Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich den Freunden meinen Platz in der Hölle erklärte

Mein Platz war am Rand, sagte ich, hoch ragte ich auf vor den wie auf Seerosenblättern schwimmenden Teufeln.

Also, überlegte ich, mußte es in dem Maß, wie es in die Hölle hineinging, in ihr bergab gehen. Oder es lag lediglich daran, daß sie saßen und ich stand.

So wie der Baum hier vor Ibrahims Laden steht, sagte ich lachend und wies auf die Linde, die von kugeliger Gestalt war, Inbegriff eines Baums, wie ihn ein Kind malt oder wie Matisse ihn gezeichnet hat, seiner eigenen Anweisung Folge leistend, vom Baum auszugehen, wenn man ihn malt, das heißt vom Ganzen des Baumes. Mit einer Dorflinde hatte Ibrahims Baum nichts gemein. Nichts an ihm erzählte von Jahrhunderten. Alles andere als ein Bäumchen, war er zwar fertig, aber zierlich. Er hatte jedes einzelne seiner Blätter in die letzte Jahreszeit hinüberretten können, nicht damit diese traurig und verdorrt an den Ästen baumelten, ein Gerüst für den Schnee, gespenstische Statthalter für das kommende Grün, sondern damit sie, jedes einzelne für sich, reiften.

Gehe ich davon aus, sagte ich, daß Matisse in seiner Demut begriffen hat, was den Baum ausmacht und zu ihm gehört, dann wundert es mich nicht, daß er ihn in seiner Allgemeinheit wie auch in seiner Einzelheit getroffen hat. Da war nichts zwischen ihm und dem Baum, was das Verständnis beeinträchtigte. Wenn die Blätter sich von grün zu gelb gewandelt haben, auf diese Weise zum goldenen Herbst beitragend, fallen sie ab, das heißt, sie schweben zu Boden.

Ich teile mit dem Baum die Hellhaarigkeit, ergänzte ich lachend.

Das Helle lauert in den Rippen. Wären wir nicht zu bequem, die Blätter in Augenschein zu nehmen, wir könnten uns beizeiten daran gewöhnen. Der Baum wandelt sich unbemerkt, aber die Wirkung grenzt an ein Wunder.

So haben wir es am liebsten, sagte ich, wenn wir etwas verstehen könnten und tun es trotzdem nicht. Dann dürfen wir uns wundern und brauchen uns nicht zu ängstigen.

Ich kämpfte einen Augenblick mit der Verstimmung, die mich überfallen wollte, aber als ich sah, daß meine Bemerkung nicht die geringste Beklemmung hervorrief, ja womöglich weder gehört noch verstanden worden war, setzte ich meinen Traumbericht fort.

Zuerst glaubte ich, daß wir alle nur eine dekorative Rolle spielten, so wie der Baum. Aber im Grunde war das noch von uns, in Ibrahims Café, her gedacht. Denn von der Hölle in meinem Traum dachte ich gar nicht. Sie war, und ich, als eine stumme Gestalt, in ihr. Ich hatte mich tapfer hineingewagt, aber ich war nicht in sie eingedrungen. Eine unklare Macht hielt mich auf, bannte mich in den Vordergrund. Die Hölle brauchte mich nicht, das war der vorherrschende Eindruck, an den ich mich erinnern kann. Er war unangenehm, dabei handelte es sich doch um die Hölle. Aber so, als würde mir ein Stück vom Kuchen des Lebens vorenthalten, kam es mir vor, oder vom Leben der Kuchen. Wie ich es auch angestellt hätte, ich konnte mich ihr nicht unentbehrlich machen. Ob sie aber euch, liebe Freunde, in dem Maß brauchte, wie sie mich nicht brauchte, das stand nicht zur Debatte. Für mich wart ihr die Hölle. Wie sollte sie euch da noch eigens brauchen müssen. Ich könnte es auch so ausdrücken, ich war eigentlich gar nicht anwesend, gehörte ich doch mit Leib und Seele zur Erde mit ihrem Tagesgeschäft, steckte noch bis zum Hals voller Erinnerungen, Urteile und Vergleiche. Wie sollte ich es da in die Hölle schaffen? Nur die Beine hatten sich vorgewagt, der Mund brachte nicht einmal ein Hallo zustande. Ihr hattet euch wie die Blätter gewandelt, oder ihr und die Szenerie wart ein Baum. Ich dagegen war einem Bittsteller gleich in der Nähe der Eingangstür steckengeblieben, hatte mich kaum über die Schwelle gewagt, ein Schatten mehr als ein Mensch, nicht einmal ein Teil des Dekors, bestenfalls eine Kulisse.

Ich dachte, das läge an meiner Schüchternheit, aber die andern wußten, es lag an meiner Halbherzigkeit, daran, daß ich nicht mit reiner Seele gekommen war.

Sandmann, der wie stets zunächst den Ausschnitt der Straße genoß und sich sodann erst der Räumlichkeit zuwandte, machte uns darauf aufmerksam, daß der Baum ein paar hundert seiner Blätter schon entlassen hatte. Ganz oben zeigte er bereits eine kahle Stelle, wie eine Tonsur.

Rund war die Hölle, schön war sie allzumal. Was aber rund ist, das öffnet sich nicht, läßt niemand hinein. Entweder die Rundung wäre nicht vollkommen gewesen, oder hinterher könnte es nicht mehr rund sein. Hoch ragte ich auf wie ein Stamm. Ich wußte, ich hätte mich rund machen sollen. Aber es war doch die Hölle!

So war ich doppelt unglücklich, weil sie mich nicht wollte und weil ich sie nicht wollen konnte. Die andern hatten ihren Eintritt vollzogen, ich wußte nicht, wie. Sie hatten einen Beitrag entrichtet, der bewies, daß sie es ernst meinten mit ihr, und ebenso ernst meinte sie es jetzt mit ihnen. Der Mann der Unterwelt trieb den Obolus ein, so kam es mir vor, deshalb schlenderte er von einem Seerosenblatt zum andern. Zugleich verteilte er, was man als Quittung betrachten und als Ausweis verwenden konnte. In meine Nähe kam er nicht, und ich bekam logischerweise gar nichts. Der gefallene Engel bekam um so mehr, was mich bekümmerte. Zugleich schien mir, daß die andern – ihn bekamen. Dadurch brauchten sie weniger, und deswegen bekam er das Doppelte. Was den Oberteufel anging, so wirbelte und waberte er auf seinem Seerosenblatt hin und her, daß es den Anschein hatte, als habe er Tentakeln, die nach allen Seiten ausgriffen, und bediene sich für alles, was er zum Leben brauchte, direkt aus der Luft.

Ich will auch etwas, sagte ich in meinem Traum. Aber vergeblich.

Ich wußte, der Engel der Unterwelt mochte mich nicht. Für Mummenschanz, Versteckspiel, So-tun-als-Ob war er zu hölzern, in der elementaren Bedeutung des unfertigen Werkstücks, einfach zu wenig durchgebildet. Für ihn handelte es sich kurz und knapp um die Hölle. Wer es nicht ernst mit ihr meinte, hatte in ihr nichts verloren. For members only schien sein insolenter, zugleich in einer gefühllosen Weise nach innen gekehrter Blick zu sagen. Der Eintrittspreis war offensichtlich hoch. Warum sollte ein unbedarftes Wesen wie ich ihn entrichten, und warum sollte ich, ein in jeder Hinsicht blauäugiges Kind, so mir nichts dir nichts hineingelassen werden? Was wollte ich in der Hölle, wenn ich die Hölle gar nicht wollen konnte!

Auch wieder wahr, warf der Schwabe, ein. Wer etwas begehrt, mußte bereit sein, etwas dafür zu geben, aber nicht irgend so ein Ding, gegen Gold etwa bloß seinen guten Willen.

Ich weiß, sagte ich ungeduldig, es muß im Grunde dasselbe sein.

Er lachte.

For devils only, hätte es heißen müssen, sagte er. Wenn du den Traum wieder träumst, ändere das bitte. Ich bin einmal …, er wollte eine Anekdote aus seinem ausgedehnten Reiseleben beisteuern, aber ich fiel ihm ins Wort und redete mich sogleich in Hitze.

Ich hatte Vorleistungen erbracht, sagte ich, und zwar reichlich. Ich hatte gegeben, bevor ich überhaupt etwas bekommen konnte. Die Hölle strengte mich an. Sie bloß zu betreten, dafür hatte ich eine Aufwandsentschädigung verdient, von Respekt gar nicht zu reden. Ein Lächeln, ein Willkommen hätte dem ersten Mangel abgeholfen. Blieb es aus, war ich seelisch unterernährt, für Stunden auf Entzug. Du siehst müde aus, sagte der Sonnigste unter den Teufeln, der wohl zu reichlich in den gelben Baum geblickt hatte, und erkundigte sich, ob mir das Tagesgeschäft zuviel wurde, das ewige Gerenne. Ich war ja mit allen Lebensgeistern im Minus.

Du hast dich im Traum unterhalten? fragte Ibrahim ungläubig.

Nein, sagte ich verwirrt, es wurde gar nicht geredet.

Ich träume nie, stellte der Schwabe fest. Der Satz fiel wie ein Stein in unsere lebhafte Unterhaltung.

In der Hölle, fuhr ich hastig fort, ging mir die böse Bedeutung des freundlichen Wortes »Besucher« auf, die heimtückische Beimengung des zauberischen: Gast. Womöglich bedeuteten sie nichts anderes, als daß man sich verirrt hatte. Man hatte den Himmel gesucht, wie man so sagt, und war in der Hölle gelandet.

Ich stockte, zweifelnd, ob ich bei der Wahrheit bleiben und mich verraten oder die Lüge um eines behaglichen Inkognito willen in Kauf nehmen sollte. Bis hier war alles relativ harmlos gewesen. Aber jetzt wurden eindeutig die Traumgrenzen überschritten.

Dabei hatte ich gar nicht den Himmel gesucht, sagte ich stur. Noch nie in meinem Leben hatte ich auf die Wahrheit verzichtet, und ein einziges Mal wollte ich auch sagen, daß ich das Ganze hier nicht angezettelt hatte.

Was aber die Hölle angeht, sagte ich, so war ich ihr gerade erst entkommen.

Jetzt war es heraus. Ich mochte zwar niedlich und blauäugig sein, aber ich kam auch nicht aus dem Nichts.

Ich gebe zu, sagte ich, diese hier war anders: eindeutig nicht meine. Gelegentlich pflegte ich mir nämlich zur Aufbesserung meines Lebensgefühls eine kleine Hölle zu zimmern, und auch das konnte schon entsetzlich aus dem Ruder laufen. Aber diesmal war es die Hölle der andern.

Ich sagte:

Daran, daß es die Hölle der andern war, lag es, daß ich sie für einen Augenblick mit dem Himmel verwechselte.

Außerdem bin ich ein zutraulicher Mensch, sagte ich, und alles, was nicht ich ist, ist mir so nah wie andern sie selbst. Man kann auch sagen, setzte ich um der puren Deutlichkeit willen hinzu, ich bin ein haltloser Mensch. Jedenfalls, daß ich in der Hölle der andern nichts zu suchen hatte, das war die Hölle für mich. Davon abgesehen, war es die Hölle.

Du konntest gehen, wann es dir beliebte, sagte Ibrahim, du hättest nicht kommen müssen.

Das war sein Credo, der Kern seiner Philosophie: daß die Tür offen war. Ich nickte zu ihm hinüber. Das mag so sein, sagte ich, aber im Traum funktionierte es anders. Entweder die Tür war zu, oder sie kam nicht in Betracht. Jedenfalls stand ich da wie ein Esel, scharrte mit den Hufen und rührte mich nicht.

Weißt du, Ibrahim, sagte ich, es stand einfach nicht in meinem Belieben. Beliebt hätte es mir, wenn ich hätte bleiben können. Wenn es meine Hölle gewesen wäre.

Dann wäre sie der Himmel für dich gewesen, sagte Josh. Die eine Hand geschäftsmäßig in der Hosentasche vergraben, wie immer, hatte er lediglich von der Zeitung aufgeblickt und las schon wieder an seinem Artikel.

Das verstehe ich nicht, sagte der Schwabe und holte aus. Ich fiel ihm ins Wort.

Hätte ich die Hölle nicht als Gast, sondern gewissermaßen als Mitglied betreten – dabei waren mir ja nicht einmal die Aufnahmebedingungen bekannt! –, das höllische Schicksal des Besuchers, aber sonst wäre mir nichts erspart geblieben, sagte ich, nicht die abscheuliche Vertraulichkeit des Mannes aus der Unterwelt, die allen außer mir galt und die ich darum schärfer als alle empfand, nicht die Regentschaft des Oberteufels, den man lieben mußte, damit man ihn ertragen konnte, und nicht die unauslotbare Tiefe des Raums, die sich womöglich einem physikalisch erzeugten Trugbild, der trivialen Mischung aus Dunkel, Abschüssigkeit und Schweigen und keineswegs etwa einer metaphysischen Unendlichkeit verdankte. Trat nicht ab und zu jemand aus dem Hinter- in den Vordergrund, so wie man vom Klo zurückkommt? War die Hölle hinten also überaus konkret und nur vorne ins Geheimnisvolle abgedriftet?

Ein wenig kam es mir doch so vor, als wäre ich ein Mitglied wie jeder andere, allenfalls ein Neuling. Daß ich den Mann der Unterwelt vom ersten Moment an als meinen Feind auffaßte, um nicht zu sagen als meinen Gegenspieler, und mir einbildete, er hätte sich Vorstellungen über mich gemacht, zeugt ja nicht von einer kritischen Einstellung, lediglich von Unkenntnis der in der Hölle herrschenden Gesetze. Wenn aber der Besuch in der Hölle zu irgend etwas taugt, dann dazu, den Schleier aus Eitelkeit und Selbstüberschätzung zu zerreißen, der den Blick auf die eigene Person verstellt. Ist er zerrissen, sieht man – andere Leute. Auch wenn ich, wie ihr gemerkt habt, vom Engel der Unterwelt nichts wissen wollte und er nichts von mir, so war ich mir des Unterschiedes zwischen seinem Verhalten, in dem sich Tatsachen, und meinem, in dem sich Urteile verkörperten, wohl bewußt. Und auch wenn mir der Oberteufel auf die Nerven ging, weil er wie kein anderer die natürliche Zugehörigkeit, mehr noch die natürliche Berechtigung zur Zugehörigkeit verkörperte, so respektierte ich ihn doch zugleich.

Natürliche Berechtigung zur Zugehörigkeit: das meinst du nicht im Ernst, sagte Josh.

Natürliche Berechtigung, sagte ich, beruht darauf, daß der Berechtigte verkörpert, wozu er berechtigt ist. Kurz, zwischen es und ihn paßt kein Löschblatt. Und ob das, wozu er berechtigt ist, ohne ihn überhaupt existiert, also ob er oder es den größeren Anteil an der Zugehörigkeit hat, ist mehr als zweifelhaft. Wer weiß, vielleicht wäre die Hölle ohne den herumhampelnden kleinen Gott auf seinem Blatt ja wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Wenn er sich ein Häuschen in Irland gekauft, sich einer indischen Sekte angeschlossen oder einfach das Revier gewechselt hätte, vielleicht hätte man in kürzester Zeit nicht mehr gewußt, was es mit der Hölle auf sich hatte. Vielleicht hätte man es nicht mehr rekonstruieren können, selbst wenn man sich zusammengesetzt und darüber geredet hätte.

Du redest einer seltsamen Symbiose von Ort und Person das Wort, sagte der Schwabe. Juristisch unerheblich, aber menschlich nicht uninteressant.

So wie er auf seinem Seerosenblatt herumhampelte, sagte ich, haßte ich ihn, wie ein Lehrer einen Schüler haßt oder ein Gefreiter einen von den Regeln unangefochtenen Rekruten oder irgend jemand irgend jemanden, den er einfach nicht erreicht. Klug wäre es gewesen, sich von ihm abzuwenden. Es war sicherer. Obwohl ich glaube, daß er selbst das noch bewirkte. Er wollte dann eben seine Ruhe haben. »Ein schöner Rücken kann auch entzücken«, war ein Lieblingsmotto von ihm. Da er von Anhängern und Verehrern förmlich umlagert wurde, brauchte er einfach die eine oder andere Lücke.

Schließlich war er es, der den Odem spendete, sagte ich. Von den Fliehkräften, die sein Seerosenblatt zum Karussell machten und ihn jederzeit aus der Hölle tragen konnten, gab er den andern gerade so viel ab, daß sie sich belebten, zugleich so wenig, daß sie auf ihn als der Quelle ihrer Lebendigkeit angewiesen blieben. Bei aller Abneigung achtete ich ihn, weil ich mir gewissermaßen der Golddeckung dessen bewußt war, was als vollendete Gaukelei erscheinen mochte und zweifellos vollendete Manipulation war. Seine Rechnung war Geltung gegen Leben. Damit die Hölle zustande kam, hampelte er, auf seinem Blatt, sich um Kopf und Kragen.

Ibrahim lächelte besorgt. Insiderwissen erkannte er mit der Sicherheit des Insiders. Er stellte ein Glas mit einer homöopathisch bemessenen Dosis Brandy neben den Kräutertee aus tausend unbekannten Ingredienzien.

Du redest zuviel, sagte er, und deutete die abschaltende Gebärde aus der Gehörlosensprache an, mit der er gelegentlich die Suada seines Bruders unterbrach.

Erhol dich, hieß die Geste, hör den andern zu.

Ich schwieg, zu meiner eigenen Verwunderung mehr folgsam als beschämt, und ohne das übliche Schuldgefühl.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.
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