß man zugeben. Er würfelt. Lukas würfelt. Heinz würfelt. Karsten ist sich noch einmal über die Haare gefahren. Das war überflüssig. Aber er fühlt sich gut. Und das will er ausdrücken. Deshalb spielen sie doch, um sich gut zu fühlen.

Sechs!

Max hat eine Sechs gewürfelt.

Sechs! schreit er. Sechs!

Diesmal fängt er mit dem Gürtel an. Dabei hat er es bei Heinz selbst kritisiert. Die andern lachen. Zieh dir mal den Gürtel aus, wenn du noch die Handschuhe anhast! Karsten zieht sich in Ruhe an. Bei den Handschuhen gerät Max ins Schwitzen. Sie kleben.

Du erinnerst mich an Lady Macbeth, spottet Lukas, der Gebildete. Als wolltest du dir das Blut von den Händen waschen.

Max zerrt an den Handschuhen, aber sie wollen nicht. Wenn wenigstens einer abginge.

Sechs!

Jetzt kannst du dir Zeit lassen, Kleiner.

Max schluckt. Aller Anfang ist schwer.

Drüben auf dem Sofa sitzt die Philippinin. Schwarz. Schmal. Still. Wer ist auf die geniale Idee gekommen, sie in ein Dirndl zu stecken? Keins von der Sorte Hofbräuhaus, sondern eins, das im Oberteil eng anliegend und hochgeschlossen ist, mit Knöpfen, Knöpfen, Knöpfen. Aus den Puffärmeln wachsen Kinderärmchen heraus. Der gekrauste Rock, anständigerweise ohne Schürze, vermittelt einen Eindruck von Reinheit, von zarter Unschuld unter dem festen, geblümten Stoff. Die Füße stecken in Stoffschuhchen. An den Beinen gäbe es vielleicht zu meckern. Aber der Gesamteindruck stimmt. Max hat sie einmal um die Taille gefaßt bei der Ankunft und jenes unvergleichliche Gefühl gespürt, das die Mädchen aus ihrer Puppenzeit kennen und nach dem die Jungen sich sehnen: wenn die eigenen Arme so lang sind, daß sie sich mehrfach um den geliebten Gegenstand schlingen könnten, wobei ein merkwürdig dinghafter Eindruck entsteht, der von den zärtlichsten Gefühlen begleitet ist, wie wenn du die Tigermutter bist und hältst dein Junges im Maul. Alles hängt von deiner Schonung ab. Du darfst das Püppchen auf das Sofa schleudern, aber du weißt, ohne diesen zarten und zugleich robusten Gegenstand im Arm, dein Püppchen, bist du nichts. Max hat dieses Gefühl gespürt, und schon hat es mit seiner Nervosität angefangen. So ein wunderbarer Gewinn, und soviel krankmachende Sehnsucht!

Sie sieht nicht aus, als wüßte sie, was für ein Spiel hier gespielt wird. Aber sie ist vom Gewerbe. Also weiß sie, daß sie nicht die ganze Nacht auf dem Sofa sitzen wird. Deutsch kann sie nicht. Das war in diesem Fall Bedingung. Da war Heinz streng. Wenn du vom Rummel einen Teddybär heimträgst, willst du auch nicht, daß er plötzlich mit dir redet. Die Philippinin hat noch kein Wort gesagt, kein philippinisches und nicht einmal guten Tag. Mit regloser Miene ist sie den Auseinandersetzungen gefolgt, hat nicht ein einziges Mal den Kopf gewendet, auch wenn Max sich einbildet, daß ihr seine Umarmung nachgeht und sie seinen Bewegungen mit den Augen folgt. Aber natürlich weißt du nicht, ob sie nicht doch versteht. Heinz kann hier nur auf seine Geschäftsbeziehungen vertrauen.

Vor ihr steht ein Glas mit schal gewordenem Sekt. Um sie herum ist Stille. Vielleicht schläft sie mit offenen Augen. Das gleichmäßige Klirren der Würfel, das An- und Abschwellen der Begeisterung, der orchesterhafte Wechsel des jeweils stimmführenden Parts, die Pantomimen des Aus- und Ankleidens ermüden. Vielleicht hat sie ein Stündchen Erinnerung an die Philippinen eingelegt. Heinz hat für die ganze Nacht bezahlt. Sein Pech, wenn er mit den Männern würfelt.

Heinz’ Überlegungen gehen in die gleiche Richtung. Er ist großzügig, und er hat für die Nacht bezahlt. Aber er will auf seine Kosten kommen, und er will, daß auch seine Freunde auf ihre Kosten kommen. Schließlich sind sie seine Gäste.

Er klatscht in die Hände und nickt jedem von ihnen zu, Max, dem nervösen Heini, mit besonderem Wohlwollen.

Das war zum Aufwärmen, sagt er, jetzt wird es ernst.

Er schlägt eine Regeländerung vor. Wer eine Sechs würfelt, zieht sich aus wie bisher. Wird er durch die Sechs eines andern gestoppt, zieht er sich nicht wieder an, sondern würfelt sozusagen im Hemd. Das wird ihn motivieren, nicht so lahmarschig zu sein; denn dann hat er was von seiner Sechs.

Außerdem strengen wir uns nicht so an, sagt Heinz und zwinkert in die Runde.

Ursprünglich sollte diese Regel nur für das Mädchen gelten. Aber sie sehen ja, sie kommen so zu nichts.

Max rüttelt schon am Krawattenknoten. Lukas läßt die schlanken Finger knacken. Karsten guckt eher träumerisch, so als wäre ihm die Tragweite der Änderung noch nicht klar.

Auf geht’s, sagt Heinz.

Drei, fünf, eins, drei, zwei. Nicht eine einzige Sechs. Es ist, als hätte jemand die Würfel vertauscht. Das kann ja heiter werden, wenn doch einmal eine Sechs fällt und dann wieder so lange keine. Das sind ja nette Aussichten.

Drei, zwei, fünf, zwei, vier. Zwei ist die Rückseite der Fünf. Wenn man Zwei würfelt, gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß dann Fünf kommt. Du lieber Herrgott, was ist die Rückseite von der Sechs?

Nicht fluchen, Max, sagt Heinz väterlich. Irgendwie wundert es ihn selbst, wie sehr er an seine Freunde denkt. Und wer denkt an ihn?

Sechs!

Heinz! Der Gastgeber! Der an seine Freunde denkt!

Er rückt mit dem Stuhl zurück und steht auf. Hut ab. Handschuhe aus. Die Krawatte zu lockern ist ihm ein Bedürfnis. Der Hals verlangt’s, nicht nur die Spielregel. Max ist den Tränen nahe. Er weiß nicht warum. Heinz zieht die Gürtelschnalle auf. Ihm ist jetzt auch anders. Vor Aufregung und wegen der Gerechtigkeit. Das köstlichste ist, die Blüte zu entblättern. Und er hat bezahlt. Der oberste Hosenknopf steht immer noch offen. Heinz ruckt einmal heftig, damit der Bund wieder über den Bauch rutscht.

Die andern starren ihn an.

Würfeln! schreit Max.

Vier, eins, fünf, sechs, zwei.

Heinz macht feierlich ein paar Schritte. Jetzt hält ihn nichts mehr auf.

Sechs, sagt Lukas. Ich habe eine Sechs gewürfelt.

Max, der die Zwei gewürfelt hat, starrt ihn an. Heinz schluckt. Dann hat er sich gefangen.

Kann ich nicht von hier aus würfeln? sagt er. Dann bin ich nachher näher dran.

Los, komm, sagt Karsten.

Lukas pellt sich schon aus.

Es ist, als hätte er weniger angehabt als die andern. Kein Handschuhe, zum Beispiel. Oder keinen Gürtel. Jetzt steht er auf und geht zum Sofa hinüber, so wie man eben zum Sofa geht. Er nimmt Platz, dem Mädchen zugewandt, die Beine schräg angewinkelt, hübsch elegant, so wie man in Konversationsstücken auf dem Sofa sitzt, und streckt die Hand aus.

Sie haben aufgehört zu würfeln. Nicht einmal Max fällt es auf.

Lukas berührt die Ärmchen von der Frau, läßt die Finger in den Puffärmeln versinken, läßt sie weiter hinaufwandern bis zum Hals und den Weg über den Grat antreten bis zu dem Punkt, wo die Frauen den Kopf nach der andern Seite drehen, damit der Hals länger aussieht. Die hier dreht nicht den Kopf. Sie kuckt genauso wie vorher. Entweder sie macht ihre Sache besonders gut, oder sie hat wirklich keine Ahnung. Lukas spürt, wie er wild wird. Aber er beherrscht sich. Mit der einen Hand fühlt er den Wangenflaum, mit der andern dreht er den Kopf der Philippininzu sich herum, bis er ihr geradewegs ins Gesicht sehen kann. Das geht nicht ohne einen gewissen Druck ab, auch wenn das Mädchen nicht im entferntesten an Widerstand denkt. Es ist der Widerstand der lebendigen Materie, und er geht in Ordnung. Lukas spürt erneut, wie er wild wird. Aber er beherrscht sich. Unmerklich verstärkt er den Druck der einen Hand, während er mit der andern sanft dagegenhält. Nur eine Sekunde trifft er den Blick der Frau und glaubt in ihren Augen so etwas wie Angst zu sehen. Er hält inne, obwohl er ja nichts gemacht hat, aber in ihm ist ein Innehalten. Das Gesicht der Frau zwischen seinen Händen, ist er für einen Augenblick eins mit dem Druck, der von ihm, und der Angst, die von ihr ausgeht. Er kostet die Pause aus. Vorfreude ist die schönste Freude. Angst ist die beste Medizin. Wenn man sie beim andern spürt. Vielleicht auch, wenn man sie selbst spürt. Aber dazu müßte man sie spüren.

Würfeln!

Lukas spürt, daß sich zwischen ihm und dem Mädchen etwas tut. Die andern würfeln, er fühlt. Noch einmal versucht er ihren Blick zu zwingen. Aber da ist nichts.

Sechs!

Auf einmal hat Lukas Wut. Im Aufstehen stößt er die Frau vor die Brust. Dann faßt er einmal derb zu, mit einer winzigen Drehbewegung, gerade so, daß er merkt, daß er etwas zwischen den Fingern hat. Mit Brüsten ist es schwierig. Langt man mit flacher Hand hin, dann ist es wie Landnahme. Einfach toll. Aber man spürt nichts. Wenn man etwas spüren will, muß man die Hand zur Kralle machen. Und auch dann kann es noch passieren, daß sich das Ding aus der Hand stiehlt, wegflutscht wie Wackelpudding. Aber wenn man ganz bißchen dreht, dann schwillt die Brust, und schon denkt man, die Frau ist erregt. Man hat sie erregt!

Klar denkt Lukas, daß er die Frau erregt hat. Aber noch wichtiger ist ihm, daß er die Titten angefaßt hat, von wegen der erste sein. Und daß er der Frau wehgetan hat.

Weg da!

Heinz schiebt ihn beiseite. Das geht nicht, daß Lukas noch seelenruhig an der Frau herummacht, wenn schon die Sechs gefallen ist. Lukas hat’s nicht gern, wenn er angefaßt wird. Aber Heinz ist der Gastgeber. Obwohl, wenn sie seiner Einladung nicht gefolgt wären, gäbe es auch keinen. Keinen Gastgeber.

Na los, Lukas!

Die Runde nimmt ihn wieder auf. Karsten reicht ihm sogar die Krawatte.

Brauch ich nicht, sagt Lukas und legt sie neben sich.

Na dann, sagt er und freut sich, daß der Abend noch lang ist.

Heinz hat ihm keinen Blick nachgeschickt. Mit einem einzigen Schwung hat er die Frau auf seinen Schoß gesetzt. Da sitzt sie. Er umschlingt sie mit seinen Armen, drückt sie an sich und wiegt sich mit ihr hin und her. Endlich hat er sie. Seine Puppe. Sage niemand, daß die väterlichen Gefühle die blödesten sind. Aus der Tiefe steigt sie in ihm auf, die mächtige Empfindung der Stärke. In ihr hat alles Platz, vor allem das Zarte. Sacht schaukelt er hin und her und träumt in Bildern von rauher Schale und süßem Kern.

Sechs!

Karsten geht anders vor. Zunächst einmal legt er seine Sachen ab, hübsch ordentlich; denn so, wie er sie jetzt ablegt, werden sie eine Weile liegen. Dann wendet er sich der Frau zu, die etwas schmuddelig auf ihrem Sofa sitzt. Nicht geradezu schmuddelig in ihrem properen Dirndl, aber irgendwie abgelegt, ist der Dicke unter ihr doch verschwunden, und sie ist auf das Sofa gerutscht, Richtung Ritze. Karsten stört es nicht, daß die Frau ein wenig windschief ist. Was ihn interessiert, ist gerade. In aller Ruhe nimmt er neben ihr Platz und bückt sich nach ihren Füßen. In den Stoffschuhchen sehen sie einfach wahnsinnig aus, höchstens Größe 34. Karsten zieht sich die Füße auf den Schoß und streichelt die Seidenstrümpfe. Es stimmt schon, daß die Beine nichts Besonderes sind. Aber das tut der Freude keinen Eintrag. Im Gegenteil, was an Schönheit fehlt, kommt an Wirklichkeit dazu.

Und weiß man überhaupt, was schöne Beine sind? Solche Gestänge, sind die schön? Aber wenn sie so auf den Schoß passen und der Weg in die Küche kurz ist! Karsten ist sich völlig einig. Immer wieder faßt er nach den Schuhchen, reibt den Samt und streicht über die Waden. Die Waden geben dem Bein den Schwung, und die Seidenstrümpfe elektrisieren die Haut. So ist es.

Sechs!

Max steht stocksteif auf. Seine Knie flattern. Heinz reibt sich die Hände.

Wenn wir immer der Reihe nach drankommen, sagt er, bin ich bald wieder dran.

Lukas hebt zu einem Vortrag über Wahrscheinlichkeit an. Auch er ist aufgeregt. Denn wenn es so wäre, dann wäre er an der Reihe. Aber er bezwingt sich. Ein paar Takte Statistik sind gut gegen die Langeweile. Ein Aphrodisiakum förmlich. Jedenfalls wenn man über genügend Intelligenz verfügt, um auch die Grenzen zu sehen.

Paß auf, sagt er, das ist so.

Max hört kein Wort. Stocksteif stelzt er durch den Raum und fällt vor der Frau auf die Knie. Niemand weiß, ob er hingefallen ist. Aber soviel ist klar, er ist angekommen. Stumm legt er den Kopf in ihren Schoß, schnuppert den Geruch des frischgebügelten Dirndls, vielleicht ihren Geruch, und horcht auf die Musik, die zwischen Ohr und Dirndl erklingt.

Mensch, Max, ruft Heinz gutmütig, das ist doch nicht deine Verlobte!

Max weiß nicht, ob sie nicht doch seine Verlobte ist. Sein Kopf ist schwer.

Sechs!

Max hat nichts gehört. Jemand nimmt ihn am Schlafittchen und zieht ihn von der Frau weg. Nicht brutal. Aber konsequent. Max ist so verdutzt, daß er vergißt aufzustehen. So ist er ganz in der Nähe, als Heinz nun die Frau zurücklegt, ihr mit der einen Hand das Kleid hinauf- und mit der andern den Schlüpfer herunterzieht und sich die Hose aufknöpft, was sich als schwierig erweist, denn er ist erregt.

Würfeln, Max!

Max rappelt sich hoch und geht würfeln. Heinz nimmt sein Ding in die eine und die Frau in die andere Hand und versucht den Eingang zu finden. Er weiß, wo es bei den Frauen hineingeht. Aber ausgerechnet jetzt hat er Schwierigkeiten. Er war an Max zu dicht dran. Und der nach ihm kommt, wird an ihm zu dicht dran sein. Scheiße.

Während er nach dem Eingang sucht, sinnt er bereits auf Abhilfe. Und da findet er ihn und stößt der Frau sein Ding in den Bauch. Genauer, sein Ding stößt sich in ihren Bauch. Er hat es nur halb mitgekriegt. Scheiße ist das eben mit dem Nachdenken.

Jemand klopft ihm auf die Schulter, höflich, denn er ist der Gastgeber. Er denkt, sein Ding platzt ihm, aber in seinem Kopf geht es immer noch um, von wegen der Verfahrensänderung, und so ist er für die Unterbrechung im Grunde dankbar. Wenigstens kann er den andern seine Ansicht vortragen. Bei der ersten Änderung hat er einfach nicht bedacht, daß sie die Pausen brauchen. Nicht der, der sich ausziehen muß, natürlich nicht. Aber der bei der Frau. So müssen sie jedesmal übel aufeinandertreffen. Und je mehr die Sache vorangeht, desto unangenehmer muß es ihnen aufstoßen.

Heinz grinst schon wieder. Sein Ding ist robust. Wird’s schon aushalten. Am Schluß wird sich zeigen, wer Kondition hat.

Wart mal einen Augenblick, sagt er zu dem, der sich schon an der Frau zu schaffen macht. Und ihr da, hört auf zu würfeln!

Er setzt ihnen seine Ansicht auseinander. So, wie es ist, ist es ein bißchen stressig. Sie müßten irgend etwas ändern. Hat jemand eine Idee?

Max hat keine. Aber er will etwas sagen. Vor Aufregung stottert er. Wenn er nur nicht so hibbelig wäre. Aber er ist auch für mehr Ruhe bei der Frau.

Und?

Na ja. Was er sagen will, ist nicht so einfach. Im Grunde geht es ihm um mehr Illusion. Aber das kann er nicht ausdrücken. Und er weiß auch nicht, daß es das ist, was er meint.

Lukas findet es okay, so wie es ist. Was heißt schon Streß oder Illusion? Woran sie arbeiten können, das ist ihre innere Einstellung. Außerdem, er sieht Heinz bedeutungsvoll an, könnten sie ja mal über ihre Gewohnheiten nachdenken. Immer nur rein, raus: ist das alles? Er für seine Person ist nicht unglücklich darüber, daß dieses Modell so ein bißchen in die Krise gerät. Klar bist du da verletzbar. Kaum bist du drin, und schon klopft dir jemand auf die Schulter. Du gerätst in Panik. Du denkst, du findest den Ausgang nicht mehr oder dein Ding bricht dir ab. Er, Lukas, ist der Ansicht, daß man seine Praktiken – er spricht das Wort aus, wie andere sagen: Veilchen –, also daß man seine Praktiken an seinen Problemen orientieren sollte. An seinen Problemen, nicht an seinen Bedürfnissen, ist das klar? Es ist wichtig, überhaupt zu begreifen, daß das ein Unterschied ist. Obwohl er selbst nicht im geringsten Probleme hat. Aber heute ist Spieleabend, und spielen heißt, sich Probleme machen. Sich künstlich Probleme machen. Mit Streß hat das nichts zu tun. Im Gegenteil, es erholt. Jedenfalls wenn man in der Lage ist, es zu genießen.

Aber rein, raus, wiederholt er, das ist Maloche, Reproduktion.

Max versteht das Wort nicht. Eigentlich beide. Aber er fühlt sich seltsam erregt. Er hat noch nie mit Lukas diskutiert. Das heißt, Lukas hat noch nie mit ihm diskutiert. Überhaupt hat noch nie jemand mit ihm diskutiert. Und jetzt diese Chance! Max kommt es vor, als wenn Lukas nur für ihn spräche. Wenn er jetzt nicht versagt, dann wird sich etwas in seinem, Max’, Leben ändern. Dann wird er nicht mehr, immer wenn er etwas sagen will, im Grunde lieber wimmern und weinen wollen. Dann wird sich der Kloß in seinem Hals lösen. Ein Räuspern, und er ist weg.

Er räuspert sich.

Du meinst, fängt er an. Schon wird ihm leer im Kopf. Aber es ist anders als sonst. Nicht der übliche Krampf, die übliche Betäubung. Im Gegenteil, er ist ganz Ohr. Etwas Wesentliches passiert. Und er, Max, hat es zuerst gemerkt!

Er dreht sich um, und die andern tun es ihm nach.

Karsten, der ruhige Karsten, liegt auf, nein, schwebt über der Frau. Karsten, der blasse Karsten, hat einen roten Kopf und mit Sicherheit ein ganz rotes Ding. Karsten, der unauffällige Karsten, tut und macht und schraubt sich einem Ziel entgegen, einem Ziel …

Max fährt mit der Hand an seine Hose. Er errötet bis unter die Haarwurzeln. Vor Wut und Scham schießen ihm Tränen in die Augen. Vor grenzenloser Enttäuschung. Mit ängstlichem Blick kontrolliert er, ob die andern gemerkt haben, was ihm passiert ist. Aber die haben nichts gemerkt. Kein Wunder.

Ja, bist du noch zu retten! schreit Heinz. Karsten ächzt und hat sein Klassenziel erreicht. Mit einem Schritt ist Heinz bei ihm. Lukas ist noch schneller als er.

Laß ihn, sagt er. Laß ihn.

Und so kommt es, daß Karsten noch einen Moment ausruhen darf in der Frau, so lange, bis sein Ding ausgezuckt hat und er es ohne Gefährdung von Leib und Leben herausziehen kann. Heinz läßt es zu, hilflos in seinem Zorn, ohnmächtig in seiner Wut.

Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen, murmelt er; denn er ist mit seinem Latein wahrhaftig am Ende.

Karsten steht auf, versorgt sein Ding im Slip, zieht gelassen den Reißverschluß seiner Hose hoch, fährt sich noch einmal durch die Haare und ist wieder tiptop.

Was habt ihr denn, sagt er. Macht doch weiter. Stellt euch nicht so an.

Unter normalen Umständen würde Heinz ihm eine reinhauen. Macht der Kerl doch einfach hinter ihrem Rücken weiter! Aber er fühlt sich gehemmt. Der Abend ist noch in seinem Kopf. Der Plan. Das Spiel. Davon trennt man sich nicht ohne weiteres, bloß weil so ein Arschloch sich nicht an die Spielregeln hält. Nur ist es leider so, wenn man sich an einer Stelle bremst, fällt einem überhaupt nichts mehr ein.

Vor ihnen liegt die besudelte Frau. Der Dirndlrock hochgeschoben, das Höschen zusammen mit der dünnen Strumpfhose heruntergezerrt, macht sie den unanständigen Eindruck einer auf das Sofa geschleuderten Puppe. Sie jedenfalls hält sich an die Spielregeln, die ihr vermutlich die Puffmutter eingeschärft hat: gar nichts tun, sonst gibt es auf die Pfoten. Zum ersten Mal findet Heinz seine eigenen Vorschriften blöd. Wenn das Mädchen mal ein bißchen flink wäre, in einem Nu hätte es seine Kleider gerichtet, und sie könnten so tun, als wäre nichts passiert, einfach von vorn anfangen, wie das bei Mensch-ärgere-dich-nicht auch geschieht, wenn ein Arschloch aus Versehen die Steine umgeworfen hat, und irgendein Arschloch findet sich immer. Aber die hier hat ihre Lektion gefressen. Bleibt liegen, solange bis man sie aufhebt. Nackig, solange bis man sie anzieht. Nur die Augen zeigen, daß sie sich nicht eben glänzend fühlt, und sie hat eine Gänsehaut, nicht nur unten, sondern auch an den Ärmchen.

Die Gänsehaut bringt Lukas in Wallung. Oder sind es die Augen? Er löst seinen Gürtel und knöpft die Hose auf, damit sein Ding Luft bekommt. Sofort wölbt es sich vor, daß man sich fragt, wie hat es vorher hineingepaßt? Triumphierend dreht Lukas sich nach allen Seiten.

Achtung, Aufnahme, ruft Heinz. Mann, Lukas, das gäbe ein Foto für die Wäscheindustrie!

Lukas grinst. Er hat’s geschafft. Es geht weiter.

Ab an die Würfel, ruft er. Und wehe, ihr kuckt!

Sie leisten seiner Aufforderung Folge, so als wäre er der Gastgeber. Natürlich werden sie kucken, aber laß sie nur, das unterstützt ihn. Breitbeinig steht er über der Frau, er, der Held, der einzige, der sich seinen Platz durch Charisma erobert hat, nicht durch Würfeln, der im richtigen Moment das Richtige, wenn nicht getan, so doch gefühlt hat, er, der das Spiel gerettet hat und jetzt gegen die Spielregeln antreten darf, wohlgemerkt, darf! Beinahe glaubt er in diesem Augenblick einer gleichsam religiösen Konzentration selbst daran, daß er der Genius des Spiels ist, der Spielregelgeber, er, der Freieste von allen, den man verfolgen und beobachten und dem man hinterherwürfeln kann; denn das ist das Spiel. So hat er es sich vorgestellt, genau so. Nicht auf den Schnellsten, sondern auf den Hellsten kommt es an.

Komm, sagt er zu der Frau unter ihm, schweinigeln wir ein bißchen.

Erst jetzt fällt den andern auf, daß Lukas Westernstiefel trägt, nicht hohe, das wäre ihnen aufgefallen, sondern niedrige, mit einem wohlgeformten Absatz, der mit der Restsohle nichts zu tun haben will, und einer Spitze, die man als Griffel benutzen kann. Karsten findet, daß es nichts Gräßlicheres als Westernstiefel gibt. Max findet es im Grunde auch, aber es ist ihm unheimlich, und was ihm unheimlich ist, meint er immer, muß einen über seinen, Max’, beschränkten Verstand hinausgehenden Sinn haben und in einer von ihm nicht erfaßten Dimension fürchterlich sein; denn warum wäre ihm sonst unheimlich. Heinz findet, nur wer es nötig hat, trägt Westernstiefel, und zu seiner Ansicht steht er, so wie er zu seinem Bauch steht, auch wenn er in diesem bedeutenden Augenblick eher zu Max’ Ansicht neigt und das Nötighaben aus einer anderen, sozusagen objektiven Perspektive sieht, nicht als ein Fehlen, sondern, wie das Wort ja auch sagt, als ein Haben.

Scheiße, denkt Heinz, nun fängt er auch schon an zu philosophieren. Aber wenn er nun schon mal beim Philosophieren ist, kann er auch zugeben, daß ihn vor allem der Absatz stört, eigentlich nur der Absatz. Und wenn er schon mal beim Zugeben ist, kann er auch sagen, warum. Weil er ihn an die kleinen puritanischen Frauen aus den amerikanischen Western erinnert. Aber nicht, weil es eben Westernstiefel sind, o nein, es geht ja nur um die Absätze, und die sind so klein, robust und stahlhart wie die puritanischen Frauen aus den amerikanischen Western, und wenn sie sich wehren, dann tun sie es so, wie der liebe Gott es für ihre Winzigkeit und Zartheit und Robustheit vorgesehen hat: ohne zu zögern, zweckmäßig, ihrer Konstitution und Erziehung angepaßt, kurz mit dem Absatz. Heinz fällt nur das Wort écraser dafür ein. Er hat nie genau begriffen, was es heißt, vielleicht weil er immer gleich ein Bild gesehen hat: wie eine Frau mit dem Absatz etwas zertritt, und wenn eine Frau etwas zertritt, dann ist es immer etwas Lebendiges, ein ekliges Lebewesen, jawohl, ein ekliges Lebewesen! Wenn also eine Frau ein Lebewesen zertritt, dann – Heinz hat heute wirklich seinen sprachphilosophischen Tag – tritt sie, und erst danach, wenn sie nämlich draufgetreten ist, kommt das, was mit der Vorsilbe »zer-« angesprochen wird, jenes kurze, heftige Mahlen, wie es zum Beispiel der Zahnarzt für den Farbabdruck braucht. Écraser qqc: Heinz weiß immer noch nicht genau, was es bedeutet, aber so, in dieser Form, hat er das Wort gelernt.

Scheiße, denkt Heinz, denn jetzt hat die Spitze von Lukas’ Stiefel jenen Körperteil der Philippininerreicht, den Max seit Erreichen des elften Lebensjahrs vergeblich Fotze zu nennen sich bemüht. Tatsächlich wird ihm übel bei dem Wort, und er ist deshalb auch davon überzeugt, daß es von Kotzen kommt, obwohl er zu der Auffassung neigt, daß es wegen der ihm innewohnenden Aggressivität eher eine biologisch-animalische Bezeichnung ist, etwas zwischen Fang und Lefze, und er hat es so auch schon geschrieben gesehen, Fotze, und hielt das im Grunde für richtig. Jetzt wird ihm schon wieder übel, aber nicht wegen dem Wort, sondern weil Lukas’ Stiefelspitze die äußere Umfriedung erreicht hat und jeden Augenblick eindringen kann.

Dummes Luder, denkt Karsten, warum hast du dir nicht wenigstens die Hose hochgezogen, du dummes philippinisches Luder.

Mit der Stiefelspitze lupft Lukas erst die rechte, dann die linke Schamlippe ein wenig; die Philippininist schmal gebaut. Natürlich weiß man, wo es reingeht, aber irgendwie weiß man es nicht. Oder sagen wir es so: Wenn der liebe Gott an dem Tag, an dem er die Frau samt ihrer Fotze erschuf, nicht betrunken gewesen wäre, dann hätte er den Ort seiner Lust – denn natürlich hat er sie als erste gevögelt –, also hätte er den Ort seiner Lust und den Ort ihrer Lust nicht so weit auseinander gelegt, und in der Wüste zwischen dem Ort ihrer und dem Ort seiner Lust wären keine bösen Blumen gesprossen. Genauer, aber auch verdammt kompliziert: Hätte der liebe Gott den Ort ihrer Lust ganz nach innen verlegt, dann wäre erstens bei der Frau keine Hysterie und keine Schizophrenie und keine Unsicherheit darüber entstanden, ob sie zur Lust oder zur Fruchtbarkeit taugt. Und es wäre zweitens im Mann keine Unzufriedenheit entstanden, keine Paranoia und Nervosität, kurz keine Einsamkeit, weil er am Ort seiner Lust ganz allein ist. Und es wäre drittens und wichtigstens auch physisch alles in Ordnung gewesen; denn das beste Stück vom Mann ist weich, und der zarteste Teil von der Frau wäre innen gewesen, und das beste Stück vom Mann hätte den zartesten Teil von der Frau für sein natürliches Ziel, das fraglose Objekt seiner Begierde gehalten, das, was er systematisch attackiert, aber in der Extase höchstens gestreift hätte, und das wäre dann der Orgasmus gewesen. Nicht nur hätte viertens niemand auf die schamlose Idee kommen können, den zartesten Teil der Frau gelegentlich mit einem winzigen Tritt oder wohlgezielten Ausrutscher zu bedienen, damit der Appell, der von ihm ausging: Befriedige mich! Befriedige mich! zum Schweigen gebracht wurde. Es wäre fünftens auch niemand auf Abwege geraten, kurz auf die Idee gekommen, nach anderen Eingängen zu suchen, was ja nur ein Effekt der Tatsache ist, daß der richtige Eingang eben nicht der richtige ist. Da nämlich der Ort ihrer Lust überhaupt kein Eingang, der Ort seiner Lust zwar ein Eingang, aber nicht zu ihrer Lust ist (und wenn es nur um seine Lust ginge, dann könnte man es ebensogut allein zu Hause treiben), liegt es nahe, entweder zum unermüdlichen Lustsucher zu werden, das heißt in allen nur denkbaren Körperöffnungen nach jenem weiblichen Teil zu fahnden, das mit dem männlichen artikulieren könnte, oder aber dem Frust freien Lauf zu lassen, was der gewisseste Weg zur Befriedigung ist, nämlich überhaupt nicht zu suchen, in freier Auslegung des Philosophenworts: »Der Weg ist das Ziel.«

Es wäre sechstens, siebtens, achtens, neuntens und zehntens kein Schwein wie Lukas auf die Welt gekommen, der in dem Moment mit einem saftigen Ausrutscher der Stiefelspitze, einem wohlgezielten kleinen Hieb die Frau sich zusammenkrümmen und die Beine anziehen läßt, und jetzt kann er hinein.

Wirst du wohl! schreit Heinz. Du mit deinen dreckigen Stiefeln in unsere – er betont das »unsere« – saubere Muschi!

Max kriegt Herzrasen. Lukas gegen Heinz: das ist mehr, als er aushalten kann.

Aber schon hat Lukas den Fuß zurückgezogen.

Ist ja wahr, grinst er, und Max fühlt sich gleich erleichtert, Harmonie geht ihm über alles.

Lukas tritt neben die Frau, hebt den Fuß über ihr Gesicht, bringt die fragliche Stiefelspitze über ihrem Mund in Position – er kann wunderbar auf einem Bein stehen – und sagt:

Lecken.

Als sie zögert, wer weiß, vielleicht versteht sie ja nicht, was er will, läßt er den Fuß einmal kurz fallen, so, voll auf die Fresse:

Lecken, wiederholt er.

Sie öffnet langsam den Mund.

Er könnte jetzt hinein. Aber er will nicht. Er will einfach nicht.

Zunge raus, sagt er.

Heinz schnauft. Max ist einer Ohnmacht nahe, aber wenn schon, dann wäre er auch für die Zunge. Karsten sagt:

Kommt, Leute, würfeln wir ’ne Runde. Max, schlaf nicht.

Von jetzt an hat Max nur noch die eine Angst, er könnte eine Sechs würfeln.

Niemand würfelt eine Sechs. Das liegt daran, daß sie praktisch nicht würfeln. Oder nur ganz langsam, den Arm eingewinkelt, die Faust noch eigens abgeknickt, daß der Würfel auf den Spieler zukullert und die andern sich recken müssen, damit sie sehen, was er überhaupt gewürfelt hat, und wenn es denn eine Sechs wäre – aber es ist keine Sechs –, dann könnte der Spieler sich immer noch eine Chance ausrechnen, daß er den Würfel einsammelt und an den Nachbarn weiterreicht, bevor jemand auf der Überprüfung seines Eindrucks beharren kann: Mensch, das war doch eine Sechs!

Da diese Art des verdeckten Würfelns die ungeteilte Aufmerksamkeit des Spielers und auch die Geistesgegenwart der Mitspieler erfordert, jedenfalls wenn sie im kritischen Moment eine Sekunde schneller sein wollen als er, entstehen in jedem Augenblick Pausen, die das Spiel in die Länge ziehen und die Möglichkeit, daß überhaupt mal jemand eine Sechs würfelt, beträchtlich verringern. Wer dran ist, nimmt zwar den Würfel bereitwillig an, aber er würfelt nicht, starrt vielmehr, das corpus delicti in der sich erhitzenden Faust, auf die Bühne, auf der er im nächsten Augenblick wird mitspielen müssen, als Hauptakteur, und dieser Augenblick ist der nächste, solange er nicht gewürfelt hat. Also sollte er würfeln, damit er ihn hinter sich bringt. Aber dazu gehört wenigstens eine minimale Konzentration auf die Hand, und wo soll die jetzt herkommen, wo er sich als designierter Nachfolger bereits auf der Bühne sieht, im Zentrum des im übrigen schändlich einfachen Geschehens, das die für ihn ausersehene Hölle ist. Normalerweise ist er kein Schwein. Aber in seinem Kopf ist ein Gefühl, so ein heiliges Amalgam aus Angst und Lust, das ist mehr und zusammenhängender als alles, was er bis jetzt gefühlt hat und über das kann er sich einfach nicht hinwegsetzen. Würde er peinlich befragt, mit Werkzeugen auf Herz und Nieren geprüft, dann würde er begreifen und aussprechen, was ihm im Normalzustand als Quatsch und hergeholter Unsinn erscheint: daß dieses erhabene Gefühl der Reflex der an ihn, an seine mickrige Person, sich heftenden Erwartung, ja, genau das, daß er die Sehnsucht der Philippinin, der Himmel also der Hölle ist!

So hält er den Würfel fest in seiner Faust, läßt ihn heiß werden, und erst wenn seine Vorstellungskräfte erschöpft sind, dann öffnen die Finger sich von selbst und lassen das miserable Knöchelchen ohne Anschubs herauskullern. Nicht auszudenken, wenn es eine Sechs wäre. Es bräuchte einen Kran, um ihn auf die bewußte Bühne zu hieven.

Während der Würfel reihum geht, genießt jeder diesen Augenblick der mystischen Teilhabe, des Überwältigtwerdens. Nur Max hat bereits schlechte Erfahrungen damit gemacht und hält sich zurück, oder die schlechte Erfahrung hält ihn zurück, er ist schließlich kein Hengst.

Er würfelt eine Sechs. Da er sie nicht erkennt, regt er sich auch nicht auf. Aber er wundert sich. Warum lachen die andern? Warum sind sie bloß so vergnügt?

Lukas spürt die Aufregung am Tisch. Ohne sich umzudrehen, sagt er:

Komm, Jungchen, her zu mir.

Er hat sich die Stiefelspitze lecken lassen und ist dabei zu der Überzeugung gekommen, daß die Zunge das einzige ernstzunehmende weibliche Sexualorgan ist. Zwar sieht er nichts, steht er doch genau über der Frau, aber er spürt ihre Zunge durch die Sohle.

Komm her, lockt er. Er braucht jemand, der für ihn sieht.

Dieses Luder, murmelt er, als Max hinter ihn tritt. Kuck, mal, wie die leckt. Eine Ziege könnte das nicht besser.

Max beugt sich herunter. Er will gern kucken, aber ihm ist schlecht. Da unten, wo es ihn mit aller Macht hinzieht, kann er den Kopf auf den Boden betten und in Ruhe kucken. Er weiß nicht, wie ihm ist, aber das weiß er, daß er es auch so bequem haben möchte wie die Frau. Daß sein Platz an der Seite der Frau ist.

Er läßt sich auf die Knie fallen, knickt die Glieder wie eine Gazelle ein, bettet den Kopf seitlich auf die erhitzte Wange und kuckt. Vor ihm, in unvorstellbarer Nähe, blüht das Gesicht der Frau: grauweiß, schweißnaß, rosenblätterrot.

Aus der Nähe sieht Max, daß die Philippininoffenbar Hautprobleme hat. In den Kavernen am Rand der flaumweichen Bäckchen könnte er glatt ersaufen, oder er kuckt einfach aus zu großer Nähe. Er sieht auch, daß die entfärbten Lippen so übergangslos aus dem Gesicht wachsen wie der Mund der gefräßigen Seeanemone aus ihrem duftigen Körper: rosa, bebend, leicht geöffnet. Und er sieht, daß Lukas’ Stiefel zittert. Gleich kann er nicht mehr.

Sacht sinkt der Stiefel, ruht sich aus auf der Frau.

Lukas ruft:

Heinz, komm mal her.

Er ist der Anführer, Heinz ist der Gastgeber.

Lukas sagt:

Übernimm du bei der Frau.

Dein Glück, daß ich nicht auf Gesichter stehe, brummelt Heinz. Er ist doch irgendwie geschmeichelt, daß Lukas ihn angesprochen hat.

Es ist mir ein Bedürfnis, brummelt er und nestelt schon im Gehen an seiner Hose. Wahrhaftig, er hat es eilig.

Karsten kann warten.

Lukas hat einen anderen Gesichtsausdruck bekommen. Bei der Frau war er sozusagen weich. Jetzt ist er hart.

Na warte, du schwule Sau, sagt er, du weiches Fleisch.

Max träumt.

Er träumt, daß ihm die Hose heruntergezogen wird, mit Schwung hinüber über den gereckten Popo.

Nein, wimmert er, denn er schämt sich, daß sein Arsch offensteht. Er möchte die Arschbacken zukneifen. Das ist es, was er möchte.

Nein, wimmert er, um wenigstens auf diese Weise einen Nebelschleier vor die offene Landschaft zu ziehen, irgendeinen blauen Dunst.

Heinz grinst unwillkürlich. Was ist er selbst dagegen doch für ein konventioneller Kerl. Die Frau da vor ihm wimmert nicht. Er wird ihr schon Töne entlocken.

Na dann, murmelt er.

Auf die Plätze, ruft Karsten.

Fertig. Los.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt27.html.

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