Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

Zum Inhaltsverzeichnis


(24) …

Wenn ich abstrakt drauf war, dann machte ich ihn zum Gegenstand meiner Denkübungen und bildete mir ein, ich interessierte mich nicht mehr für ihn. »Also« wurde mein Lieblingswort.

Ich fragte mich, was, wenn er wirklich anders war als die andern? Wenn bei ihm kein Teil fürs Ganze stand, also zwar ein Ganzes vorstellte, aber für kein Ganzes stand, oder wenn jedes Teil auf andere Teile verwies als die vorhandenen, also ein Ganzes anderer Teile darstellte und, auf dem Grunde dieser Teile, perfekt war, einfach traumhaft – langweilig, korrigierte ich mich sogleich, denn dann wäre es ja wie bei andern Menschen gewesen. Manchmal schlief ich über solchen Schlußfolgerungen ein, ein anderes Mal turnte ich in ihnen herum, bis der Morgen graute, und erst das Gepolter der Mülleimer, wenn sie aus dem Hof gezogen wurden, verschaffte mir die gehörige Dosis, und ich fiel in einen tiefen vormittäglichen Schlaf – sofern ich erst mittags zur Arbeit mußte. Wenn man auf nichts schließen konnte, malte ich mir etwa aus, es sei denn aufs Gegenteil, dann fiel man noch auf die Schnauze, denn Kontinuität und Dauer standen plötzlich auf dem Programm, und man selbst war rausgefallen! Auch das Gegenteil hatte noch sein Gegenteil, sagte ich mir schlau, und dann schlief ich hoffentlich ein; manchmal aber auch nicht, und dann wurde es ein bißchen gefährlich. Was, fragte ich mich immer wieder, wenn jedes Teil für sich vollkommen war, sei es moralisch, als pures Mitgefühl, menschliches Mitleiden, sei's ästhetisch, als Ausdruck von Einsamkeit, innerer Ferne, was weiß ich, als verschlafenes Kindergesicht – irgend etwas, was an der Idee strickte und sich um den Träger nicht scherte –, sei's als Aufbruch, Elan, ungetrübter Blick in die Zukunft, und dabei war das Ganze nur ein leeres Versprechen und es gab weder Schönheit noch Zukunft noch Moral! Oder, da schön nun mal schön war – oder ich litt an Geschmacksverirrung –, und man von Moral und Zukunft zumindest reden konnte: was, wenn der Bezug, das demonstrative Verweisen, genauso selbständig war wie Schönheit, Zukunft und Moral, einfach ein Viertes, was dazukam und mit ihnen so wenig zu tun hatte, wie sie untereinander zu tun hatten, also Schönheit mit Zukunft oder, wenn man ehrlich war, Zukunft mit Moral! Übrigens konnte niemand den emphatischen Bezug so meisterhaft verkörpern wie er, und wenn ich ihn hätte abbilden müssen, dann als einen, der in seiner ganzen Körpersprache – nicht nur mit dem Finger – zeigte. Aber wenn man dachte, für irgend etwas mußte er doch stehen, dann hatte man sich getäuscht.

War Schönheit – die Möglichkeit der Geschmacksverirrung deutete darauf – nichts als Verliebtheit, Zukunft nichts als Einbildung (mit der Betonung auf Bild!), Moral nichts als eine erhebende Stimmung, auch eine Art von Verliebtheit? Das konnte nicht sein! Aber angesichts der euphorischen Verzweiflung meiner nächtlichen Kletterei wußte ich sehr wohl, daß es sein konnte.

Ein verheißungsvoller Anfang deutete mitnichten auf Veränderung, einen ersten oder zweiten Schritt, oder wenn, dann auf Widerruf. Der war so sicher wie das berühmte Amen in der Kirche, der Pendelschlag kam seiner Gangart am nächsten, und man hätte also damit rechnen können; nur leider rechnete niemand damit, zumal Ausstattung und Anordnung konventionell waren und nichts Besonderes vorkam, nur mußte es im Gegenuhrzeigersinn gelesen werden – auf das vorausweisend, worauf es hätte zurückdeuten müssen – , und dazu paßten die üblichen Gewohnheiten schlecht.

Ich gewöhnte mich daran, mich in meinen Erwartungen getäuscht zu finden, und war nicht länger enttäuscht. Ich brach mit der Haltung und merkte es nicht einmal; dabei hätte es ein Getöse geben müssen, wie wenn die Welt einstürzt. Hinterher hatte ich dann mit ihr gebrochen.

Zur Ruhe kam ich nicht; vielleicht war mehr kaputtgegangen als bloß die leidige Hoffnung. Zwar lebte ich nicht mehr in der falschen Gewißheit von Erwartungen, die nie eintrafen, und die Tage voller ereignisloser Verzweiflung gerieten in die Überzahl gegenüber jenen mit einer dramatisch enttäuschten Hoffnung. Auch kehrten sie ihre angenehme Seite heraus, ich fand sie allmählich leichter zu ertragen als die anderen; dabei hatte ich sie früher am meisten gefürchtet und alles getan, um sie durch Aktionismus plattzumachen. Äußerlich und innerlich gewann mein Leben an Ruhe, Unauffälligkeit und Normalität zurück; die Zacken ebneten sich ein. Ich fand trotzdem nicht ins Gleichgewicht. Etwas war entzwei, oder ich war zu weit gegangen.

Ich war vorgeprescht, in Unkenntnis der Entfernung, die ich bereits zurückgelegt hatte. Oder der Strecke, die ich noch vor mir hatte; vielleicht war die gar nicht mehr so lang. Ich hatte nicht nur mit einer quälenden Erwartung gebrochen; ich erwartete nichts mehr. Ich hatte mit dem Prinzip Hoffnung gebrochen, gleich mit dem ganzen Komplex! (Vielleicht hatte ich mich auch zu sehr in die Teile vertieft und darüber das Ganze vergessen.)

Ich lebte von einem Tag, ich sollte sagen: von einem Teil auf den andern.

Meine strengen Freunde fanden, ich lebte ganz gut, besser als früher, vielleicht sogar besser als sie; auf jeden Fall selbstbestimmter, ruhiger, im Grunde gemütlicher, freier, nicht so bedrängt. Dabei waren sie mit dem Urteil rasch bei der Hand, und Vegetieren gehörte zu ihren Lieblingskategorien.

Äußerlich gefaßt, gleichmütig, war ich innerlich doch wie aufgelöst. Manchmal mußte ich weinen, und dieser Zustand hatte sich von den Umständen vollkommen emanzipiert, man kann auch sagen verselbständigt. Die Tränen liefen einfach aus mir heraus. Im Gänsemarsch kletterten sie den engen Kanal hinauf, wippten den Bruchteil einer Sekunde auf dem höchsten Punkt und kullerten über die Backen hinunter. Von Konvulsion und Krampf keine Spur. Kein Schluchzer, es sei denn in den Eingeweiden. Auch das hübsche Bild von den Schleusen paßte nicht. Lediglich der Grundwasserpegel stieg. Nichts Sichtbares hatte sich verändert, aber alles war naß, wie durchtränkt.

Ich bekam Sinn für alles, was keinem Gedanken unterworfen war, keine Kontrolle passiert hatte, auf keinen Stammbaum verweisen konnte: weder Ursache noch Wirkung war, dafür voller Widersprüche steckte, die sich wie Möglichkeiten aufführten, in landläufiger Betrachtung also an einer allgemeinen Bezugsschwäche litt (die natürlich nur zu einer allgemeinen Beziehungsschwäche führen konnte), dabei den utopischen Anschein erweckte, daß es einfach geschah. Kurz, es wimmelte nur so von ausgeschlossenen Dritten.

Wenn man den Bogen raushatte, hatte man ihn im Nu durchschaut; man hätte ihm soufflieren können. Etwas geheimzuhalten war ihm zum Beispiel so unmöglich, daß er es ebensogut gleich erzählen konnte, und das tat er dann regelmäßig. Aber je mehr man erfuhr, desto weniger konnte man sein Wissen verwenden, desto weniger Einfluß nehmen. Vielleicht lag es daran, daß er alles bereits durchgekaut, es hundertmal durchdacht, auch erzählt hatte; am Ende war es zu nichts anderem mehr zu gebrauchen als zu dem bestimmten Ergebnis, zu dem es geführt hatte, nämlich seiner Ansicht, man kann auch sagen seiner Überzeugung; denn alle seine Meinungen waren Überzeugungen beziehungsweise, da ihnen der frische Geruch der Neuigkeit anhaftete, auch seine ehernen Überzeugungen nur Ansichten.

Bestimmt lag es auch daran, daß bei ihm immer zuallererst der Verstand, vor allem aber das Ich kam. Denn niemand konnte, was er sich angeeignet, sich den Bedürfnissen seines Verstandes entsprechend zugerüstet hatte, noch zum Gegenstand eigener Überlegungen machen. Genaugenommen diente alles, was er vorbrachte, einer fixen Idee; die war in seinem Privatleben begründet, wem es wohltönend klingt: in seiner Biographie. Jedenfalls war es alles andere als freies Material, das man hätte in Augenschein nehmen, zu dem man sich unbefangen hätte äußern können, vielmehr Kontrollwissen. Nichts weniger als Inhalt, war es Schlußfolgerung, zum Beweis umgerüstetes Material, Instrument (oder Waffe). Bewiesen wurde immer alles mögliche und mehreres zugleich beziehungsweise das eine durch das andere, was selbst auch noch zu beweisen war. Letztlich, auf dem obersten Punkt der Beweispyramide, wurde bewiesen, daß alles keinen Zweck hatte, ganz gleich, um welches Alles und welchen Zweck es sich handelte. Nichts hilft, lautete die existentialistische Botschaft, mir kann keiner helfen – du am allerwenigsten –, die persönliche. Tatsächlich, nicht um geholfen zu kriegen, erzählte er, was in den Ohren aller, die ihm zuhörten, nach Hilfe schrie, sondern um sich mitzuteilen, meinetwegen auch Luft zu machen. Wenn man ihm wirklich helfen wollte, dann hielt man es aus, aber das schaffte man nicht). Er gab zu, daß es ein Härtetest war, und erzählte freimütig, daß es noch nie jemand geschafft hatte. Für ihn war es der Test auf die eigene Menschlichkeit, und in unvergleichlicher Zweideutigkeit ließ er offen, was als Preis winkte.

Er behauptete strikt, daß kaum ein Mensch dazu imstande war, seinen Helferimpuls zu unterdrücken, sich nicht, unter dem Deckmäntelchen aufopfernden Mitleidens, unanständig heranzurobben, Nähe zu usurpieren, statt durch Verständnis den Spielraum des andern zu sichern. Seiner felsenfesten Ansicht nach war Zuhörenkönnen das Größte überhaupt, Zuhören zugleich einfache Menschenpflicht, und schon allein dies, eine schwere Pflicht oder privilegierte Liebespflicht daraus zu machen, fand er verächtlich. Lieber sagte er gar nichts mehr, dann brauchte ihm auch keiner zuzuhören.

Mit seinen Reden, seinen abenteuerlichen Beweisführungen, seinen hemmungslosen Beschimpfungen brachte er noch den mitteilsamsten Menschen zum Verstummen. Mal war man zu wütend, um zu reden, mal fehlten einem einfach die Worte. Noch der harmloseste, lustigste Mensch wurde neben ihm depressiv.

Aber ständig fand er neue Menschen, denen er sich mitteilen konnte.

Jemanden in eine Unterhaltung zu verwickeln war seine größte Freude, der Ahnungslose wußte ja nicht, daß er getestet wurde: daß er die Probe auf sein Menschsein zu bestehen hatte. Bestochen vom ersten Erfolg – denn er öffnete sich so, daß auch der andere nicht anders konnte, als sich ebenfalls öffnen –, überwältigt vom Gefühl der Einheit mit dem Menschengeschlecht, mit Mann und Frau, verschärfte er unversehens die Bedingungen; aus der Unterhaltung war eine Prüfung geworden, und von dem Moment an konnte man sie nicht mehr bestehen.

Soviel wie er verlangte, hatte man einfach nicht zu geben.

Er konnte unendlich geben, das war der Eindruck, der zurückblieb, oder er hätte; aber er verlangte einfach zuviel. Was er selbst verweigerte, das verlangte er von seinem Gegenüber. Dem blieb nichts anderes übrig, als zu versagen, aber er wußte nicht, wie ihm geschah. Soeben hatten ihm noch die Festtagsglocken geläutet, und schon war er durchgefallen. Im Grunde kapierte er erst beim Ausscheiden, daß es sich um eine Prüfung gehandelt hatte. Er hatte die Menschheitskrone versiebt, und dabei hatte er geglaubt, er würde sich nur unterhalten.

Protestierte man gegen die Bedingungen und verlangte Wiederholung, erklärte er lachend, daß jeder Verstoß gegen die Menschlichkeit wie das Durchfallen bei einer Prüfung war. Mensch sein war Prüfung, sagte er, ganz Philosoph, da gab es keine Bedingungen; übrigens, da man ja nicht heute Unmensch und morgen Mensch sein konnte, auch keine zweite Chance, schon damit die Fragestellung nicht verwässert wurde. (Das war jetzt nicht in echt so gemeint, sondern galt sozusagen nur dogmatisch, auf die Prüfung oder die Menschlichkeit bezogen. Er selbst hätte hunderttausend Chancen verdient, aus dem einfachen Grund, weil er nicht geprüft wurde.)

Natürlich hätte man auf seine Mitschuld, seine eigenen Verstrickungen verweisen können. Hatte man selbst deshalb weniger versagt? (Wurde man dadurch liebenswerter, würde er sich deshalb eher nach einem sehnen?) Man hatte die Probe nicht bestanden, das war ein objektiver Befund. Man hatte sich nicht als Mensch erwiesen. Ein Mensch aber hatte vor allem Mitmensch zu sein; das war ein Mensch. Man hatte die Sache des Mitmenschen schlecht vertreten, und auch das wäre noch zu verschmerzen gewesen, wenn es sich dabei nicht um die eigene Sache gehandelt hätte.

Die eigene Sache, das war er. Leicht wäre es gewesen, den Spieß umzudrehen, wenn er nicht die eigene Sache gewesen wäre.

Er mußte die Menschen durchfallen lassen, konnte man ihm erklären, weil er sonst in Nullkommanichts an den Punkt kam, wo er selbst durchfiel. Die andern mochten nicht imstande sein, ihm zuzuhören, er aber, er konnte sie nicht ertragen. Nicht einmal zuhören mußte er ihnen und ertrug sie dennoch nicht. Zugleich war er süchtig nach ihren Sünden und hörte ihnen zu, so wie man querlas, auf der Suche nach Fehlern; damit er wußte, warum er sie nicht ertrug, und damit er sie ganz schnell durchfallen lassen konnte. Indem er sie rechtzeitig durchfallen ließ, kam er dem eigenen Versagen zuvor. Indem er sie durchfallen ließ, brauchte er nicht mit ihnen zu brechen. Indem er auf diese Weise mit ihnen brach, konnte er sogar mit ihnen auskommen. Der Verlauf war immer derselbe: er ging zu weit, sonst wären sie ja nicht durchgefallen. Aber die ganze Kunst bestand darin, nur gerade eben so weit zu gehen, daß sie durchfallen mußten, ohne zu begreifen, wie das gekommen war.

Er konnte mit ihnen auskommen, aber sie waren durchgefallen!

Aber hatte er das nicht alles schon selbst gesagt, er über sich? Er dachte pausenlos über sich nach und quoll über von Bekanntem. Letztlich waren es seine Argumente. Man mußte schon verdammt ausgeschlafen sein, wenn man ihm etwas Neues über ihn erzählen wollte.

War es relativ neu oder hatte ihm selbst Mühe bereitet, hatte auch er sich nicht wenig damit geplagt, so lächelte er fein, dem andern Feinsinnigkeit zubilligend, und für einen Moment war man wie Verschwörer, wie Verbündete. Aber um nichts in der Welt hätte er zugegeben, daß es wirklich etwas Neues war.

Er wußte es ja, deshalb konnte es nicht neu sein. Selbst wenn er einen Moment nicht daran gedacht hatte.

Er war eben reiner Verstand. Freilich interessierter Verstand, voreingenommener, befangener Verstand. Und deshalb immer schon Urteil und immer schon im Unrecht, wenn auch nie zu widerlegen. Nicht totzukriegen.

Mit dem Verstand konnte man ihm jedenfalls nicht kommen. Auch mit etwas Neuem nicht. Ihm war alles bekannt, das war der Ausgangspunkt. Wer ihm etwas Neues bieten wollte, fiel hinter den Ausgangspunkt zurück. Er wollte ihn im Grunde widerlegen: Die Dinge waren nicht so, wie er sie sich zurechtlegte; die Welt hatte noch soviel zu bieten!

Es gab nur eine Möglichkeit, mit ihm auszukommen: sich über das zu freuen, was er zu bieten hatte.

Das war nicht einfach und erforderte ein gehöriges Selbstbewußtsein, eine gehörige Portion Unabhängigkeit, um mit den Demütigungen, den unvermeidlichen Zurückweisungen fertig zu werden. Auch ganz schön intelligent mußte man sein, um zu begreifen, was er einem offerierte und daß die Intelligenz die Empathie für zuständig erklären mußte. (Hier konnte er ausnahmsweise auch nicht helfen.) Es erforderte eine ganz eigene Intelligenz und von ihr eine enorme Portion.

Vielleicht war diese besondere Intelligenz ganz einfach Masochismus.


 ← Zurück |  → Weiter

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.