Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(6) E. erzählt

Ich lasse den Kopf auf die Kissen sinken und riskiere es – meine Hand auf seinem vom Koksen und Kiffen zu einer Tal- und Hügellandschaft auseinandergetretenen Gesicht – auch seinen Kopf hinunterzudrücken, so daß er, wie man so sagt, neben meinen zu liegen kommt. Zu meiner Überraschung wehrt er sich nicht, er stellt die Stacheln nicht auf, hält nicht, einen andern Willen als den eigenen spürend, blind dagegen, empört sich nicht und sperrt sich nicht, sondern gibt nach. Er läßt es zu, daß meine Finger in den Tälern und Hügeln seines Gesichts herumwandern, als wäre es von ihm verlassenes Terrain, und sich in seine mürb gewordenen Wangen graben, aus denen die falsche Gespanntheit des Erwachsenen gewichen ist und in denen die selbstvergessene Sorglosigkeit des müden Kindes Platz gegriffen hat. Er läßt es zu, daß meine Finger Fleisch von seinem Fleisch werden oder sagen wir Bein von seinem Bein, und bettet den Kopf gefügig in die Kissen, als wollte er sagen: Ich wohne nicht mehr darin, hier, nimm, materialisiere deine Träume. Ich traue meinen Augen nicht, aber so, als wäre er wie alle andern – dabei lebt er doch davon, sich jeder vernünftigen Erwartung zuwider zu verhalten –, gibt er dem normalsten aller Reflexe nach, dem der Anziehung, und nähert meinem Gesicht seins, bis Mund und Mund verschmelzen. So als hätte ihn als echten Romeo nie etwas brennender interessiert, als was sich in meinem Mund verbirgt – und als wäre ihm nie etwas normaler vorgekommen, als sich dafür zu interessieren –, öffnet er meine Lippen mit seinem Finger und tut dann dasselbe, die andere Hand zu Hilfe nehmend, mit einem zweiten und läßt den so präparierten Mund mit seinem verschmelzen in einem Kuß, an dem nichts falsch ist.

Hier, spätestens, hätte ich merken müssen, daß ich mir das Ganze bloß ausgedacht hatte. Aber dann träumte ich, wie er hinterher mit einem seiner Freunde beim Computerspiel sitzt. Er ist hellwach, nicht länger verschlafen und verträumt, sondern hundertprozentig bei der Sache. Jungenhaft wirkt er, rundum lebendig und beseelt, aber nicht von der Liebe, sondern vom Spiel (und von der männlichen Gesellschaft). Und diese Szene ist nun wieder ganz echt.

Den kannst du nicht haben, sagte ich mir beim Erwachen. Nicht mal im Traum.

Wenige Tage später, nachdem er meine Phantasie mit einer eindringlichen Schilderung der Menschen Neu-Guineas angestachelt hatte, die, für unsere Maßstäbe doch eher Tier als Mensch, menschlicher wären als die Leute hier, träumte ich einen zweiten Traum. Ich träumte, wie er mich mit einem Tier beschenkt und von mir fordert, es zu lieben, so wie man Menschen liebt. So wie er die Menschen von Neu-Guinea liebte, um es genau zu sagen jenen mit andern Menschen bislang wenig in Berührung gekommenen Stamm, den er im Fernsehen gesehen hatte und den er deshalb auch nur theoretisch liebte; was bedeutet, wenn er nach Neu-Guinea gegangen wäre, und keineswegs, wenn jene hierher gekommen wären, so wie die vielen andern vor ihnen, die schon hier waren und die er hätte lieben können, aber die mochte er nicht, das heißt als Menschen schon, aber als Tatsache verabscheute er sie. Daß er es von mir forderte, wiederum, war natürlich schon eine Interpretation, so etwas wie eine gelehrte Deutung. Denn im Traum verlangte er gar nichts, ich lernte vielmehr, das Tier, mit dem er mich beschenkte, wie einen Menschen zu lieben, oder wie einen Mann. Ich entdeckte, um es mit lateinischer Genauigkeit zu sagen, daß es ein zu Liebendes war, und liebte es prompt. Aber ich hätte mich nie dazu verstanden, wenn er es nicht irgendwie von mir verlangt und, überhaupt, wenn er nicht mit ihm zu tun gehabt, in einer geheimnisvollen, unerklärten Verbindung zu ihm gestanden hätte, dem stummen Tier.

Und so ging der Traum: Ich sitze mit S. im Wohnzimmer, und er läßt ein Tier eintreten. Zuerst ist es recht klein und seltsam geformt, eine dickere, glatthäutige Made. Kaum durch die Tür, entwickelt es sich in der Geräumigkeit des Wohnzimmers zu einer ausgewachsenen Robbe von ansehnlicher Größe, vielleicht auch einem Eisbären im weißen Fell.

Es dämmert mir, wie man so sagt – und das dauert –, daß ich das Tier in die Arme schließen darf. Es ist für mich, und auf eine spektakuläre Weise stimmt das mit seiner Sicht auf mich überein, stimmt, was mich betrifft, auch für es. Auch es ist der stummen Meinung, daß ich darf. Das heißt, ich soll. Ich soll es nicht nur liebhaben, sondern lieben!

Ich umarme die Robbe im weißen Fell, und das stellt sich als tiefer und flauschiger als gedacht heraus. Überhaupt, was die Robbe betrifft, so stellt sie sich mehr und mehr als die schlanke, leicht konvex geformte Ausgabe eines Eisbären heraus. Ihr Charakter ist friedfertig wie der eines Seehunds, ihr Fell weich, und Gemüt hat sie keins. Sie liebt nicht, daran läßt sie keinen Zweifel. Sie läßt sich lieben. Immerhin hat sie nichts dawider, umhalst und liebkost zu werden, ja, was mir mehr als unheimlich ist und mich absonderlich erregt: sie zieht mich immer tiefer hinein in eine Liebe, die ihr ganz gleichgültig ist.

Begierig nach Aufklärung, in hohem Maß beunruhigt, begebe ich mich ins Badezimmer, und richtig liegt auf der Waschmaschine gleich beim Eingang das zerbrochene Ei, aus dem die Robbe geschlüpft ist, und die Haut eines Krokodils daneben.

Daß die Robbe bei mir wohnt, hat also seine Richtigkeit. Aber ihre Anwesenheit ist gerechtfertigt nur um den Preis der gleichzeitigen Anwesenheit von etwas Bösem.

Das sage ich mir noch im Traum. Erwacht, verstehe ich es schon nicht mehr.


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