Ilse Bindseil

Frühe Erzählungen

Zum Inhaltsverzeichnis


Nach Venedig der Liebe wegen

Jahrelang hatte Herr Klimt, Chef der Klimt KG, mit seiner Sekretärin in einer ebenso asketischen wie in Arbeitshinsicht fruchtbaren Partnerschaft gelebt. Als er, noch nicht sechzigjährig, von einer Lähmung ereilt wurde, die beinahe sämtliche Lebensfunktionen außer Kraft setzte und ihn zum totalen Pflegefall machte, entschloß diese Sekretärin sich, ihm, auch wenn es noch so überraschend käme, einen Heiratsantrag zu machen, und sie meinte, daß dieser Schritt gerade wegen ihres immer diskreten, tadellosen Lebenswandels gerechtfertigt wäre. Wäre es anders gewesen, es hätte auch nicht viel gemacht. Es war wie ein innerer Ruf, wie sie vor dem Krankenhauseingang stand und darüber nachdachte, was sie für ihren Chef tun, was ihm am meisten von Nutzen sein könnte. Sie wollte ihm ein Zeichen geben. Er sollte merken, daß er noch am Leben war. Er sollte wissen, daß er, unter einem zugegebenermaßen schwierigen Gesichtswinkel, immer noch derselbe war, und um ihm dies deutlich zu machen, mußte sie eben zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen. Ihr kamen sie übrigens gar nicht so außergewöhnlich vor. Für sie war das eine einfache Relation: daß sie seine Sekretärin war, solange er gesund, munter und stabil war, und daß sie seine Ehefrau wurde in dem Moment, wo er Gesundheit, Munterkeit und Stabilität verlor. Sie war übrigens nicht ganz vierzig, als das Unglück passierte.

Geldgier war es nicht, was sie zu ihrem Schritt veranlaßte, und das war auch das erste, was er bei Erhalt des Antrags erwog. Man wußte übrigens nicht, wieweit er überhaupt noch zu erwägen imstande war. Aber der behandelnde Arzt glaubte, dafür einstehen zu können, sowohl, daß er den Antrag richtig aufgenommen, als auch, daß er ihn angenommen habe. Ansonsten war er Witwer mit beinahe erwachsenen Söhnen. Er konnte Geld ausgeben zu seinen Lebzeiten, soviel er wollte. Aber die Erbschaftsdrittelung war unwiderruflich festgelegt. Außerdem konnte er in seinem Zustand hundert Jahre werden. Die Trauung fand am Krankenbett statt. In die Rehabilitationsklinik, wo ihm das kleine Einmaleins seines künftigen Überlebens beigebracht werden sollte, begleitete die ehemalige Sekretärin ihn schon als seine Frau. Sie hieß etwas altmodisch Lotte, Lotte Radtke, und war jetzt Frau Klimt.

Im täglichen Kontakt mit dem Kranken konnte Lotte, jetzt Frau Klimt, sich bald ein Bild vom Ausmaß der Krankheit ihres Gatten machen, und ebensoschnell begriff sie den eigentlichen Zweck ihres Aufenthalts in der Rehabilitationsklinik, in der sie gemeinsam vier Monate zubrachten. Beide sollten sie an die notwendigen Pflegehandlungen gewöhnt werden. Das heißt, er sollte reflexologisch, wie es hieß, auf ihre Pflegehandlungen eingestellt und dazu gebracht werden, daß er im jeweiligen Moment das tat, was sie jeweils von ihm verlangte, wobei selbstredend die einzelne Handlung regelmäßig, pünktlich und in einem umfassenden Sinn richtig ausgeführt werden mußte. Als das Ehepaar Klimt sein Klinikappartement für den nächsten schweren Fall räumte, war Lotte beinahe nicht wiederzuerkennen. Streng, gefaßt, fast ebenso ausdrucksarm wie ihr Mann, in einem dunkelblauen Kostüm, das zweifellos noch aus ihrer Sekretärinnenzeit stammte, war sie die perfekte Begleiterin eines schwer chronisch kranken Mannes, verantwortungsbewußt, entscheidungsfreudig, in jeder Hinsicht unabhängig und vor allem weisungsunbedürftig, daß niemand die ehemalige Sekretärin und Angestellte in ihr vermutete. Da sich gerade in den allerletzten Rehabilitationswochen ein stationärer, resignativer Zug in die Entwicklung eingeschlichen hatte, beschloß das Ehepaar, wenn man von einem Beschluß reden darf, sich auf keinen Fall in der vertrauten häuslichen Umgebung zu installieren, in der Herr Klimt die letzten arbeitsreichen Jahre verbracht hatte, sondern auf Reisen zu gehen. Das entsprach der neuen Unabhängigkeit, in der sie sich befanden, und würde deprimierende Erinnerungen ebenso verhindern wie möglicherweise den einen oder anderen kleinen Fortschritt ermöglichen. Sie reisten nach Venedig.

Jeden Morgen wurde Herr Klimt in einem komfortablen Rollstuhl auf den Markusplatz geschoben und fein seitlich neben dem äußersten Tischchen einer der zahlreichen Straßencafés abgestellt. Dort saß er bewegungslos und natürlich ohne eine Miene zu verziehen – denn Gesichtsmuskeln und -nerven waren vollständig gelähmt – bis gegen Mittag und ließ die Touristenscharen an sich vorüberziehen. Seine Frau saß neben ihm, aufrecht im dunkelblauen Kostüm, ohne Handarbeit und nur mit einem Espresso vor sich auf dem Tischchen, damit der Kellner sich nicht beschweren konnte. Gegen zwölf zahlte Frau Klimt den Espresso, den sie nicht angerührt hatte, und schob ihren Mann zum Hotel zurück. Ein geräumiger Lift nahm den Rollstuhl auf, so daß sie ohne fremde Hilfe in ihr Appartement gelangen konnten. Dort nahmen sie, jeder auf seine Weise, ihre Mittagsmahlzeit ein.

Herr Klimts Überleben war, man muß schon sagen, ein Wunder der Technik. Zwar hatte seine Lähmung die Zentren, Herz, Lunge usw., verschont. Dafür hatte sie sich auf die peripheren Gebiete gelegt. Es war wie eine Querschnittslähmung, aber mit schweren Lähmungen ebenso nach unten wie nach oben. Was sich im Kopf tat, wußte wie gesagt niemand. Medizinisch war die Lähmung ungeklärt. Wie in einem Krampf hatten sich insbesondere die nahrungaufnehmenden Organe verzerrt. Das geschah so offensichtlich ohne jeden physischen Grund, daß man noch auf Rehabilitation hätte hoffen können. Andererseits hatte man beinahe stündlich, von Röntgenbild zu Röntgenbild, verfolgen können, wie sich die schwersten physiologischen Folgen aus diesem grundlosen Krampf ergaben. Der Prozeß mochte zwar grundlos sein, jedenfalls war er irreversibel, wie die Ärzte sagten. Keine medizinische Kunst konnte ihn rückgängig machen. In kürzester Zeit hatte eine spektakuläre Atrophie, eine Rückbildung der wie im Krampf gelähmten nahrungaufnehmenden Organe, stattgefunden, und was sich nicht zurückbildete, war mit seiner Umgebung hoffnungslos verbacken. Der Fall war gut für die Dauerinfusion, ein Gebiet, auf dem man in den letzten Jahren reichlich Erfahrung gesammelt hatte. Der Patient würde nie mehr in seinem Leben auf normalem, korrektem Wege Nahrung aufnehmen können, das war klar. Wenn er am Leben erhalten werden sollte, dann mußte dies über die Blutgefäße geschehen, mit allen trüben Aussichten, was die dauernde medizinische Betreuung und die mit Sicherheit zu erwartenden Krankheiten an der Vene betraf. In dieser Situation, die die Ärzte vor die ausweglose Alternative stellte, den Patienten auf höchst aktive Weise sterben zu lassen oder ihn auf höchst barbarische Weise am Leben zu erhalten, fand sich glücklicherweise ein Chirurg, der von der Krankheit zwar nichts verstand, aber sich dafür bereit erklärte, einen künstlichen Nahrungsweg durch die Brust, an der verkrampften Speiseröhre vorbei zwischen Magen und, sagen wir, Schlüsselbeingrube zu legen. Er war von enormer manueller Geschicklichkeit und einem hohen technischen Vorstellungsvermögen, dafür rücksichtslos genug, um das ins Werk zu setzen, was sie alle dachten, nämlich entweder dem Patienten zu einer annähernd menschlichen Nahrungsaufnahme zu verhelfen oder aber ihn in Ehren auf dem Operationstisch zugrunde gehen zu lassen. Die Operation gelang. In der natürlichen Grube des Schlüsselbeins, die der Volksmund als Salzfäßchen bezeichnet, wurde ein künstlicher Mageneingang geschaffen und der Patient von da an ganz normal ernährt. Als Speiseröhre diente, wie in solchen Fällen üblich, ein Stück vom Darm. Am Eingang hatte der sensible Techniker einen kleinen Wulst oder Kranz gelegt, der der Arbeit insgesamt einen irgendwie unsauberen, dilettantischen Zug gab, von ihm aber in vollem Bewußtsein angelegt war, da er wenigstens andeutungsweise einen Ersatz für Mund und Lippen hatte schaffen wollen; denn, so hatte er richtig überlegt, wenn irgend etwas die Nahrungsaufnahme mit Genuß verband, so war es die wenn auch noch so geringfügige Verzögerung ihres Transports in den Magen, der wie immer nur andeutungsweise breite Kontakt mit der Schleimhaut. Nun, die Kollegen hätten es lieber gesehen, wenn das ganze ohne ›Mund‹ geblieben wäre, sauber, nüchtern, steril, ohne die falsche Romantik der Organnachbildung. Aber der ausführende Chirurg hatte sie vorher nicht gefragt, und nachher, nun nachher war es eben zu spät.

In diesen ›Mund‹ nun füllte Frau Klimt tagtäglich die notwendige Nahrung, in der ersten Zeit nur streng Passiertes, später auch Gehacktes, Gequetschtes und Gerührtes. Die Mahlzeiten vollzogen sich in einer Atmosphäre größtmöglicher Aufmerksamkeit. Sie waren die Höhepunkte des Tages. Jeder Löffel voll, den Frau Klimt in die neue, so raffiniert einfach angelegte Mundöffnung hineingab, wurde von ihr mit ruhigen, freundlichen Worten kommentiert. Dabei versuchte sie – auch nach so relativ langer Zeit immer noch nicht entmutigt – einen Ausdruck der Sättigung, ein noch so geringfügiges Zeichen von Abscheu, Überdruß zu erhaschen; denn natürlich ›mußte‹ Herr Klimt seinen Teller nicht ›leeressen‹. Andererseits war die Menge der Mahlzeit wohlberechnet, und solange er sich nicht verständlich machen bzw. solange sie die sicherlich vorhandenen Signale nicht auffangen konnte, wurde diese berechnete Menge verabreicht. Oft genug freilich und ohne daß man vorher auch nur das geringste hätte ahnen können, drehte bei den letzten Löffeln der Magen des Patienten sich um und gab die Mahlzeit vollständig wieder heraus. Frau Klimt gewöhnte sich darum, gelegentlich den letzten Bissen wegzulassen. Bist doch satt, sagte sie in ihrer ruhigen, geschäftsmäßigen Art. Man soll nicht mehr essen, als man wirklich mag, sagte sie, legte den Löffel zu dem verbliebenen Restchen Speise auf den Teller, erhob sich, lächelte ihrem Mann zu und trug den Teller zu der kleinen Anrichte hinüber, wo sie die Speisen zubereitete. Diese Eigenmächtigkeit, dieser winzige Eingriff in das so sorgfältig vorgeschriebene Leben des Patienten, hatte sie zuerst selbst tief beunruhigt. Sie spürte förmlich seinen Blick im Rücken. Vielleicht meinte er, sie gönnte ihm das Essen nicht. Unruhig warf sie einen Blick zurück, aber als sie sah, daß seine Augen ihr keineswegs gefolgt waren, daß er vielmehr wie immer teilnahmslos vor sich hin blickte, da faßte sie wieder Mut, und sie bekannte sich zu ihrer Entscheidungsfreiheit. Ihr Mann hatte seine Ausdrucksfähigkeit verloren. Es war nicht anzunehmen, daß er sich seine Ausdrucksbedürfnisse restlos bewahrt hatte. Wahrscheinlich war er abgestumpft. Jedenfalls war es unsinnig und töricht anzunehmen, daß seine womöglich noch vorhandenen Bedürfnisse in unbedingtem Gegensatz zu ihren liebevollen und sorgfältigen Interpretationen standen. Sinnvoller, ermutigender war es dagegen, davon auszugehen, daß sie mit ihrer kleinen Politik der Bedürfnisse ihm die Ausdrucksseite zurückgab, über die er selber nicht mehr verfügte. Erst seitdem sie es ihm unterstellte und bald einen halben, bald einen ganzen, ja manchmal sogar zwei Löffel auf dem Teller zurückließ, hatte er wirklich einen von Tag zu Tag unterschiedlichen Appetit. Von diesen künstlichen kleinen Restriktionen, die ihrer erfahrenen Ansicht nach ihrem Mann, ob begründet oder nicht, nur guttun konnten, war es dann noch ein gewaltiger Schritt bis zu der auf den ersten Blick völlig unspektakulären Umkehrung: daß er, wenn er an einem Tag auf ihre freundliche Unterstellung hin ein wenig gefastet hatte, am folgenden mit einem beträchtlichen Aufwand an kommentierenden Worten zwei Löffel mehr bekam. Es war wirklich ein gewaltiger Schritt, wenn er sich auch mehr in Worten als in Gramm niederschlug; denn die Menge der Mahlzeiten beträchtlich zu erhöhen, dazu fehlte ihr, der mittlerweile gewieften Ernährungsphysiologin, einfach der Mut. Aber auch so war das Unternehmen gewagt. Frau Klimt zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß ihr Mann nach einer solchen Mahlzeit mit einem unangenehmen Völlegefühl zu kämpfen hatte. Warum sie diese Prozedur dann nicht unterließ, die dem Patienten im Wortsinn nur Bauchschmerzen bereiten konnte, war eine dämliche Frage. Es war ja der Unterschied ums Ganze, die diffentia humana, der Unterschied zwischen Mensch und Patient, der hier in Frage stand. Auf möglichst kleiner Flamme, bei dauerhaft reduzierten Mahlzeiten leben, das konnte schließlich jeder. Aber Völlerei treiben, über den diätetisch vorgeschriebenen Appetit hinaus essen, das war etwas anderes, das war beinahe schon ein Ausdruck von Persönlichkeit.

In Venedig war immer Saison. An den Pfingsttagen gingen die Wellen des Tourismus förmlich über den Rollstuhl hinweg. Als der Hochsommer den Markusplatz leerte, gewöhnte Frau Klimt sich daran, ihren Mann täglich wenigstens für eine halbe Stunde in eine der zahllosen umliegenden Kirchen zu schieben. Dort war es wunderbar kühl. Sie schob den Rollstuhl vor ein berühmtes Bild, einen berühmten Altar, setzte sich selbst in eine Kirchenbank, und so blieben sie, bis etwas eine halbe Stunde verstrichen war. Auf diese Weise machten sie sich nach und nach mit den venezianischen Kirchenschätzen vertraut. Als es Herbst wurde und der Markusplatz unter dem erneuten Ansturm von Touristen schier zusammenbrach, dehnten Klimts ihre Kirchenbesuche sogar noch aus. Es war die Zeit der Konzertfestivals, und mehr als einmal wurden sie Zeugen von Proben oder sogar Generalproben, in deren feierlichem Verlauf Frau Klimt, und möglicherweise sogar ihr Mann, Krankheit und Sorgen vergaß. Beinahe wie Verschwörer kehrten sie nach solchen Extratouren verspätet in ihr Hotel zurück. Jetzt heißt’s beeilen, sagte Frau Klimt und schob den Rollstuhl auch nicht um einen Deut schneller als sonst; denn das war für den Gleichgewichtssinn ihres Mannes gefährlich. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, sagte sie, Sankt Markus hat schon geschlagen, du lieber Himmel, heute sind wir aber wirklich spät dran! Äußerlich mit allen Zeichen der Hast, in Wirklichkeit auch nicht eine Sekunde schneller als sonst, schob sie den Rollstuhl durch die Tür des Hotels und ging mit gemessenen Schritten zum Fahrstuhl. In ihrem Appartement angekommen, klapperte sie mit dem Löffel ein wenig heftiger als sonst und richtete die einfache, im Fertiggläschen erhitzte Speise an. Ihr Mann sollte ruhig merken, daß alles mit einer gewissen Hast geschah, daß sie es – warum eigentlich? – eiliger hatten als gewöhnlich. Er würde das Essen weniger sorgfältig zubereitet finden, ein wenig zu heiß vielleicht oder zu lau. Du mußt ja Hunger haben, sagte sie in dem freundlichen, gemessenen Ton, in dem sie immer mit ihm sprach; denn nach ärztlicher Vermutung faßte er, wenn überhaupt, dann nur sehr langsam auf. Du mußt Hunger haben, sagte sie, es ist ja beinahe eine Stunde später als sonst, und ausgerechnet heute früh hast du so wenig gegessen. Weißt du was, sagte sie fröhlich, während sie zu ihm herüberkam, und schlug die Speise mit dem Silberlöffel, daß sie Blasen warf, ich habe heute einfach eine Konserve warm gemacht – das tat sie freilich immer –, aber ich sage dir, es riecht wirklich appetitlich. Spinat, mmh, die Italiener verstehen das eben besser als wir. Ich habe eine italienische Marke gewählt, du wirst staunen.

Sie war noch einmal umgekehrt und hatte die vergessene Serviette von der Anrichte geholt, dabei fortwährend redend und den Spinat mit dem Löffel traktierend. Als sie sich umdrehte, wäre ihr allerdings der Teller beinahe aus der Hand geglitten. Sie sah es sofort, und das war auch keine Kunst; denn bei der absoluten Bewegungslosigkeit ihres Mannes war es wie ein Erdbeben, bei seiner absoluten Schweigsamkeit, seinem restlosen Verstummen war es wie ein lautes, ungehöriges Wort: Aufgeregt offenbar durch das appetitanregende Geklapper, die lebhaften Worte der Köchin zog zum ersten Mal überhaupt seit jener Operation der neue Mund die in unordentlichem Gekräusel um ihn gelagerten Lippen ein. Es gab ein leise schmatzendes Geräusch, als die Lippen beinahe vollständig in der Öffnung verschwanden. Frau Klimt sah regungslos zu. Sie ahnte, was jetzt kam, obwohl sie es noch nie gesehen hatte. Ebenfalls mit einem leisen Schmatzen stülpte der Mund die Lippen wieder aus. Noch einmal ließ sie es geschehen, sah atemlos zu, wie das Gekräusel verschwand und schimmernd vor Feuchtigkeit wieder zum Vorschein kam. Dann hatte sie sich gefangen. Es war auch keine Zeit zu verlieren. Sie sah es förmlich, wie im Magen ihres Mannes die Verdauungssäfte sich sammelten. Sie trat zum Rollstuhl, schlug den Spinat noch einmal kräftig durch und meinte, während sie den ersten Löffel in die neugeschaffene Öffnung schob:

Da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen bei so einem Spinat!

Venedig ist eine alte Stadt, natürlich. Womit ich nur sagen will, daß sie nicht behindertengerecht ist. Ihr absoluter Mangel an Autos ist vielleicht ihr einziger Vorzug, auch wenn der natürlich beträchtlich ist. Aber schon die Gondeln lassen zu wünschen übrig. Und erst die Paläste! Als der Herbst voranschritt, wurde Frau Klimt ein regelmäßiger Kunde der Leihbibliotheken. Sie arbeitete nach, was sie an Kunstschätzen in den Kirchen gesehen hatten, und informierte sich, was in den unzugänglichen alten Palästen lagerte. Stunden verbrachte sie in ihrem wunderschönen, leider nur mäßig geheizten Hotelzimmer über den Büchern, studierte das Kleingedruckte ebenso wie die Bildunterschriften und nannte nach ihrer Gewohnheit laut die Besonderheiten, die sie bemerkenswert fand. Stell dir vor, murmelte sie, das Bild in der …kirche, weißt du, wo wir neulich das Konzert gehört haben, das ist gar kein Tizian. Die Leute denken immer, daß es ein Tizian ist. Aber es ist gar kein Tizian. Ich habe doch auch gedacht, murmelte sie, daß es ein Tizian ist. Sie lachte leise und las angeregt weiter. Und hier steht, sagte sie und hob den Kopf und hielt mit dem Zeigefinger die Zeile fest, hier steht, daß das Bild daneben noch viel berühmter ist. Mir ist es gar nicht aufgefallen. Hast du gesehen, daß da noch ein Bild war?

Es war am hellichten Vormittag, beinahe haargenau zwischen Frühstück und Lunch, die Zeit, wo das Ehepaar Klimt jetzt regelmäßig studierte. Frau Klimt sah ihren Mann auffordernd an, so als erwartete sie von ihm eine Antwort. Er saß wie immer regungslos in seinem Sessel, die Augen teilnahmslos geradeaus gerichtet. In der Schlüsselbeingrube aber tat sich was. Frau Klimt hielt die Stelle zwischen den Mahlzeiten sonst immer bedeckt. Aber heute hatte sie ihrem Mann ein Hemd mit einem weichen Matrosenkragen angezogen, der ließ die künstliche Öffnung frei. Frau Klimt sah verdutzt, wie sich die Oberfläche kräuselte. Es war wie gesagt noch lange bis zum Lunch, und es war undenkbar, daß ihr Mann, bei dem ja einzig die angelernten Reflexe funktionierten, sich hierin irrte. Machte die Stelle das vielleicht immer so unter dem Hemd?

Frau Klimt hätte nie gedacht, daß es für sie an ihrem Mann noch etwas zu entdecken gab. Und sie hätte es auch nie verlangt. Erregung befiel sie, als sie sah, wie die künstlichen Lippen sich kräuselten. Sie vergaß den falschen Tizian und was daneben hing. Stumm, die Augen fest auf die sich kräuselnden Lippen geheftet, näherte sie ihren Finger, spürte prickelnd einen Moment, wie die senkrecht auf und absteigenden Wellen unter dem unvorhergesehenen Druck, der von diesem Finger ausging, sich brachen, und bot dann mit festen, nicht sanften und nicht harten Kreisbewegungen den unablässig sich kräuselnden Hautfältchen Widerpart.

So losgelöst von ihr schien Frau Klimt selbst die unablässige Bewegung ihres Fingers, so unabhängig und fremd gegenüber allem, was sie auf sich selbst bezog, daß sie kolossal überrascht war, als sie sich plötzlich mit dem ganzen Oberkörper über ihren Mann beugte, mit dem Zeigefinger gehorsam zur Seite wich und einen Kuß auf die jetzt beinahe noch höher als vorher gekräuselten Lippen drückte. Bis in die entferntesten Bereiche ihres Körpers spürte sie die selbständige Bewegung der anderen Lippen, und wieder spürte sie einen unwiderstehlichen Drang, ihre eigenen Lippen zu öffnen und mit ihrer Zunge, einer wohlgeformten, scharfumrissenen Sekretärinnenzunge, die Stärke des von den gegenüberliegenden Lippen ausgehenden Sogs zu erkunden.

Der Rest ist eheliches Geheimnis. Fest steht nur, daß, als der Zimmerkellner mit dem sauberen Geschirr für die Lunchvorbereitung erschien, Lotte mit hochroten Backen wie ein junges Mädchen aufsprang und sich mit abgewandtem Gesicht an der Anrichte zu schaffen machte, damit er ihre Erregung nicht bemerkte.

Stellen Sie es nur auf den Tisch, sagte sie heiser und mit trockener Zunge und schielte dann doch zu ihm hinüber, ob er nicht etwas merkte. Aber er merkte natürlich nichts.


 ← Zurück |  → Weiter

Zum Inhaltsverzeichnis

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt27.html.

Zur Textübersicht

© 1988 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.