Ilse Bindseil

Frühe Erzählungen

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Im Urwald sterben

Es gab ein Geräusch.

Ich verbarg mich in meinem Baum und spähte hinunter.

Sie kamen von links und verschwanden rechts in den Bäumen. Da mein Baum sich in nichts von den anderen unterschied, sahen sie nicht ein einziges Mal nach oben. Ich war mucksmäuschenstill. Aber die Kolonne war lang. Da sie im Gänsemarsch gehen mußten, nahm sie kein Ende. Ich hatte erst zu zählen angefangen, als etliche schon unter mir vorbeigegangen waren, und war ungefähr bei siebzig angelangt, als ich infolge einer unwillkürlichen Muskelerschlaffung den Ast losließ, an dem ich mich festgehalten hatte, und wie eine reife Frucht vom Baum fiel. Ich stürzte auf einen der letzten in der Kolonne und riß ihn zu Boden. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er sich unter mir hervorgearbeitet und warf sich auf mich. Ich sah noch, wie er die Faust hob. Dann schwand mir das vom Sturz und Schock verwirrte Bewußtsein.

Als ich zu mir kam, war ich allein. Es war Nacht. Der Urwald flüsterte. Mein Kopf dröhnte schwer. Ich fühlte mich krank. Auf die Füße drückte ein Bleigewicht. Ich warf mich herum und versuchte zu erkennen, wo ich war. Aber Urwaldnächte sind schwarz. Ich döste und wartete auf die Dämmerung. Wie der Tau fiel, drangen mir Gerüche in die Nase, die kannte ich nicht. Es war nichts Fremdes, nichts Menschliches, nichts Beängstigendes. Es war nur fremd, stark und süß, wie von falschem Jasmin. Wo mein Baum war, hatte es den Geruch von falschem Jasmin nicht gegeben. Es hatte vielfältig gerochen, nach allen Arten von Urwaldblumen und Verwesungsprozessen, nach dem Stoffwechsel der Natur. Manchmal in der Abenddämmerung oder morgens zwischen Tau und Tag, wenn ich poetisch gestimmt war, hatte ich mir gesagt: Es duftet. Ich kannte jeden einzelnen Geruch.

Den Geruch von falschem Jasmin kannte ich auch. Aber ich kannte ihn nicht aus dem Urwald. Bei meinem Baum hatte es nicht nach falschem Jasmin gerochen. Sonst war hier alles wie dort. Ich schlief ein. Ich fühlte mich krank. Die Natur forderte ihr Recht.

Als ich aufwachte, stand die Sonne schon hoch. Ich versuchte auf die Beine zu kommen. Aber es mißlang, oder es gelang mir schlecht. Mein Kopf war klar, aber mit meinen Füßen war etwas nicht in Ordnung. Wenn ich mich aufrichtete, knickte ich ein. Offenbar hatten sie etwas mit meinen Füßen gemacht, ehe sie mich zurückließen. Sie hatten mich meiner Bewegungsfähigkeit beraubt, bevor sie weitergezogen waren. Vielleicht hatten sie mir die Achillessehnen durchgeschnitten. Ich wußte da unten nicht so Bescheid. Wären sie nicht auf diese Lösung verfallen, hätten sie mich umgebracht, tröstete ich mich. Sie hatten einen Sinn für abgestufte Maßnahmen. Sie wußten, daß es reichte, die Sehnen durchzuschneiden. Sie mordeten nicht einfach drauflos.

Sie hatten sich davongemacht, und ich konnte sie nicht einmal bitten, mich zu töten!

Ich sah mich um und versuchte festzustellen, wo ich war. Offenbar hatten sie mich eine Strecke mitgeschleppt. Auf einer kleinen Lichtung hatten sie mich abgelegt, inmitten von blühenden Gräsern. Rings um mich schloß sich der Wald. Auf den ersten Blick konnte ich nicht erkennen, welchen Weg die Kolonne gekommen war, welchen sie genommen hatte. Unbeschädigt rankten sich Schlingpflanzen, wucherte, von keinem Fuß niedergetreten, das niedrige Gebüsch.

Das kann nicht sein, sagte ich laut. Sie waren zu mehr als siebzig Mann hier durchgezogen, und sie hatten mich mitgeschleppt. Sie waren an einer Stelle aus dem Wald gekommen, hatten mich abgelegt und waren an einer anderen Stelle wieder in den Wald gegangen. Es war nicht möglich, daß sie keine Spuren hinterlassen hatten. Aber ich fand keine.

Ich hatte jedenfalls schon zahlreiche Pflanzen zerdrückt. Wenn ich so weitermachte mit dem Umdrehen, Aufrichten und Einknicken, waren die Spuren im Handumdrehen beseitigt. Aber ich konnte es nicht ändern. So war jetzt nun mal meine Bewegungsart.

Als hätte ich es jahrelang geübt, rollte ich mich zusammen und landete wieder auf dem Bauch. Auf die Ellbogen gestützt, machte ich mich daran, die Lichtung abzusuchen. Vermutlich hatten sie alle erdenklichen Maßnahmen getroffen, um mich über ihren weiteren Marsch im unklaren zu lassen. Sie wollte mich nicht umbringen, aber sie wollten um jeden Preis verhindern, daß ich ihnen folgte. Ratlos musterte ich den Urwald. Er sah unberührt, unbewohnt, in jeder Hinsicht jungfräulich aus. Aber vermutlich war hinter dem Vorhang aus Schmarotzern, den in kräftigem Grün leuchtenden Girlanden, alles zertrampelt.

Bevor ich den Rand der kreisförmigen Lichtung erreicht hatte, war ich erschöpft. Wenn ich weiter den Detektiv spielen wollte, mußte ich essen und trinken. In meinem Baum hatte ich mir eine schöne Vorratskammer angelegt, aus geretteten Sachen und gefundenen. Zu meinem Baum wollte ich zurück, zu meinen Sachen und zu der kleinen Zisterne, in der das Wasser tagelang kühl und frisch blieb. Ich wollte hier nicht liegenbleiben und verdursten.

Ich leckte den Tau ab, wo ihn die Sonne noch nicht aufgetrocknet hatte, und dachte an meinen Baum. Ich hatte ein paar schöne Vorräte angelegt, auch Kaugummi, Streichhölzer und Papier. Ich wußte nicht, was von den dreien am wichtigsten war, die Streichhölzer, das Kaugummi oder das Papier. Nichts war lebensnotwendig, nicht einmal die Hölzer. Ich kochte nicht. Ich wärmte mich nicht. Ich brauchte die Streichhölzer zum Rauchen. Ich hatte Blätter entdeckt, die machten einen wunderschönen Rausch. Ich trocknete sie und rollte sie zu gelbbraunen, splittrigen Zigarren. Sie machten einen wunderschönen Rausch. Dann träumte ich von früher. Ich erinnerte mich. Aber ich erinnerte mich ohne Gram, und ich hatte hinterher keine Beschwerden. Manchmal kam mir der Gedanke, ich sollte die Streichhölzer abzählen, ich sollte sie mir einteilen, damit sie bei einer mittleren Lebenserwartung reichten. Aber ich hatte mich nicht dazu entschließen können. Jetzt war ich froh, daß ich nicht so streng mit mir gewesen war.

Ich glaube, ich bin eingeschlafen. Ich war so haltlos. Aber wie ich aufwachte, wußte ich gleich, daß es kritisch war. Ich lag in der prallen Sonne, und die Zunge klebte mir am Gaumen. Wie leicht hätte ich meinen Kopf in den Schatten betten können! Aber so war ich halb vertrocknet, und der Schädel brummte.

Ich erhob mich auf die Knie und wartete, bis das Schwarze vor meinen Augen verschwand. Dann sah ich mich um. Unzählige unsichtbare Wege führten in den Urwald. Wie sollte ich da meinen Baum finden?

Ach was, sagte ich mir entschlossen, ich gehe einfach los.

Aber ich konnte nicht gehen. Langsam kam es mir zu Bewußtsein, daß ich nie mehr würde gehen können. Und mein Baum? Wie kam ich da hinauf? Ich versank in Träumereien und sah mich schon mit riesenhaft ausgebildeten Schultern, mit Armen, lang wie bei einem Gorilla, und Pranken, die nicht losließen. Die Beine würden verkümmern. Aber was tat es? Der Körper wurde nur leichter davon, und es fiel mir leichter zu schwingen.

Ich war schon wieder eingeschlummert. Vielleicht hatten sie mir eine Droge gegeben. Der Gedanke überfiel mich und leuchtete mir sofort ein. Wie war es sonst möglich, daß ich mich so auf den Tod zutreiben ließ, so widerstandslos und vergeßlich?

Ich hielt still und horchte nach innen. Ich versuchte noch etwas von der Droge zu erhaschen. Ich muß gestehen, ich war ganz wild auf das Zeug. Bevor ich damals meine Blätter gefunden und mir die schönen trockenen Zigarren daraus gedreht hatte, war ich gänzlich ohne Hoffnung gewesen. Ich kann gar nicht sagen, wie hoffnungslos ich war. Aber das war anders geworden, nachdem ich die Blätter gefunden hatte. Ich hatte eine Freude, einen Genuß. Und in mein Leben war so etwas wie eine Sorge gekommen, eine Regelmäßigkeit, eine Arbeit, so etwas wie ein Ernte-Gedanke, ein ernsthaftes Bemühen um das Sammeln und Trocknen der Blätter, ein Bewußtsein von der kostbaren Seltenheit dieser Pflanze.

Manchmal hatte ich der seltsamen Tatsache nachgesonnen, daß mir etwas teuer war, ohne daß ich es mit jemandem teilen, ohne daß ich es jemandem wegnehmen mußte, nur weil es meinen Tag verschönte, weil es ihm eine Einteilung, einen Höhepunkt verschaffte. Genauso war es nämlich.

Jetzt dachte ich schon wieder an den Rausch, und meine Blicke strichen lauernd über das Grün. Vielleicht ließen sich die Blätter kauen, wenn ich sie nicht rauchen konnte. Ich würde die Sammelleidenschaft, den Eichhörnchentrieb ablegen und mich mit einem regelmäßigen kleinen Genuß zufriedengeben. Aber zuerst mußte ich Wasser finden. Wenn sie mir etwas verabreicht hatten, dann hatte es die Flüssigkeit in meinem Körper aufgebraucht. Das war bei allen Drogen so.

Und was ich nie gedacht hatte: ich überwand die Furcht, den richtigen Weg zu verfehlen, und drang an einer beliebigen Stelle in den Urwald ein.

Drinnen war es schattig und kühl. Ich war dem Urwaldboden noch nie so nahe gewesen. Ich kroch förmlich auf dem Bauch und warf einen scharfen Blick über das Moos. Es war feucht hier, wo die Sonne nie hindrang. Ich brauchte nur zu wählen, ob ich den Mund auf das Moos pressen oder lieber einen von den vollgesogenen Stengeln zerkauen wollte. Ich wollte gern auf beides verzichten. Aber es war gut zu wissen, daß es die Feuchtigkeit gab.

Ich machte eine Pause, um zu verschnaufen, rollte mich auf den Rücken und sah in die Wipfel. Nie wieder würde ich da mit meinen kaputten Füßen hinaufkommen. Aber der Urwald war fruchtbar. Neben den Stämmen wuchsen dünne Sprossen aus der Erde, mit hellen Blättern auf zarten Stengeln. Von denen konnte man kosten. Sie hatten es eilig gehabt. Sie verschmähten den langen Weg durch den Stamm. Und sie waren besonders zart. Vor Tieren fürchtete ich mich nicht. Ich fühlte mich nicht beobachtet. Ich wußte, daß sich niemand hinter den Bäumen verbarg. Es war sinnlos, so etwas zu denken. Man mußte realistisch sein. Gefahr war selten. Sie kam vor. Aber sie war selten. Eine Gefahr hatte ich gerade überlebt. Ich wußte, wie lange es vermutlich dauern würde, bis sich wieder die Gelegenheit ergab.

Ich kostete von den dünnen Sprossen neben mir, lag auf dem Rücken und biß ab. Sie waren zart und enthielten viel Flüssigkeit. Natürlich nicht entfernt genug, um den Durst zu löschen. Immerhin bekam ich wieder Spucke in den Mund und genug Kraft, um meinen Weg fortzusetzen.

Ich kroch eine Weile, ohne anzuhalten. Die Gegend, wenn ich das so nennen darf, war mir fremd. Natürlich konnte es auch sein, daß ich sie aus dieser ungewohnten Perspektive nur nicht erkannte. Jedenfalls war mir klar, meinen Baum fand ich nicht wieder. Aber die Erkenntnis traf mich schon nicht mehr. Ich hatte mich von jeder Sehnsucht getrennt. Auch den Verlust des Feuers hatte ich bereits verschmerzt. Im Gegenteil, mit dem Feuer ist es eine vertrackte Sache. Das Feuer stellt den Anfang einer unendlichen Kette von Bedürfnissen dar. Wärmt es einem den Bauch, friert man im Rücken. Besser, man fror auch am Bauch. Besser, man hatte kein Feuer.

Ich hatte kein Feuer, und ich kroch auf dem Bauch. Wäre ich zu Hause gewesen, ich hätte gesagt, daß es Fichtennadeln waren, die den Waldboden federnd und warm machten. Aber ich wußte, hier war es etwas anderes. Ich steckte die Nase in den Boden und schnupperte. Es roch wie von leuchtendem Holz. Es roch schon kühl. Feuchtigkeit kroch mir unter den Bauch. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Ich mußte essen, trinken und mir einen Schlafplatz suchen.

Ich fand alles. Wasser in langen, hohen Blütenkelchen, aus denen es giftig nach Maiglöckchen roch, ein Kraut, das ich bereits während meiner Baumexistenz zu essen gelernt hatte, und ein paar glühende Beeren, in denen sich eine alkoholisierte Flüssigkeit bewahrt hatte, wohl noch vom vorigen Jahr, und die mir zu einem tiefen Schlaf verhalfen. Dankbar für die Beeren schlief ich ein.

Ich erwachte vom Prasseln des Urwaldregens. Ich preßte die Hände zusammen, und die Tropfen sprangen aus ihnen heraus. Ich schlürfte das Wasser von den großen Blättern, hielt das Gesicht darunter und wartete, bis der Regen sie kippte. Als die Sonne durch die Bäume brach und der Wald anfing zu dampfen, dampfte ich auch.

Es war mitten in diesem Wohlbehagen, daß ich die Stelle an meinem Knöchel entdeckte. Sie war schon ziemlich groß. Da mir mein Fuß, abgesehen von einem dumpfen Druck, keinerlei Schmerzen bereitete, war ich sie mehr oder weniger durch Zufall gewahr geworden. Sie war schwärzlich-violett, leicht pochend und böse. Sie war das, was man eine Schwäre nennt. Und sie war schlimmer. Ich hätte mir, ohne zu zögern, den Fuß abgehackt, hätte ich nur ein geeignetes Instrument besessen und hätte mich die Frage des Blutstillens nicht schon in der Vorstellung vor unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt. Ich betrachtete die Stelle und wußte, das war übel.

Von nun an war meine Aufmerksamkeit geteilt. Nach außen hin betrieb ich meine Erhaltung nach wie vor mit Tatkraft und Umsicht. Ich schlief ordentlich und gab acht, daß ich genug zu essen und zu trinken hatte. Die Gegend war mir nur noch halb fremd, noch immer voller Neuigkeiten und Überraschungen, aber ohne Bedrängnisse. Ich emanzipierte mich von meinem Baum. Ich bewies meine Lebensfähigkeit. Ich bewies, daß ich ein neuer Mensch geworden war oder besser: ein neues Wesen. Wobei ich nicht an Robinson denke, keineswegs, sondern an wirklich neue Gewohnheiten. Wenn ich aber auf mein Fußgelenk sah, und das geschah nicht gerade ununterbrochen, aber immer häufiger in dem Maß, in dem sich das Übel verschlimmerte, packte mich ein Gefühl der Ohnmacht. Da war etwas, das war wie ein Einspruch. Das setzte meine ganzen wunderbaren Fähigkeiten außer Kraft. Mochte ich mich an alles gewöhnen, an die extreme Einsamkeit, die Isolation von allem, wofür es sich zu leben lohnte, und jetzt auch an das neue Leben auf dem Baum – da war etwas, das gewöhnte sich nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten und die beiden Hälften meines merkwürdigen Lebens so lange gegeneinander zu halten, bis es zur Entscheidung kam.

Allmählich kam ich in Not, und ich richtete meine Gedanken auf das Ende. Es war jetzt dringender als je, daß ich die Blätter fand. Ich wollte nicht ohne Betäubung sterben, und ich konnte die Ruhepausen, die mir immer notwendiger wurden, nicht in gehörigem Maße ausdehnen, ohne daß ich etwas hatte, was mich beruhigte. Zufallsfunde wie die Beeren in jener ersten Nacht waren himmlisch, und die Freude, die ich darüber empfand, war sicher nicht zu vergleichen mit der Zufriedenheit über eine verfügbare Menge. Aber ich hatte keine Nerven mehr für die Ungewißheit, und auch die große Freude war mir im Grunde zuviel. Was ich brauchte, war die abgemessene Dosis. Ich wollte es sagen können, wenn ich nicht mehr konnte. Aber das konnte ich nur, wenn ich etwas hatte.

Ich durchkämmte den Urwald. Ich sah nur nach den Blättern. Manchmal kostete ich von einer Pflanze, die mir vielversprechend und ähnlich schien. Dadurch hatte ich manche Übelkeit auszustehen, die mir vor lauter Schwäche und Magenzittern zu einem Zustand rauschähnlicher Benommenheit verhalf. Aber ich gab mich mit dieser Sorte Rausch, dieser Benommenheit, nicht zufrieden. Ich wollte mehr. Ich wollte nicht einfach krepieren. Zwar hatte ich mir ein tödliches Leiden zugezogen. Aber worin unterschied dieses Leiden sich von den Problemen, mit denen ich tagtäglich fertig werden mußte? Darin, daß es tödlich war, natürlich. Aber da der Tod nicht augenblicklich eintrat, gab es keinen Grund, ihm anders zu begegnen als dem Leben. Daß es schwierig werden würde, wußte ich auch. Aber es war bislang nicht eben einfach gewesen. Vor allem mußte ich mich rechtzeitig auf die zu erwartenden Komplikationen einstellen. Das hieß, ich brauchte die Blätter.

Ich fand sie. Ich erkannte den Strauch gleich wieder. Er war üppig und trug Blätter, wie ich sie in der Größe und Fülle noch nie gesehen hatte. Da, wo ich vorher gelebt hatte, bei meinem Baum, waren sie immer rar gewesen. Die Sträucher gediehen nicht unter den Bäumen, und sie erstickten halbwegs in der Umklammerung durch die vielarmigen Schmarotzer. Dieser hier stand frei, und die Blätter erreichten ein Mehrfaches der mir bekannten Größe. Vorsichtig pflückte ich ein Blatt.

Ein neues Leben begann. Ich wurde rapide schwächer. Ich spürte keinen Hunger mehr, und ich schlief zuviel und kam in der verbleibenden Zeit nicht an das nötige Wasser. Ich gewöhnte mich an ein geringeres Quantum, aber ich glaube, insgeheim verdurstete ich bereits. Dabei war es nicht so, daß ich zu den Blättern gegriffen hätte, wann immer mir meine Probleme zuviel wurden. Es war beispielsweise nie so, daß ich mich betäubte, weil ich nichts zu trinken hatte. So war es nie. Ich genoß vielmehr die Entspannung, die sich beim Kauen der Blätter einstellte, und vergaß darüber den Durst. Als ich mich nicht mehr aufrichten konnte, hatte ich längst jedes Bedürfnis verloren.

Dabei war ich reinlich, verscharrte den Unrat mit den Händen und rückte langsam um meinen Strauch herum. Nicht daß ich den Tod für eine Erlösung gehalten hätte. Aber er war wichtig. Bislang hatte ich gut für mich gesorgt. Ich hatte nichts verschenkt. Ich hatte nicht aufgegeben. Jetzt war er an der Reihe. Er brachte etwas. Er war wie eine Zukunft. Und er kam von allein. Er machte mir das Leben leicht. Angewärmt bis in die Fingerspitzen, von einem lebendigen Gefühl meiner selbst erfüllt, lag ich neben dem Strauch und wartete auf den Tod. Ich sah ihn kommen.


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