Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Selbstporträt mit trash

»Und es war alles, alles gut.« Sie sieht nicht ein, warum das bloß eine Phantasmagorie sein soll; wenn sie es einsähe, würde sie es akzeptieren. In Büchners Märchenstück Leonce und Lena macht der Satz wie in allen Märchen den Beschluß. Warum soll er sich lediglich auf den Anfang beziehen, die falsche Unmittelbarkeit oder die Illusion? Warum kann er nur einem ›unwiederbringlich Verlorenen‹ gelten, einer Imago, einem im Tatsachensinn nicht existierenden Glück? Vielleicht liegt ihm ja eine ›unbewußte Phantasie‹ zugrunde, die auf ihre Weise durchaus existiert; ist minus plus minus doch plus, und wenn man auch wenig davon hat – aber das ist gar nicht gesagt –, eine Tatsache ist sie, sonst könnte man ihr nicht gleichzeitig in doppelter Weise die Realität absprechen, das Bewußtsein und eben die Realität. Sie fand das immer ganz schön mutig mit der ›unbewußten Phantasie‹, ganz schön absurd, wie ein Spiel mit dem ›Ding an sich‹, ein Test, wie weit man es verflüchtigen kann, ohne daß es aufhört zu existieren. Normalerweise ist es ja so, daß Bewußtsein allein noch kein zureichender Grund dafür ist, daß etwas existiert. »Ich bin mir der Tatsache bewußt …« ist noch kein Beweis dafür, daß sie existiert, die Existenz hängt am Begriff der Tatsache, und auch wenn ich mir ihrer nicht bewußt bin, existiert sie. Aber wenn es sich nicht um eine Tatsache handelt, ausdrücklich bloß um eine Phantasie, und diese dann nicht einmal bewußt ist – , ja, was ist sie dann eigentlich, oder wie macht sie sich bekannt? Es muß sich um die größte oder höchste, um die tatsächlichste Tatsache der Welt handeln, sonst könnte sie nicht auf beides verzichten, auf das Bewußtsein und auf die Realität.

Natürlich ist die Phantasie eine Tatsache; sonst gäbe es ja keinen Begriff für sie, der ausdrücklich darauf abhebt, daß sie ›fantastisch‹ ist, nicht real. Aber eine unbewußte Phantasie – die zwei Begriffe verknüpft, die, beide an sich wahr, indem sie das Unwahre an ihnen verknüpfen, doch gemeinschaftlich ein Betrugssystem bilden können – ist ein Problem. Im besten Fall ist sie ein Konstrukt, vielleicht, um beim Schöpfer des Ding an sich zu bleiben, eine regulative Idee, imaginärer Fluchtpunkt des freischwebenden Systems, das als Unendliches ja ebenfalls eine Tatsache ist und in dem die Parallelen ›Begriff‹ und ›Realität‹ sich schneiden.

Neulich abend hat sie im Radio ein Plädoyer für die Anerkennung des Traumlebens gehört; wohlgemerkt, es ging um die Wichtigkeit, nicht um die Wirklichkeit! Im Traum gehörst du dir, sagt Pessoa, im Leben gehörst du den andern. Wenn es eine Tatsache ist, daß man im Leben andern gehört – und das spürt man, man realisiert es tagtäglich –, dann kann man sich auch der Mühe unterziehen, der komplementären Aussage das Gewicht einer Tatsache zu geben, nicht nur rein deklamatorisch oder logisch, sondern indem man es realisiert!

Ausgerechnet in der Nacht davor hatte sie den Traum einer Vereinigung geträumt, und sie war im Zustand eigentümlicher Befriedung aufgewacht, nein, nicht im Zustand der Befriedigung, sondern eingebettet in die Aura der Befriedung. Da war nichts von großem Entwurf, nichts von großer Tat, von großem Ereignis; nichts was mit Ehrgeiz und Ansprüchen zu tun hatte, aber »es war alles, alles gut«. Nach dem Erwachen hatte sie gespürt, was von Pessoa dann bestätigt wurde: daß der Traum vom Glück ein Glück ist, ein Gewinn, kein Verlust, und Sünde, schwarze Undankbarkeit wäre es, wenn der, der so glücklich gewesen ist, einen Traum zu träumen, in dem er glücklich ist, seinen Traum sich nachträglich in einen Verlust umdeuten würde, indem er ihn mit dem höchst willkürlichen Maß der Wirklichkeit mißt. Sie hatte recht gehabt, daß sie danach fröhlich durch den Tag gegangen war, wie jemand, der eine glückliche Nacht verbracht hat. Sie hatte eine glückliche Nacht verbracht, und es war nicht einzusehen, warum sie deshalb einen unglücklichen Tag verleben sollte. Nur weil sie verschiedenen Wirklichkeiten angehörten, der Tag und die Nacht? Aber das betraf doch den Maßstab, und der wiederum hatte mit Glück und Unglück nichts zu tun. Die waren ein Privileg der Sache; der Sache nach hatte sie eine gute Nacht verbracht, und es war nicht einzusehen, warum sie nicht einen ebenso guten Tag verleben sollte.

Merkwürdig war nur, daß sie das Gefühl hatte, zu diesem Traum nur die Hälfte beigetragen zu haben, und dabei war es doch ihr Traum! Vielleicht rührte dieses Gefühl tatsächlich daher, daß es sich bloß um einen Traum handelte. Da er aber gar nicht wie ein Traum war, kam es ihr vor, als wäre da noch ein anderer im Spiel, kein Wunder, war es doch der Traum einer Vereinigung, und zu der gehörten bekanntlich zwei. Kein Wunder auch, daß sie sich wie von einer Realität umfangen fühlte. Sie kennt kein schöneres Gefühl. Im Grunde ist ihr jegliches Produktionspathos fremd. Weder ist es ihr Ehrgeiz, etwas hervorzubringen, noch ist dieses Pathos beim Hervorbringen die begleitende Vorstellung. Eher geht es ihr darum, an der Selbstverfertigung der Welt teilzuhaben, davon nicht ausgeschlossen zu sein. Also geht es ihr doch um Produktion, aber nicht als Privileg. Für sie ist es ein Sein, nicht ein Werden, und deshalb geht es auch immer gleich um Nichtsein; sofern sie nämlich ausgeschlossen ist. Vielleicht hängt das ja mit ihrem sprichwörtlichen Arbeitsethos zusammen, und sie müßte sich weiter keine Sorgen machen, steckt doch nichts Metaphysisches dahinter. Sie könnte die Beine hochlegen und ein paar Jahre lang in Ruhe fernsehen, anstatt sich der Eroberung der Welt zu widmen, der mühseligen Arbeit am Kapitel »Ich und die andern«. Aber ausgerechnet hier stellt sie sich auf den borniertesten Wirklichkeitsstandpunkt: Sie will nicht träumen, sondern leben, sonst, meint sie, träumt das Leben nicht von ihr.

Ihre einzige Angst ist, daß sie in dem Traum nicht vorkommt, den das Leben von sich selbst träumt.

Ob das mit Nirwana gemeint ist?

Sie zieht die nüchterne Version vor: Sie will ihr Leben nicht vor dem Fernseher verdämmern. Dazu ist es nicht lang genug.

Ja, wenn sie unsterblich wäre; das unsterbliche Leben hatte gewiß seine eigenen Krisen.

Aber sie hat auch Leute gekannt, die träumten überall, nur nicht, wenn sie vor dem Fernseher saßen. Da waren sie hellwach, analytisch stark, rasch in der Auffassung von Informationen, in der Vernetzung der Bilder. Um es so zu sagen: Sie waren dem Leben nicht gewachsen, der Realität aber zugewandt; und sie liebten nichts anderes! Über den Fernseher begriffen sie die Wirklichkeit nicht nur besser als jeder andere, sie machten sich für den Wirklichkeitsstandpunkt stark; ihrer einsamen Existenz eignete darum etwas Autoritatives. Wo andere Wünsche geltend machten, Bedürfnisse äußerten, sich dergestalt gegen das Realitätsprinzip versündigend, sangen sie das Loblied auf die Tatsachen. So genau hinzusehen wie sie, die beliebig Wahrnehmungen mit Erinnerungen (an andere Wahrnehmungen selbstverständlich) kombinierten, Gesagtes und Gezeigtes mit woanders Gesagtem und Gezeigtem, davon konnten andere bloß träumen! Merkwürdig nur, daß die Kategorie der Künstlichkeit in ihrer Wahrnehmung keine Rolle spielte; wie es so gestelzt heißt, der medialen Vermittlung. Man konnte schon an sich irre werden: Waren sie der Wirklichkeit einerseits nicht gewachsen, sahen sie andererseits aber vollständiger als man selbst? Vollständiger, wohlgemerkt, nicht nur dem Umfang – verbrachten sie ganze Tage doch vor der Glotze –, sondern auch dem Wirklichkeitsbegriff nach, indem eben nichts als die Wirklichkeit, nichts als deren eigene maßstäbliche Tatsächlichkeit existierte? Und sahen sie einerseits vollständiger, andererseits aber unmittelbarer als jeder andere und hatten für mediale Zurüstung und Entstellung, also für wichtige, erwachsene Bereiche der Wirklichkeit und überaus wichtige Anteile ihres Begriffs keinen Sinn, waren also, wie man will, kindisch oder kindlich? Waren sie der medialen Realität schließlich, weil sie keinen Sinn für sie hatten und keine Zeit darauf verschwendeten, vielleicht besser gewachsen als jeder andere, nur jener Restrealität oder Tatsächlichkeit eben nicht, der sie sich durch den Flucht vor den Fernseher entzogen?

Waren sie also nur symbiotische Produzenten einer großen Phantasie? Und was war das Unbewußte an der Phantasie: daß ihr phantastischer Charakter unbewußt blieb, die Binnendifferenz zwischen Medienwirklichkeit und Wirklichkeit verschwand; da sie keinen Status in dieser Welt mehr hatte, ins Unbewußte abdriftete? Oder war das Unbewußte nicht vielmehr das Gemeinschaftliche daran: daß ein wacher Geist sie weiterspinnen konnte? Ob am set oder zu Hause vor dem Bildschirm, das war egal; nur, wach mußte er sein! Das Spinnen ergab sich durch den Bildschirm von selbst.

Ob diese Egalität  – von wirklicher und medialer Realität, ferner von Produktion vor oder hinter dem Bildschirm, von Anspinnen, ferner, und Weiterspinnen (da die mediale Realität bereits in der Mitte lag, liefen die Fäden in verschiedenster Richtung) – das Unbewußte an der Phantasie des Fernsehens war?

Wenn’s um die Medien ging, dann wurde man immer gleich so ungeheuer theoretisch.

Wenn sie so gedanklich vom Fernseher kommt, dann hat sie den Eindruck, daß sie selbst das eigentliche Traumelement in einer ansonsten stocknüchternen Welt ist, das element of trash. Hat ihr das nicht jemand gesagt? »Sei doch mal realistisch!« war der Lieblingsspruch eines dieser Heroen, die ihre Tage vor der dem Fernseher zubrachten. Mit allen Rezeptoren hing er an der Welt, und, wehe, jemand erdreistete sich, sie nach anderen Kategorien zu leben, und bestand auf seinem Traum! Dabei war das auf eine Art auch eine Reverenz vor der Wirklichkeit, sonst hätten die Träume ja Träume bleiben können!

Sie meinte, wenn sie nicht versuchte, sie zu leben, dann waren sie nichtig.

Also, mal im Ernst, war sie nicht ein schlimmerer Wirklichkeitsfanatiker als dieser Jemand?

Übrigens war sie sich nie so realistisch vorgekommen wie damals, als sie mit dem Appell »Sei doch mal realistisch!« tagtäglich konfrontiert war; sie schnappte ja förmlich über vor Realismus. Realistisch, das war für sie eben nicht gleichbedeutend mit: resigniert!

Früher hatte sie durchaus Zeiten gekannt, wo sie bloß geträumt, die sie systematisch verdämmert hatte; und dazu bedurfte es wahrhaftig keines Fernsehers. Damals, als ihr Traumtänzerei vorgeworfen wurde, hatte sie nicht zwar mit den Träumen, wohl aber mit dem Zustand gebrochen. Sie war entschlossen, ihre Träume zu leben!

Träumen war nicht realistisch, fand sie selbst. Um guten Gewissens zu träumen, dazu war das Leben nicht lang genug.

Andererseits, auch dafür, daß man seine Träume verriet, war es entschieden nicht lang genug. Es kam ja nichts nachher, ein Leben für die Träume, oder wie immer man das nennen wollte. Also blieb einem doch gar nichts anderes übrig, als sie hier und jetzt oder gar nicht zu leben.

Jedenfalls, wenn man in irgendeinem Bezug lebte, so daß man sagen konnte, das ist mir wichtig und das nicht. Wie man aber in einem Bezug leben und zugleich den Standpunkt des Realismus einnehmen konnte, das war ihr unbegreiflich.

Das hatte mit Sinn nichts zu tun, eher mit Prägung. Mit Sinngebung schon gar nichts. Um etwas wichtig zu finden, brauchte man nicht die Sinnfrage anzukurbeln. Eine solide Abhängigkeit reichte; wenn es einen zog. Es sei denn, aber darüber weigerte sie sich nachzudenken, man gab der Resignation den Vorzug vor der Realität, beziehungsweise man hielt Resignation für einen realitäts-, einen gesellschaftsbildenden Wert.

Wenn sie die Sinnfrage ankurbelte, dann nur, um etwas hinzuzufügen. Und nicht, um da, wo ohnehin nicht viel war, noch etwas wegzunehmen.

Seine Träume realisieren hieß einerseits, ihnen etwas hinzufügen, nämlich eine über den Traum hinausgehende Realität. Es bedeutete andererseits, auch dieser Realität etwas hinzuzufügen. Was wurde aus ihr, wenn sie ausschließlich unter dem Prinzip des Realismus lebte? Wenn nichts ihr in die Quere kam und sie zu reagieren nötigte? Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst, die Realität, angesichts der Forderung »Nun sei doch mal realistisch!« resignierte; bis also die Realität vor dem Realismus kapitulierte.

Gab es einen realistischeren Ansatz, als seine Träume dem harten Clinch mit der Wirklichkeit auszusetzen? (Um zu sehen, was an ihnen, was an einem selbst und schließlich, was an ihr dran war?) Konnte man die Wirklichkeit höher schätzen, als indem man sie zum Prüfstein für seine Träume machte, die Wirklichkeit zum Prüfstein fürs Ideal? Zum Prüfstein für die Wirklichkeit?

Konnte man angesichts dieser Einstellung wirklich noch eine ›realistische Haltung‹ verlangen?

Vielleicht, wenn man diese Einstellung selbst des mangelnden Realismus zieh.

Sagen wir es deutlicher: wenn man den blanken Idealismus darin erkannte.

Kurz und gut, jener Freund hatte einen entschieden anderen Begriff von Realismus als sie.

Was nicht bedeutete, daß sie ihm nicht dankbar war für seine Intervention. »Sei doch mal realistisch!«, das bewies, daß er sie ernstnahm. Da, wo sie war, da war etwas, da konnte man nicht einfach hindurchstiefeln, man mußte eine Anrede formulieren, zumindest ein »Weg da!«, einen Appell.

»Sei doch mal realistisch!«, das war ein Appell an jemand mit Masse.

Vielleicht kein realistischer Appell, aber an jemand, der existierte.

Sie hatte allen Grund, dankbar zu sein.

Wie überhaupt nichts so erfreulich war wie, zu gegebener Zeit, eine Niederlage.

Sie war allen dankbar, die das Wirre an ihr wahrnahmen, und liebte sie darum. In dem Bild, das sie von ihr hatten, kam ihre passive, dunkle, auch ihre unfertige, unvollständige, ihre kindliche, aber auch kindische Seite zur Geltung, kurz alles, was andere, die ihr wegen ihrer Zielstrebigkeit und Eindeutigkeit, ihrer kompromißlosen Klarheit und Wahrhaftigkeit lieber aus dem Weg gingen, eben nicht sahen. Sie fühlte sich von ihnen doppelt mißachtet, geradezu ausgeixt; einmal weil sie zu Unrecht bewundert, zum andern weil sie gemieden wurde. Wer dagegen das Unfertige, Haltlose an ihr sah, ixte sie aus, aber er mied sie nicht; meinetwegen auch umgekehrt, er machte einen riesengroßen Bogen um sie, aber er ixte sie nicht aus. Mit jeder Ablehnung vertiefte er ihre Realität.

Vielleicht liebte sie sie auch nicht, hatte nur dringend den Posten eines ›Hilfs-Ichs‹ zu vergeben. Denn so eloquent sie bei abstrakten Dingen war oder Dingen, die sie nichts angingen, wenn es um sie selbst ging, war sie stumm wie ein Fisch. Hier fehlte es ihr im eminenten Sinn am Glauben an den Sinn von Worten. Die dagegen, die eine realistische Grundeinstellung bei ihr vermißten, waren häufig nicht nur Meister der Plauderei, letztere war für sie auch die Form, in der die Dinge wahrhaftig existierten.

Leider redeten sie in der Regel nur von sich. Aber wenn sie ihr etwas vorzuwerfen hatten  – und das kam Gott sei Dank vor –, dann tauchte sie in ihrer Rede nicht nur auf, sie hatte auch den Eindruck, daß sie präsent war; ihre Sache wurde verhandelt!

Noch heute holt sie sich gelegentlich eine Abfuhr; wenn es ihr ein Bedürfnis ist, sich zu spüren.

Übrigens waren die Realisten, wie sie sie nennt, nicht selten auf eine höchst wirre Weise klar, sie dagegen, wenn man so will, auf eine klare Weise wirr. Das heißt, sie liebten die Klarheit und forderten dafür Realismus, Selbstaufgabe forderten sie ein. Sie dagegen hatte das alles hinter sich; Selbstaufgabe war sozusagen die Voraussetzung ihres Realismus!

Noch heute holt sie sich gelegentlich eine Abfuhr ab, nur damit die Fronten geklärt sind.

So lebt sie ganz in der Gegenwart, und was sie geliebt und geleistet hat, das läßt sich nicht aufzählen, eher schon ausdrücken. Im Grunde geht es ihr immer um dasselbe, und worum es schon andern ging: die Uhr anzuhalten, die Zeit zum Stillstand zu bringen. Es geht ihr um »Atemzüge eines Sommertags«, darum, den Liebsten zu suchen und den Bruder finden oder den Gefährten aufzuspüren und die Liebe zu entdecken. Immer geht es ihr darum, das eine im andern zu finden. Das eine im andern, bedeutet: Nähe.

Es geht ihr immer um die Zukunft. Nicht um die Korrektur der Vergangenheit, sondern um die Vollendung der Gegenwart. Ressentiment, der Antrieb von vielen, hat in diesem Konzept keinen Platz. An Wiedergutmachung liegt ihr so wenig wie an Leugnung. Die förmliche Abbitte langweilt sie zu Tode. Alles, was auf eine bloße Uminterpretation hinausläuft, meinetwegen zu einer besseren Einsicht verhilft, ein Bild oder eine Einstellung ändert, ist für sie ohne Relevanz, dafür bewegt sie nicht den kleinen Finger. (Es geschieht ja auch, ohne daß man einen Finger rührt.) Ja, wenn das Jenseits als das Archiv fürs Diesseits gedacht werden dürfte, dann hätte das Berichtigen von Irrtümern einen Sinn. Aber so ist eigentlich nur eins wichtig: sich nie auf die Ebene der Berichtigungen und Richtigstellungen zu verirren, sich in aller Seelenruhe mißverstehen und mißdeuten zu lassen, dafür unverdrossen zu leben!

Sie stellt sich nicht vor, daß irgend jemand an ihrem Grab steht und weint. Was dieses Thema angeht, so ist sie ein absoluter partisan des Grünen Heinrich (erste Fassung, natürlich, da war der Autor jung, und der Tod war noch eine angenehme Vorstellung). Es sei »ein recht frisches grünes Gras darauf gewachsen«, heißt es von Heinrichs Grab. (Sie würde sich eher vierteilen lassen, als die Stelle noch einmal nachzuschlagen; so steht sie in ihrem Kopf geschrieben, und so ist sie für sie.) Ihr hat der frische Ton immer imponiert, die Kombination, wie gesagt, von Jugend und Tod, dies, daß die Jugend anwesend ist. Daß man ein wenig gespalten sein muß, um die Einheit daran zu gewahren, das stört sie nicht. Im Gegenteil, eine solche Aufspaltung findet sie befreiend, der Frontenwechsel macht ihr Spaß.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 138 (2007), 51–55.

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