Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Lob der Liebe

Platon – in Foucaults sorgsamer, von Herzweh durchtränkter Formulierung – sagt, es gehe um die Wiederherstellung eines vollkommenen Zustands. Ich habe auch Herzweh und sage, es geht um die Herstellung von Wirklichkeit.

Wenn Platon gleichwohl zu Mäßigung, ja Enthaltsamkeit aufrufen kann, dann muß die Benjaminsche Kategorie des ›unwiederbringlich Verlorenen‹ bei ihm schon eine gewaltige Rolle gespielt haben – in dem zugespitzten Sinn, daß ein Festhalten und Suchen und Verfolgen kontraproduktiv wäre, nicht zu empfehlen. Festhalten, Suchen und Verfolgen eines Vollkommenen: ja. Aber nicht dieses Verlorenen!

Wenn der vollkommene Zustand aber die Wirklichkeit in ihrer ganzen Schlichtheit, die aus Gut und Böse, aus Eigenem und Fremdem sich zusammensetzende, alltägliche Wirklichkeit meint, dann ist die Empfehlung zu Mäßigung und Enthaltsamkeit gleichbedeutend mit der Empfehlung von Wirklichkeitsverlust. Wenn nämlich die Liebe den uneingeschränkten Kontakt mit der Wirklichkeit bedeutet, dann bedeutet, nicht zu lieben, eben den Mangel.

Nun gilt ja meistens das Umgekehrte: der Wirklichkeitsbezug des Liebenden soll eingeschränkt sein, von Wahn statt von Wirklichkeit ist die Rede. In gelehrten Büchern firmiert Verliebtheit als seelische Störung. Liebe dagegen ist unzweifelhaft zu groß, um einem Oberbegriff untergeordnet zu werden, sie ist selbst ein Oberbegriff. Alles andere als ein Mangel, hat sie entsprechend mit Wirklichkeit statt mit Wahn zu tun, ohne daß man deshalb bereits klüger wäre. In ihrer unentstellten Form ist sie vielleicht die Annahme der Wirklichkeit, so wie sie ist. Oder vielmehr ist sie die uneingeschränkte Annahme des einzelnen durch die Wirklichkeit. Sie konstituiert den Bezug, so daß man sagen kann: Wer liebt, der hat es mit Wirklichem zu tun, und er ist wirklich. Mit seiner Liebe liebt er das Wirkliche ebensosehr, wie er etwas Bestimmtes liebt. Das heißt, in dem Maß, wie er etwas Bestimmtes liebt, liebt auch die Wirklichkeit das Ganze in ihm, dem Bestimmten.

Seine Liebe – und deshalb ist sie bloß ein anderer Ausdruck für das Leben selbst – rückt die Wirklichkeit in ein unentstelltes Verhältnis zu sich selbst. Sie ist die Repräsentation der Wirklichkeit schlechthin, und alle anderen Repräsentationen wären demzufolge ungenügend.

Ausgerechnet für den Verliebten stellt sich die Aufgabe, die Wirklichkeit wahrzunehmen, in vollem Umfang, unvermittelt und ohne alle Schonung seiner beschränkten Person. Was ihm die Ohren sausen macht und was von denen, die ihm zusehen, als dramatischer Wirklichkeitsverlust konstatiert wird, ist nicht die mangelnde Wahrnehmung der Wirklichkeit, so wie sie ist, vielmehr die Aufhebung seiner gewöhnlichen Einschränkungen. Bislang, so kommt es ihm vor, hat er das Leben nur wie durch einen Schleier wahrgenommen. Jetzt dringt es ungefiltert auf ihn ein. In homöopathischen Dosen hatte er es sich zugeführt. Jetzt trinkt er es unabgemessen und in großen Zügen. Kein Wunder, daß es ihn überwältigt.

Für die andern mag seine Verrücktheit eine noch spezifischere Färbung haben, glauben sie doch mit Händen zu greifen, daß er sich übernimmt; warum er es nicht selbst merkt, ist ihnen ein Rätsel. Von seinem bisherigen Verhalten wissen sie, wieviel von ihm zu erwarten ist und was er sich zutrauen kann. Die eingeschränkte Wirklichkeit, der er bislang gehuldigt hat, scheint ihnen als Maßstab für die Bewertung seiner aktuellen Verrücktheit geeignet. Daß er sich jetzt auf einmal soviel mehr zutraut, ist für sie der helle Wahnsinn – wohlgemerkt, gemessen nicht an der Wirklichkeit, sondern an seinen eigenen bescheidenen Kräften!

Dem finsteren Urteil über ihn leistet freilich seine Hörigkeit Vorschub, die Verfallenheit an einen fremden Körper. Allem Anschein nach eine gravierende Einschränkung – eine Vernachlässigung beispielsweise seiner Verstandesbedürfnisse –, dient sie geradezu als Grundlage der Diagnose. Wie soll man jemandem einen uneingeschränkten Wirklichkeitsbezug attestieren, wenn sein Verhalten lediglich eine uneingeschränkte Verfallenheit an seinen Trieb bezeugt und wenn, dieser Einschränkung seiner selbst entsprechend, ausdrücklich das Zufällige und Beiläufige – ein Ausdruck, eine Kontur oder Geste – ihn in den Ausnahmezustand, den Zustand einer allerhöchsten Präsenz versetzt!

Das Zufällige ist aber der harte Kern der Wirklichkeit, ohne den man ihrer nie sicher sein kann. Wenn er vom Ewigen eine Ahnung haben will, das sagt dem Verliebten die ihm eigene Spiritualität, dann muß er sich dem Vergänglichen stellen, er muß sich dem Einzelnen aussetzen. Soll seine Lust nicht Spinnerei bleiben, muß er lernen, daß sie körperlich ist; überhaupt, daß die Idee nicht dem Stoffwechsel der Seele, sondern der Wirklichkeit entspringt. Er muß lernen, daß das Erhabene der Liebe nicht in ihrer Idealisierungs , sondern in ihrer Verkörperungsfähigkeit steckt. Hier trennt sie sich von der bloß schwärmerischen Empfindung, denn alle Liebe muß durch dieses Nadelöhr hindurch, als das sich die Konfrontation mit dem Körper darbietet. Sie muß sich der begehrten, zugleich dem Wollen rigoros entzogenen Sache stellen, für das der Volksmund einen ganzen Kosmos von Namen zur Verfügung stellt, darunter den redenden: kommen. Kurz, sie muß erstens Stoff werden und zweitens sich vermitteln.

Der Orgasmus ist die letzte untrügliche Realitätsprüfung und Erlösung von allem Frust. Spitzfindige Argumentationen beweisen, daß auch er nur aus Lug und Trug und lauterer Verzweiflung besteht, ist er doch ein Automatismus und damit im traurigsten Sinne real, indem er Mechanismen vollzieht, die nichts als ein Reflex der absonderlichsten Einbildungen sind. Trotzdem entscheidet er, ob ›wirklich‹ Wirklichkeitskontakt stattfand oder ob die Abwehrmechanismen den Sieg davongetragen haben, die Angst vor dem Körper, die Angst vor allem, was echt, das heißt fremd ist und, wenn auch grauer und alltäglicher als der kühne, ja perverse Tagtraum, so doch uneinholbar wirklich, nämlich nur dann, wenn es geschieht. Er beinhaltet die Essenz des ganzen Unternehmens, die Quintessenz: Vernichtung des Stoffs, Auflösung des Vereinzelten samt dessen Wiederauferstehung in der postkoitalen Trauer.

Wie steht es aber um die andere Seite der Liebe, den Verzicht? Die einfachste Logik lehrt, daß es einen Zustand der Enthaltung gibt, der der Liebe entspricht. Oder es gibt einen höheren Standpunkt, von dem aus zu lieben oder nicht zu lieben gleich gilt. Es ist kein besonders gleichgültiger, im Gegenteil ein äußerst kritischer Standpunkt. Er unterscheidet im einzelnen, wie geliebt und wie nicht geliebt wird. Nur eine nicht frustrierte Nicht-Liebe ist nicht defekt; sie ist voller Trauer um die Liebe, so wie im übrigen, das muß gesagt werden, die wahre Liebe voller Trauer ist um das Leben. Alles andere ist Ersatz, er kann weder die Liebe lächerlich noch das Leben madig machen. Indem er sich breitmacht, wird er von innen ausgehöhlt. Gegen die Wirklichkeit weiß auch er kein Rezept.


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