Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich meinen Freunden mein Verhältnis zum Tier erklärte

Ich hatte Ibrahims Hilfe öfter in Anspruch genommen, wenn ich seinen Hund streichelte und nicht mehr aufhören konnte, weil der in seiner hingebungsvollen Entspanntheit nicht den kleinsten Anhaltspunkt für eine solch einschneidende Tat bot. Wenn wir zusammen gestreichelt hatten, meinte ich, mußten wir auch zusammen aufhören. Er aber spielte nicht mit.

Ibrahim, rief ich in meiner Verzweiflung von halb unter dem hintersten Tisch: Mach mal!

Was, fragte er verwirrt.

Ks ks, sagte ich ungeschickt.

Ibrahim machte es auf seine eigene Art, den einen Laut in der einen, den andern in der andern Backe erzeugend. Der Hund, der sich bei meinem Nachahmungsversuch nicht gerührt hatte, sprang wie von der Tarantel gestochen auf, und die Streichelstunde war beendet.

Nicht nur ich fand, daß das Tier von Tag zu Tag schöner wurde. Ibrahim berichtete mir davon nicht ohne Stolz, vielleicht auch, weil ich mir auf meine besondere Beziehung nichts einbilden sollte, vor allem aber wie von einer feststehenden Tatsache, mit der er selbst wenig zu tun hatte, die er lediglich übermittelte. Für ihn handelte es sich einfach um einen Hund.

Ibrahim kann sich mühelos vom Tier unterscheiden, erzählte ich abends, als ein Bekannter von ihm mit einem Hund aufkreuzte, der so lang wie das Café breit war, so daß es unmöglich schien, von etwas anderem als von Hunden zu reden. Ich bin da weniger sattelfest, gab ich zu.

Ibrahim hatte bei seinem Namen aufgeblickt. Er ging hin und her und räumte seinen Laden auf, als wollte er ihn morgen übergeben – eine furchtbare Vorstellung, fand ich.

Ich erzählte, daß es unmöglich für mich war, mit einem Tier umzugehen, ohne mit ihm zu sprechen. Und daß ich außerstande war, in einer anderen Sprache mit ihm zu reden als in meiner. Sobald ich aber in meiner Sprache mit ihm redete, verwischte sich nicht nur der Unterschied zwischen ihm und mir, sondern ich selbst wurde zum Tier, es seltsamerweise zum Menschen. Manchmal, wenn ich Ibrahims Hund streichelte, sah ich ihm in die Augen, so wie man es genau nicht tun soll. Natürlich sah er nicht weg. Keine Spur von Überforderung. Im Gegenteil. Ich streichelte nicht den mir genüßlich hingestreckten Bauch, sondern die Pfote, und er zog sie entrüstet zurück, hob neugierig den schläfrigen Kopf und lachte.

Ich lache ihn an, sagte ich, und er lacht mich aus. Das ist ein haltbares Modell.

Ich erzählte von dem Film »Gorillas im Nebel«, den ich erst kürzlich wiedergesehen hatte, und meine Freunde fingen sofort an zu streiten, ob die Szenen mit den Tieren echt waren. Ist doch egal, sagte ich. Ich verschwieg, daß ich mir das Ende diesmal nicht angetan hatte. Als die Attacke auf die Gorillas sich ankündigte, hatte ich den Fernseher ausgestellt. In mir brannte noch die Erinnerung, daß die Heldin ihren Liebsten für die Tiere verlassen und diese dann bei der ersten Gelegenheit im Stich gelassen hatte. Mochte der Angriff sich den Gesetzen der Dramaturgie mehr als den Tatsachen verdanken und mit dem eigentlichen Thema auch wenig zu tun haben: er war mir zuviel.

Ich erklärte, daß ich die Entscheidung »Mann oder Gorillas« abwegig fand, unoriginell und sachlich falsch. Genial war dagegen, wie dahinter die Alternative »Mann oder Gorilla« aufschien.

Es geht um zwei Arten zu leben, sagte ich, zwischen denen man sich entscheiden muß, oder vielmehr um die beiden Ebenen, auf denen sich das Leben abspielt. Natürlich machen die einander nicht nur Konkurrenz, sondern schließen sich aus. Denn niemand kann gleichzeitig auf dem Berggipfel und im Tal leben. Da sie aber in der Tiefenstruktur ein und derselben Sache begründet sind, sind sie nicht nur hoffnungslos konträr, sondern zugleich vielfältig aufeinander bezogen. Oder wie wollt ihr die sexuelle Vereinigung zweier Liebender mit der Berührung der Finger zwischen einem männlichen Gorilla und einer Frau vergleichen? Das eine hat seinen Höhepunkt eben im – Höhepunkt, das andere hat ihn im Unendlichen, wo die Mimikry in Identität mündet, das Staunen sich beruhigt, das Entzücken sich in Glück wandelt. Wie wollt ihr euch da entscheiden?

Ich erklärte ihnen, warum mir Richards Spruch »Das Berühren/Der Figüren/Mit den Pfoten/Ist verboten« so gefiel. Sein Hund war ein wenig ungestüm auf mich losgegangen, und er hatte ihn zurückgepfiffen und das Sprüchlein gesagt. Ich liebte es sofort und bat ihn, es zu wiederholen. Ist doch alt, sagte er mürrisch, kennt doch jeder. Aber ich nicht, sagte ich, und dann mußte er es mir noch einmal vorsprechen, und ich sagte es nach, träumte dem sehnsüchtigen Ü nach und schauderte vor dem kompromißlosen O.

Im Französischen ist figure das Gesicht, erklärte ich meinen Freunden, nicht die Gestalt. Für mich geht es in dem Spruch deshalb auch nicht darum, an einem Menschen hochzuspringen, sondern sein Gesicht zu berühren. Ich muß dann an die todtraurige Geschichte vom Paulinchen und dem Feuerzeug denken. Da geht es auch um das Berühren. Ich zitierte den Refrain: »Und Mienz und Maunz die Katzen/Erheben ihre Tatzen/Sie drohen mit den Pfoten«, auch seine Abwandlung: »Und Mienz und Maunz, die Kleinen/Sie fingen an zu weinen«, und hätte in dem Moment am liebsten selbst geweint.

Mit den erhobenen Pfoten erreicht man nicht nur ein fremdes, sondern auch sein eigenes Gesicht, sagte ich. Man kann es berühren, kann sich die Tränen abwischen. Wenn man sich die Tränen abwischt, spürt man, daß man nicht nur Kummer, sondern auch ein Gesicht hat. Das ist die erste Sensation beim Weinen: wenn man trotzdem etwas spürt, oder wenn man merkt, man spürt trotzdem etwas.

Ich erklärte ihnen, daß ich mich in Sachen Tier befangen fühlte, hielt ich mich doch selbst für eins. Aber was mich faszinierte, war die Überwindung der Artverschiedenheit. Das Kleinste, nicht länger das Größte war das Ziel. Einander so zu berühren, daß es nicht mehr zu spüren, nur noch zu sehen beziehungsweise nur noch in den verselbständigten Fingern zu spüren war, darauf kam es an: »Unsere Finger haben sich berührt.« Warum das Ziel durch den Artensprung regelrecht umgedreht wurde, vermochte ich nicht auf die schnelle zu erklären. Wo ein Sprung sein sollte, mußte logischerweise eine Umkehrung stattfinden, oder wie sonst sollte er sich ausdrücken? Indem das Große klein wurde, das Unwichtige zentral und so weiter und so fort.

Ich muß noch einmal darüber nachdenken, sagte ich entschuldigend. Vielleicht war ja jeder Unterschied graduell, und den berühmten »Unterschied der Art, nicht des Grades«, gab es nicht. Oder es verhielt sich umgekehrt, und jeder Unterschied des Grades war einer der Art. Schon der pure Gedanke an einen Übergang war in dem Fall fahrlässig. Mind the gap, der Warnruf auf den Londoner U-Bahnsteigen, konnte ebensogut heißen: Nicht denken!

Ibrahim hatte sich längst der leeren Gläser bemächtigt und die vollen Aschenbecher entsorgt. Aus der Kammer holte er Rucksack und Anorak. Das war das Zeichen zum Aufbruch, der Beweis, im übrigen, daß nicht einmal er, der Hausherr, hier zu Hause war. Wie dann wir andern?

Ich weiß auch nicht, warum ich davon angefangen habe, sagte ich unsicher und mußte plötzlich lachen. Ich glaube, ich wollte einfach in einem generellen Sinn um Schonung bitten.

Hier tut dir keiner was, sagte Ibrahim und schob mich zur Tür.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.

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