Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

Zum Inhaltsverzeichnis


Die Gruppe (Fragment)

Es ist alles gesagt; deshalb machen sie einen schweigsamen, beinahe mürrischen Eindruck.

Sie essen tüchtig. Das Frühstück ist elementar. Sachlich verspeisen sie Salziges und Saures, wenig Süßes. Wer gemeinsam frühstückt, trifft sich nicht nur aus taktischem Grund oder aus politischem, er will leben. Leben lautet denn auch die Botschaft der gedeckten Tafel. Wer zusammenlebt, kann das Essen nicht aussparen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschieben: wenn er wieder allein ist (und ißt). Während draußen, im Revier der Einzelkämpfer, jeder den Gürtel so eng wie möglich schnallt, ißt in der Gruppe jeder soviel wie möglich. Brötchen um Brötchen findet seinen Vertilger. Kanne um Kanne schwarzen Kaffees wird gebrüht.

Es sind alle Worte gesagt und alle Probleme erörtert. Kostbar ist die Alltagsbemerkung, die von Vertrautheit zeugt, vom Vorrang der Gewohnheit, jenseits von Auseinandersetzungen und Liebe. »Hast du die Bewerbung abgeschickt?« »Was hat der Arzt gesagt?« »Suchst du immer noch eine Wohnung?« Wenn du dich angesprochen fühlst und von eigenen Erfahrungen erzählst, blicken sie dich an, als hättest du etwas Unanständiges gesagt oder wärst doch leichtfertig vom Thema abgewichen, hättest so das zarte Netz des angesponnenen Gesprächs zerstört und den Erfolg der Zusammenkunft gefährdet. Wer hat dich überhaupt nach deinem Arzt oder deinen Heizkosten gefragt, und sind deine Bewerbungen nicht unter ganz anderen Umständen gescheitert? Wo ist der Vergleichspunkt? Hast du nicht immer allein gelebt, will sagen zu zweit? Mit Anstrengung schaffen sie es, dir oberflächlich zuzuhören, wenigstens abzuwarten, daß du deinen Beitrag beendet hast. Dann fangen sie an einem scheinbar neutralen Ende wieder an, in Wirklichkeit einen Schritt tiefer in die Gruppe hinein, wenn das möglich wäre, noch weiter weg vom Gast. Aufmerksam spitzt er die Ohren, versucht die Laute aufzufangen, das Gemurmelte wenigstens halbwegs zu verstehen. Er will nicht schon wieder alles falsch machen. Aber einklinken muß er sich, und sei es bloß, um ihnen die Peinlichkeit zu ersparen, daß ausgerechnet sie, die mit der Isolation aufgeräumt haben, mit dem vereinzelten Besuch nicht fertig werden.

Ich will mir und ihnen helfen, sagt er sich. Aber es klappt nicht. Ihm kommt es vor, als könnte es gar nicht gehen. Das Setting ist verkehrt. Er ist am falschen Ort oder, er wagt es kaum zu denken, bei den falschen Menschen.

Schon der erste Satz schließt ihn aus. »Dein Vater ist alt geworden.« (Aha, man trifft sich privater als bloß in der Gruppe!) »Seid ihr noch lange geblieben?« (Man hat sich amüsiert. Aha.)

Es gibt ein Leben ohne ihn.

Alle Konflikte sind gebannt. Man kennt sich und nimmt sich in acht. Kein Häkchen wird abgebrochen, die vertraute Klippe umschifft, jede Falle weiträumig umgangen. Man könnte meinen, die Gruppe diene dem Erhalt von Eigenheiten, nicht ihrem Abschleifen. Sie wäre eine Einrichtung zum schonenden Umgang mit Empfindlichkeiten; nur äußerlich kalt, inwendig warm. Um es genau zu sagen: ein Brutkasten. Kein Wunder, wenn sich die Mitglieder durch das Auftauchen eines Fremden nicht nur bewundert und wahrgenommen, sondern immer auch ertappt und vermindert fühlen, so als ließen sie es sich einerseits zu gut gehen und steckten andererseits zuviel ein.

Wenn du hereinkommst, essen die andern schon, ein andermal sind sie gerade erst gekommen. Oder sie laufen halbnackt an dir vorbei, riechen nach Schlaf – ah, sie haben die Nacht gemeinsam verbracht, nur dich haben sie ausquartiert, aus Rücksicht natürlich. Du bist der Ehrengast, das heißt, deine Zeit ist abgelaufen. Man lädt dich zu sich, aber man lebt nicht mit dir. Mit ihnen leben, sagst du erbost, bedeutet die pure Selbstaufgabe. (Aber das wolltest du doch, in ihnen aufgehen, nur um zu leben!)

Nie kommst du zum richtigen Zeitpunkt; den günstigen Moment gibt es, sonst wärst du bei ihnen ja nicht aufgeschlagen, aber den richtigen Zeitpunkt nicht. Mit vollen Backen wirst du zum Sitzen genötigt. Eilfertig setzt du dich, rutschst unruhig auf deinem Stuhl. Hast du nicht die Klospülung gehört? Gleich kommt jemand zurück, reibt die kühlen Hände, fordert Tribut: Entschuldige, aber hier habe ich gesessen. Tatsächlich kam er dir schon beim Hinsetzen irgendwie – besetzt vor, erlaubt er doch einen freien Blick in die Gesichter. Du fühlst dich unbehaglich, in der Restaurantsprache gesprochen: zu gut plaziert. »Ich setz mich da rüber«, sagst du und versinkst in einem Sessel, kannst kaum noch über die Tischplatte gucken. Der Ischias wird dich nachts plagen. Aber gegen die Gruppe helfen nur Qualen.

Es ist alles eine Frage der Zurückhaltung. Beanspruche nicht innerlich den Vorsitz. Mach dir die Situation klar, aber benutze deinen Verstand nicht, um die Oberhand zu bekommen. Betrachte das Problem einmal aus der anderen Perspektive. Was, wenn du die Gruppe wärst! Wie würdest du dich verhalten?

In einer Gruppe greift alles ineinander. Jede Schwäche eines Mitglieds ist von den Stärken eines anderen Mitglieds restlos umhüllt und dessen Schwäche wiederum von der Stärke eines andern. Wie bei einem Puzzle ist jeder mit jedem und alles mit allem verbunden. Du erkennst das Zusammengesetzte nicht, siehst nur das bezaubernde Bild, willst es greifen und falten. Gleich wirst du es in die Tasche stecken. Erschrocken hältst du inne. Grate ragen aus dem Glatten, treiben halsbrecherische Gipfel wie bei der Vergrößerung von gesträubter Haut empor. Erschrocken legst du das Bild zurück, streichst es auf der Tischplatte glatt, drückst die Kanten sorgsam zurück, stehst ratlos vor den Trümmern. Wo gehörte das hin und das? Wenn es einen nicht zu vertuschenden Beweis für ein Verbrechen gibt, hier hast du ihn geliefert.

Nie wieder wirst du nach einem Bild greifen, wenn auch nur der leiseste Verdacht besteht, es könnte ein Puzzle sein!

Kommen wir zum Thema zurück; denn das Puzzle war im Grunde nichts als eine freundliche Ablenkung. Du hast die Gruppe attackiert, hast als Rohstoff behandelt, was nichts als Struktur, hast als Körper traktiert, was nichts als Geist und lauter Empfindsamkeit ist. Hast gedrückt und geknetet, was aus Gittern, Netzen, aus lauter Bezügen besteht.

Du sagst, du hast sie gar nicht attackiert?

Okay, aber du wolltest!

Lern erst mal, richtig zu frühstücken, Salziges und Saures, auch allerlei Gerührtes und Gespacheltes. Und hör auf, dir in der Küche den Mund vollzustopfen. Du willst dazugehören und kannst noch nicht einmal in Gesellschaft essen! Los, raus aus der Küche, wo der Abfalleimer anheimelnd duftet, hinein ins Wohnzimmer! Setz dich an den runden Tisch. Sieh nicht hinter dich, so als hättest du Angst, dich auf jemanden draufzusetzen. Sprich nicht, anstatt zu essen, die andern reden auch nicht. Denk nicht, die Gruppe bricht auseinander, nur weil du eine Minute den Mund hältst. Oder daß du für immer verstummst.

Iß und halt’s Maul.

Beschämt senkst du den Kopf, studierst die Maserung der Tischplatte, die häßlichen Wülste um deine Knie, lauschst dem Räuspern und Schlucken. Den andern schmeckt es, oder sie wissen jedenfalls, essen ist nützlich. Hier und da lassen sich die ersten Stimmfühlungslaute vernehmen. Sie zeigen an, daß die Gruppe in die Rekonstruktionsphase eingetreten ist (während du dich zersetzt). Hier eine Zuvorkommenheit, dort ein angedeutetes Lachen tief in der Kehle. Das Puzzle stellt sich wieder her. Die Kanten werden geglättet, die vollen Teile in die hohlen gepreßt; ach was, gepreßt, sie fügen sich ineinander, als gehörten sie zusammen. Klick, machen sie. Paßt.

Wenn du aufblickst, sind die andern schon aufgestanden, räumen den Tisch ab, bereiten die Arbeitssitzung vor, kochen frischen Kaffee. (Bist du der einzige, der eine Magenschleimhaut hat, Nerven?) Hastig erhebst du dich, setzt klirrend das Geschirr ineinander, stolperst mit dem Turm aus Tellern und Tassen hinaus, siehst aus den Augenwinkeln den Gastgeber erbleichen.

Als Kind hättest du ihn hingeschmissen; die Versuchung ist zu groß. Begraben unter einem Heer von Trostspendenden hättest du nicht aufgehört zu weinen, aber der Himmel wäre wie ausgeputzt gewesen, die Luft klar, das Himmelszelt blank, das Blau leuchtend.

Du bist kein Kind mehr, obwohl da noch ebenso viele Tränen lauern wie früher. Wenn du auch noch das Geschirr hinschmeißt, kannst du gleich gehen und brauchst du nicht mehr wiederzukommen.

Wenn du dich nicht allmählich einkriegst, wirst du der einzige sein, der sich nicht konzentriert.

Wenn du so weitermachst, wirst du noch auffallen.

Gähnend verteilen sie sich auf die Stühle, packen ächzend das Buch aus, blättern lustlos in ihren Notizen, schlagen das eine Bein über das andere und zurück; suchen die bequemste Stellung.

Noch ein Lächeln nach rechts und links, ein Grinsen in die vertrauten Gesichter, ein gemurmelter Kommentar, der durch Gemurmel bestätigt wird – aber das verstehst du schon nicht mehr, das ahnst du nur –, und sie sind ›drin‹. Du als einziger bist draußen.

Es ist, wie es ist.


 ← Zurück |  → Weiter

Zum Inhaltsverzeichnis

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.

Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© 1995–2005 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.