Ilse Bindseil

Frühe Erzählungen

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Fahrkarte zu den Sternen

Ich arbeitete in der zentralen Registratur, saß tagsüber an den ratternden Maschinen, rannte mit klappernden Absätzen in den Waschraum, wenn mir schlecht wurde, und stand dann abends noch stundenlang in der Schlange vor dem Auswanderungsbüro. Ich mußte mich immer wieder anstellen, denn es fehlte immer noch etwas. Ich hatte es aber eilig mit dem Auswandern; denn ich war schwanger, und das war verboten.

Noch sah man es nicht, und ich durfte die vielen hundert Bögen ausfüllen, die meinen Auswanderungsantrag begründeten. Ich schrieb, daß ich mich zu Pionierleistungen berufen fühlte, verwies darauf, daß ich seit Jahren schon in der zentralen Registratur arbeitete, und leitete daraus ein förmliches Recht auf Auswanderung ab. Denn, so schrieb ich, auch im Auswanderungsland ist eine sachgemäße Verwaltung das erste Bedürfnis.

Als ich in der Schlange am Flugschalter stand, wurde mir schlecht. Aber ich schluckte die Übelkeit hinunter. Ich wollte um keinen Preis auffallen. Den Koffer mit der Leibwäsche behielt ich fest in der Hand. Ich setzte ihn nicht einmal ab. Unter meiner Wäsche hatte ich Hemdchen und Jäckchen versteckt. Ich hoffte, sie ließen mich nicht meinen Koffer öffnen, und wenn, dann konnten sie das weiße Zeug zumindest auf den ersten Blick nicht unterscheiden.

Noch in der Raumfähre bändelte ich mit einem jungen Mann an. Das war nicht schwierig. Wir waren ja alle jung, oder jedenfalls ziemlich, und es wurde von uns erwartet, daß wir uns fanden. Er war ein unbeholfener Mensch, jünger als ich, und er hatte keine Chance, sich mir zu entziehen. Er gefiel mir nicht sonderlich. Außerdem war bei Auswanderern immer etwas faul, und man hätte sie lange und sorgfältig beobachten müssen, ehe man sich mit ihnen einließ. Aber ich hatte keine Zeit. Nicht mehr lange, und sie würden alle herausbekommen haben, was bei mir faul war, und zwar ohne große Beobachtung.

Im Sammellager am Ankunftsort verführte ich ihn, und als wir uns in kleinere Gruppen aufteilten, um das unbekannte Land zu erobern, da galt es schon als ausgemacht, daß wir zusammengehörten. Genauso hatte ich es aber haben wollen. Bald gab ich mir nicht mehr die gleiche ängstliche Mühe, meinen beginnenden Bauch zu verbergen.

Mein Kind war das erste, das im fremden Land geboren wurde, und seine Ankunft wurde gefeiert.

Wir hatten es nicht gut getroffen. Das Land war unfruchtbar, und es war nicht leicht, die ersten zu sein. Was uns selbst betraf, so waren wir für unsere Aufgabe nicht eben gerüstet. Man hatte uns nachlässig zusammengestellt. Das notwendige Minimum an Fachkräften war zwar vorhanden, auch die für eine Neugründung erforderliche Breite der Berufsbildung zumindest dem Schein nach gewahrt. Aber man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sachfremde Gründe sich in die Auswahl gemischt, ja den Ausschlag gegeben hatten, so unfroh und verbiestert war von Anfang an das Klima, in dem die Neusiedelung stattfand. Mehr als sonst üblich schienen bei der Zulassung Abschiebungsgründe zum Tragen gekommen zu sein. Vielleicht hatten sie geahnt, daß die Bedingungen hier oben trostlos waren, und die Gelegenheit genutzt. Daß Auswanderung immer etwas von Verbannung an sich hatte, war bekannt, wobei politische Gründe nur in den seltensten Fällen, eher zufällig eine Rolle spielten. Die Politischen wanderten nicht aus. Sie wurden liquidiert. Wo man mit sanftem Zwang nachhalf, das waren die Mißliebigen, die Querulanten, auch ungeliebte Konkurrenten, Dogmatiker, Rechthaber. Wenn es Ihnen nicht paßt, können Sie ja auswandern, war in den Betrieben das Standardargument. Daß dieses Argument auch noch zynisch war, war ebenso bekannt. Denn natürlich konnte nicht jeder, den sein Betrieb am liebsten losgeworden wäre, auswandern. Jeder aber, den man so weit gebracht hatte, daß er auswandern wollte, kam in die Auswahl. Hier, bei unserem Haufen, hatte es sich weniger um die gefährlichen Konkurrenten als um die Mißvergnügten gehandelt, das sah man gleich. Verdrossenheit herrschte. Machtkämpfe fanden kaum statt. Der brillante Sachverstand, der erfinderische Geist, das Improvisationstalent fehlten. Da war niemand, der uns aus unserem permanenten Dilemma befreit, der uns geholfen hätte, die unzähligen Katastrophen zu überwinden, in die wir am Anfang naturgemäß gerieten. Niemand, der uns gerade die ersten Jahre – die gemeinhin nicht nur von Unsicherheit und Angst, sondern auch von Hoffnungslosigkeit und einem tiefen, bohrenden Heimweh verdunkelt waren – durch einen Hauch von Abenteuerstimmung, einen gewissen unbekümmerten Pioniergeist leichter gemacht hätte. Es gab keinen, der irgendeinen Vorzug gehabt, der irgend etwas besser gekonnt hätte als irgendein anderer von uns. Wie Nachsitzer waren wir angekommen, nicht wie Pioniere, und unsere Tätigkeit glich denn auch eher einer Beschäftigungstherapie als einer auf die Unendlichkeit der Zukunft berechneten Arbeit. Wir sorgten für uns, natürlich, wir wollten ja zu essen und zu leben haben. Aber unsere Umsicht war streng auf den Tag begrenzt. Niemand schwang sich zu einer Initiative auf, deren Früchte erst von der nächsten Generation genossen werden konnten. Selbst zu der einfachsten Vorsorge, zum Beispiel ein Feld brachliegen zu lassen, damit es im nächsten Jahr mehr trug, waren wir nicht imstande.

Ich sah auf mein Kind und machte mir Sorgen.

Wäre das Kind nicht gewesen, ich hätte ganz gut in diese Gesellschaft gepaßt. Ich war ja auch nur ein Querulant. Meine Schwangerschaft war ein Ausdruck meiner äußersten Unangepaßtheit, meiner ganzen verkorksten Existenz. Dabei konnte ich noch von Glück sagen, daß das Kind nach mir kam. Und da sich alle an seine vermeintliche Zeugung erinnerten, faßte niemand einen Verdacht. Ich aber erkannte deutlich die Spuren des Vaters in dem kleinen Gesicht. Die Beziehung war in jeder Hinsicht kompromittierend gewesen. Ich brauchte das Kind bloß anzusehen und wußte sofort wieder, warum ich ausgewandert war.

Ich fand keine Arbeit in meinem Beruf. Das lag nicht daran, daß diese Vorstellung von jeher absurd gewesen wäre, sondern war vielmehr ein Ausdruck unserer ganz besonderen Barbarei. Natürlich hatte ich niemals an eine zentrale, computergesteuerte Registratur gedacht. Aber ich hätte dem Bürgermeister zur Hand gehen können. Ich hätte über Heiraten, Geburten, Sterbefälle Buch führen können ebenso wie über die immer neuen Abspaltungen von Gruppen und Grüppchen, die wegstrebten und sich in größtmöglicher Entfernung von der Hauptniederlassung zu etablieren suchten. Ich hätte eine Einwohnerkartei anlegen können, die Basis jeder noch so bescheidenen Statistik über Entwicklung und Gedeih unserer kleinen Gemeinschaft. Wußte man überhaupt, wie viele wir bei unserer Ankunft waren? Dumme Frage, natürlich wußten wir es, beziehungsweise natürlich war es bekannt gewesen. Aber wußten wir tatsächlich die genaue Zahl, oder kannten sie nur die da unten, die Herren von der heimatlichen Bürokratie, die unseren Auszug mit dem ganzen Aufwand ihrer rechnergesteuerten Verwaltung vorbereitet, registriert und begleitet hatten? Tatsächlich herrschte hier bei uns eine an Verwahrlosung grenzende Unwissenheit. So hatte es zum Beispiel kurz nach unserer Ankunft einige Todesfälle gegeben, darunter der Vater meines Kindes oder vielmehr der, den man dafür hielt. Es waren tragische Fälle; denn schließlich waren wir ja alle jung. Wir hatten die Toten begraben und vergessen. Später, wenn zufällig die Rede auf sie kam, konnten wir uns nicht einmal mehr darüber einigen, ob sie noch alle hier oben angekommen waren oder nicht bereits einige in der Heimat gestorben waren, so blaß und schemenhaft waren sie in der Erinnerung geworden.

Ich hätte auch dem Doktor und dem Zahndoktor helfen können. Schließlich verstanden sie sich ebensowenig wie der Bürgermeister auf die Führung einer Kartei. Der Doktor war nicht dumm, im Gegenteil. Aber er kam direkt aus der Klinik und hatte keine Ahnung, was es heißt, eine eigene Praxis zu führen. Was er jetzt betrieb, hielt er offenbar für eine Praxis. Das heißt, er behandelte alle, die von ihm behandelt werden wollten, und er behandelte sie in der Reihenfolge, in der sie ihn aufsuchten. Er wies niemanden ab, und er behandelte jeden gleich. Aber er behandelte auch den gleich, der ihn zum dritten, fünften, siebten Mal konsultierte. Auch beim Schwerkranken, chronisch Kranken, unheilbar Kranken tat er noch so, als sähe er ihn zum ersten Mal. Nie hätte er eine Krankengeschichte aufgenommen. Er notierte sich nichts und fragte die Leute nicht einmal nach ihrem Namen. Was die medikamentöse Versorgung betraf, so war er großzügig, aber ohne Vernunft. Er gab aus, solange der Vorrat reichte. Und er gab ohne Unterschied. Nie hätte er sich überlegt, daß er mit den Antibiotika haushälterisch umgehen mußte, schließlich konnten ja Seuchen kommen. Nein, er gab aus. Wenn die Leute mit Halsschmerzen zu ihm kamen, dann behandelte er eben die Halsschmerzen. Er war nicht der Mann, sich zu überlegen, was sie noch alles bekommen konnten. Bekamen sie später Diphtherie und die Medikamente waren ihm ausgegangen, nun gut, dann empfahl er eben zu gurgeln.

Was den Zahndoktor betraf, so handelte es sich bei ihm offenbar um einen Betrüger. Er war überhaupt kein Arzt, und er behandelte auch nie einen Zahn. Da aber bei einem Kontingent von unserer zahlenmäßigen Stärke ein Zahnarzt vorgesehen war, hatte er sich mit dem falschen Etikett die Auswanderung erschwindelt.

Früher hatten mich Freunde mit meinen Ambitionen aufgezogen. Du wirst einmal der Historiker eurer Siedlung, der Biograph der ersten Stunde, hatten sie gesagt. Ich hatte mitgelacht und den Gedanken nicht für unmöglich gehalten: denn schließlich hatte ich seit jeher für das Geschriebene etwas übrig. Ich konnte ja nicht ahnen, daß wir regelrecht aufräumen würden mit unserer Schriftkultur.

Ich dachte gar nicht daran, den Historiker zu spielen. Nachdem der Bürgermeister und der Doktor meine Angebote ignoriert hatten, hatte ich jegliches kommunale Interesse verloren. Wie alle andern kümmerte ich mich um meinen Haushalt und hatte, da ja nichts vorhanden war, alles, Haus, Garten, erst geschaffen werden mußte, grenzenlos zu tun. Das Kind war immer in meiner Nähe. Auch wenn ich selten lachte und für gewöhnlich nur widerwillig meine Pflicht tat, konnte ich nicht umhin, mir einzugestehen, daß ich glücklich war. Ich war glücklich mit meinem Kind. Obwohl ich selten mit ihm sprach und noch seltener mit ihm lachte, war ich nie allein. Ich war nicht allein, wenn ich den Garten umgrub, wenn ich die Treppe putzte und die Ratten totschlug. Ich war nicht allein, wenn ich in die Stadt ging, das heißt zum Kolonialwarenhändler, der in der ersten Zeit die Verteilung der mitgebrachten und später den Tausch und Verkauf der hier produzierten Güter betrieb. Ich nahm das Kind immer mit, anfangs in einem Tuch auf dem Rücken, später auf dem Arm oder an der Hand. Ohne Kind traute ich mich gar nicht in die Stadt. Ich fühlte mich dann schwach, den verdrossenen Blicken der Leute ausgesetzt. Wenn ich das Kind bei mir hatte, war ich sicher. Die Leute sahen, daß ich nicht allein war, und sie mußten zugeben, daß ich ein Recht auf Lebensmittel hatte, Gegenstände des täglichen Bedarfs, auch ohne daß ich es ihnen umständlich erklärte.

Ich hatte das Kind an der Hand und war glücklich.

Andere Kinder wurden geboren und gaben unserem Leben den Schein von Normalität. Da war jemand, für den mußten wir sorgen. Da war Zukunft, Hoffnung. Hätten wir keine Hoffnung gehabt, wir hätten gewiß keine Kinder bekommen. Und die Zukunft, die produzierten wir mit unseren Kindern. Keiner hätte zugegeben, daß er im tiefsten Herzen hoffnungslos war. Er hätte es auch nicht zugeben können; denn er sah ja seine Kinder, und es war nicht denkbar, daß er keine Hoffnung hatte. Während aber früher, da, wo wir hergekommen waren, das Kinderkriegen die Leute zusammengeführt und die Barrieren zwischen den Familien wenigstens für eine kurze Zeit überflüssig gemacht hatte, zogen wir uns nur um so mehr zurück. Die Kinder selbst machten noch keine Ansprüche. Sie waren zu klein. Ältere Kinder, die die Brücke geschlagen hätten, gab es nicht. Unsere Kleinen aber waren scheu wie junge Tiere, von einer geradezu physischen Anhänglichkeit an ihre Familie, ohne Neugier und Bedürfnisse nach freieren Kontakten. Ich glaube, wir verhielten uns zu ihnen wie die Tiere sich zu ihrer Brut. Sobald ein Fremder sich näherte, rafften wir sie unter unsere Röcke. Wir schützten sie vor fremden Blicken und vor fremder Berührung. Wir behielten sie für uns. Aber wir gaben uns nicht mit ihnen ab. Wir spielten nicht mit ihnen. Wir gaben ihnen zu essen, aber wir brachten ihnen keine Beschäftigung bei. Sie merkten sicherlich, daß wir sie brauchten, daß wir uns an ihnen wärmten. Sicherlich fühlten sie sich nie verlassen. Aber sie scheuten jede Situation, in der sie sich hätten verlassen fühlen können. Es war nicht auszudenken, was aus ihnen werden sollte. Aber da war buchstäblich keiner, der sich darüber Rechenschaft abgelegt oder Rechenschaft von uns gefordert hätte.

Ich möchte mir den Kopf zergrübeln, wie alles kam – jetzt, wo wieder Zeit ist, zu grübeln. Es war wohl so, daß insgeheim jeder doch auf die Solidarität der andern setzte. Wir hatten ja alle die gleichen Interessen. Wir sprachen nur nicht darüber. Aber noch gab es niemanden, der etwas heimlich beiseite geschafft, für eine günstige Ausgangsposition beim kommenden Kampf um die Herrschaft gesorgt hätte. Für ein so weitreichendes Unternehmen fehlte der Mut, und zwar jedem einzelnen von uns. Wir waren nicht gutmütig und nicht gut, ich habe das schon erwähnt. Im Gegenteil, etwas Böses, Zweideutiges hatte jeden von uns hierher gebracht. Aber um eine Verschwörung anzuzetteln, zu konspirieren, ein Komplott zu schmieden fehlte uns einfach das Vertrauen in die Zukunft. Dabei dachten wir nicht, daß wir das Morgen nicht mehr erleben würden. Einen so tiefschürfenden Gedanken hätten wir nie gefaßt. Was hätte uns das auch zu sorgen gegeben, zu planen? Nein, es war einfach so, daß wir überhaupt kein Vertrauen in die Zukunft hatten. Wir verbanden keine Vorstellung mit dem Wort Zukunft, und wir fanden in uns nichts, was uns erlaubt hätte, von Vertrauen zu reden. Wir wußten ja gar nicht mehr, was das war. Vertrauen, das war ein Begriff aus der Heimat. Da hatten wir uns bespitzelt und belauscht. Hier oben ließen wir uns gegenseitig in Ruhe, und wir dachten, das müßte immer so sein.

Wir wirtschafteten schlecht. Als unsere Vorräte erschöpft waren, waren wir noch weit davon entfernt, uns erhalten zu können. Wichtige Lebensmittel begannen zu fehlen. Ersatzteile, die uns nie hätten ausgehen dürfen, von denen noch unsere Kindeskinder hätten zehren sollen, waren verbraucht. Empfindliche Versorgungslücken taten sich auf. Wir ertrugen sie gleichgültig, solange sie überschaubar waren, ja sogar mit einer gewissen Spannung. Jetzt sahen wir doch wenigstens die Früchte unseres Tuns, die Früchte unserer Untätigkeit. Als aber zusätzliche Schwierigkeiten auftauchten – ein schlechter Winter, der unsere bescheidene Landwirtschaft ruinierte und unsere Gesundheit schwächte, der Anflug einer Epidemie unter den Kindern –, wurde die Situation kritisch. Eines Morgens, die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, eine trübe, winterliche Dämmerung herrschte, und der Frost zwickte empfindlich im Gesicht, machte ich einen einsamen Rundgang durch die Stadt. Ich hatte etliche Tage in der Stube verbracht; denn mein Kind war krank, und ich war hungrig nach frischer Luft. Auf dem sogenannten Marktplatz, dem Zentrum unserer kleinen, dürftigen Ansiedlung, sah ich im Dämmerlicht einen Mann auf der Erde liegen, fieberhaft mit einer unerkennbaren Tätigkeit beschäftigt. Als ich näher herantrat, erschrak er. Aber er richtete sich nicht auf, und er schämte sich auch nicht. Er buddelte geradewegs in der Erde.

Was machst du denn da, fragte ich.

Es war der Bürgermeister. Wir hatten ihn gleich nach unserer Ankunft gewählt und waren zu faul gewesen, die Wahl jemals zu wiederholen.

Hier war es, sagte er und richtete sich nicht auf. Er hatte einen scharfen eisernen Gegenstand in der Hand und grub in der gefrorenen Erde.

Hier war es, sagte er. Hier haben wir den Kasten versenkt.

Donnerwetter! Ich hatte das ganz vergessen. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt noch an die Stelle erinnerte. Wir hatten sie nicht bezeichnet. Kein Denkmal, keine Säule wies auf den wichtigen Platz, wo wir unsere Gründungspapiere vergraben hatten. Dabei markierten sie den Anfang unserer Geschichte, den Ursprungsort. Aber wir, wir hatten ihn einfach vergessen.

Und was willst du damit?

Ich will nachsehen, wie die Rückkehr geregelt ist.

Da fing ich gleich mit an zu buddeln.

Mit einem Instrument, das noch erheblich ungeeigneter war als seins, bohrte ich die gefrorene Erde auf. Eine fröhliche Spannung befiel mich, so als wäre da in dem Kasten Hilfe für uns alle, als würde gleich alles gut.

Als wir das schwarze, verrostete Ding heraushoben, waren wir schon nicht mehr allein. Eine schwache Wintersonne war aufgegangen. Manche, die es eilig zum Doktor hatten oder die sich nach einer durchwachten Nacht die Beine vertreten wollten, hatten sich zu uns gesellt. Schweigend drängten wir uns um den Bürgermeister.

Der Bürgermeister drehte den verschlossenen Kasten in den Händen. Es war klar, ohne Gewalt bekamen wir ihn nicht auf. Er nahm seinen langen eisernen Griffel und bohrte so lange an dem Schloß herum, bis es nachgab. Der eine oder andere seufzte unwillkürlich, als der Deckel aufsprang. Wir hockten uns in einem Kreis auf den Boden, und der Bürgermeister breitete die Papiere fein säuberlich auf der gefrorenen Erde aus. Wir stießen beinahe mit den Köpfen zusammen, als wir uns nach vorn beugten, um das Geschriebene zu entziffern.

Die Papiere beinhalteten im wesentlichen zweierlei: erstens die Versicherung, daß unser Unternehmen den großen Pionierleistungen der Geschichte vergleichbar sei, und zweitens eine juristische Klausel, derzufolge alle Ansprüche gegenüber der Heimat abgegolten seien – die gleichwohl stolz darauf sei, unsere Heimat zu heißen. Darunter, schon ein wenig verblaßt, zahlreiche Unterschriften und Siegel.

Unter den Papieren fand sich auch ein Zeitungsausschnitt mit einem Foto von der Abschiedsfeier auf dem Auswandereramt drei Wochen vor unserer Abreise. Der stellvertretende Sektionschef hatte die Abschiedsrede gehalten, und die Zeitung hatte sie abgedruckt. Mögen nach ebenso vielen Jahrhunderten, wie wir selber gebraucht haben, um den Weltraum für uns zu erobern, Entdeckungsreisende von eurem Planeten zu unserem kommen, hieß es hochtrabend und feierlich am Schluß: wir werden sie herzlich begrüßen!

Wir hockten im Kreis und rührten uns nicht. Mir ging es ganz merkwürdig. Ich hatte im Grunde nie damit gerechnet, daß wir jemals zurückkehren würden. Ich hatte wirklich so gelebt, als wäre das hier endgültig. Daß es mir an Verzweiflung gemangelt hatte, war kein Zeichen von Optimismus, Zukunftshoffnung oder Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr gewesen. Im Gegenteil. Es war, als ob die Luft hier oben dünner war, als ob man mit einem geringeren Quantum Lebenslust leben konnte. Ich war nie verzweifelt gewesen, und ich hatte keine Hoffnung gehabt. Davon abgesehen, hätte ich auch keine Hoffnung aus dem Gedanken an die Heimat geschöpft. Ich schon gar nicht. Nur jetzt, wo jedem die Heimkehrfreude aus den Augen leuchtete, hatte ich mich selbst aufgeregt. Außerdem war das Kind krank, und ich wußte, daß es Wahnsinn war, auf den Doktor zu bauen.

Soll das heißen, fragte jemand schließlich, daß sie nicht mal einen schicken, der nach uns sieht? Es wird überhaupt nie jemand kommen?

Sicher wird jemand kommen, meinte der Bürgermeister, aber nicht gleich in der ersten oder zweiten Generation. und vorausgesetzt natürlich, daß sie ihren technologischen Standard wahren.

Eine so kluge Überlegung hatte er noch nie geäußert. Ich fragte mich, woher er auf einmal den Verstand nahm. Vielleicht hatte es doch einen Grund gehabt, daß wir gerade ihn zum Bürgermeister gewählt hatten.

Überhaupt waren sie alle wie ausgewechselt. Es war, als hätte die Aufregung ihnen die Zunge gelöst.

Sie werden kommen, sagte ein anderer drohend, wenn sie den Mut dazu haben.

Es könnte ja sein, setzte er, als er unsere verständnislosen Mienen sah, bedächtig hinzu, daß sie uns ihre Fahrzeuge nicht freiwillig überlassen.

Der Bürgermeister rückte unruhig hin und her. Der Ton paßte ihm nicht. Wahrhaftig, es war das erste Mal, daß ihm etwas nicht paßte!

Und wenn sie nicht kommen? fragte ein anderer. Werden wir es jemals so weit bringen, daß wir aus eigener Kraft heimkehren können? Werden wir es überhaupt jemals so weit bringen, daß wir wieder fliegen können?

Ich sah die Raumfähren vor mir, mit denen wir hergekommen waren und die noch immer draußen, knapp eine halbe Meile von hier, auf dem öden Gelände standen. Wir hatten nicht einmal einen provisorischen Hangar für sie gebaut, und sie rosteten vor sich hin. Einer unserer Piloten war übrigens bald nach unserer Ankunft gestorben, aus Kummer vermutlich, weil ihm klar geworden war, daß wir niemals, in absehbarer Zeit jedenfalls nicht, imstande sein würden, Treibstoff zu erzeugen oder auch nur ein einfaches Flugzeug zu bauen. Daran, wie wir mit den alten Fahrzeugen umgingen, konnte man ablesen, daß wir nicht nur auf absehbare Zeit technologisch nicht imstande waren, ein Flugzeug in die Luft zu bringen, sondern auch in kürzester Frist das Bedürfnis dazu verloren haben würden. Die meisten behaupteten, er hätte sich umgebracht. Böse Zungen meinten allerdings, er wäre einigen, darunter dem Doktor, der ja auch ein Intellektueller war, so auf die Nerven gegangen, daß sie ein bißchen nachgeholfen hätten. Wie dem auch sei, jedenfalls hielten die andern Piloten sich seitdem aufs äußerste zurück, kehrten ihre landwirtschaftlichen Interessen heraus und nannten es eine absurde Unterstellung, wenn jemand behauptete, sie wären im Grunde auch lieber wieder zu Hause.

Lächerlich, der Gedanke, daß wir jemals wieder fliegen würden!

Hatte etwa jemand ernsthaft damit gerechnet?

Natürlich hatte keiner damit gerechnet. Aber hatte es sich auch jeder klargemacht?

Ich, zum Beispiel, ich hatte es mir klargemacht. Aber ich wußte auch, was ich wollte. Damals hatte ich es jedenfalls gewußt. Für die andern konnte ich natürlich nicht geradestehen.

Eigentlich war es ja so, begann der Bürgermeister in einem Ton, als schiene es ihm an der Zeit, die Sache richtigzustellen, daß wir alle auswandern wollten.

Niemand, setzt er beinahe beschwörend hinzu, hat doch damals an eine Rückkehr gedacht.

Das stimmte. Ja, wenn wir damals nicht fortgekonnt hätten, das hätte uns wirklich getroffen. Aber daß es endgültig war, für immer, das war überhaupt kein Gegenstand gewesen, darüber hatten wir doch gar nicht nachgedacht.

Andererseits, setzte er gemäßigter hinzu, sind wir natürlich alle davon ausgegangen, daß wir auch weiterhin fliegen würden. Nicht gerade zurück, aber fliegen. Schließlich sind wir eine moderne Nation. Wir wollten auswandern, aber doch nicht zurück in die Steinzeit! Im Gegenteil, wir wollten ein Verkehrsnetz aufziehen und den Kontinent erobern. Mit den Höhlenkindern hatte keiner von uns etwas im Sinn.

Das hier, sagte er und deutete mit einer berufsmäßigen Geste auf die ungepflasterten, jetzt im Winter Gott sei Dank hartgefrorenen Lehmwege, die die Straßen unserer ›Hauptstadt‹ bildeten, das hier sollte unsere neue Heimat werden. Hier wollten wir glücklich sein. Über dem Aufbau der neuen Heimat wollten wir das Heimweh nach der alten vergessen. Das war unser Programm und nicht, Mittel zu unserer Rückkehr auszutüfteln. Wahrhaftig, wir hatten alle Hände voll zu tun!

Sorgfältig schob er die Papiere zusammen und legte sie zurück in den Kasten. Er klappte den nicht mehr verschließbaren Deckel ein paarmal auf und zu und klemmte sich den Kasten schließlich unter den Arm.

Wir wollten ein moderner Satellit werden, sagte er noch, ehe er ging. Wir wollten da anfangen, wo sie in der Heimat stehengeblieben sind. Und wir wollten die Vorteile der Technik mit den Freuden der Pionierzeit, die Lust am Fortschritt mit der Lust am Kultivieren verbinden.

Alles Schwindel, schloß er, alles Betrug. Aber in seinem Ton war ganz im Gegensatz zu seinen pessimistischen Worten zum ersten Mal so etwas wie Optimismus, Lebendigkeit. Er redete beinahe wie die Leute zu Hause.

Auch die andern waren aufgekratzt, standen herum und mochten nicht gehen.

Wir standen noch immer zusammen, als der Bürgermeister schon wieder zurückkam. Er trat aus dem schiefen, aus unbehauenen Steinen roh zusammengefügten Haus, das unser Bürgermeisteramt war, und ging mit energischen Schritten über den Platz.

Als er an unserem Grüppchen vorbeikam, blitzte er uns aufmunternd an und machte gleichzeitig eine schwungvolle Bewegung mit dem Arm. Es war, als wollte er sagen: Na, wie ist es, seid ihr immer noch nicht an der Arbeit? In seinem Gesicht mit den von der Kälte geröteten Backen zuckte es vom Andrang sich überstürzender Pläne und Ideen.

Bevor wir uns auch nur in Bewegung gesetzt hatten, war er schon über den Platz und im Haus des Doktors verschwunden.


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