Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(1) Rick erzählt

Wir waren nach der letzten Stunde wie immer ins Café gegangen und hatten über die bevorstehende Prüfung geredet und wohin die Abschluß-Fahrt gehen sollte und was wir als Streich planten. Jonas wollte verhindern, daß gerade die Dozenten sich drückten, an denen wir uns rächen wollten. Aris meinte, das wäre schon immer so gewesen, und wir sollten lieber an den Streich denken und daß er uns Spaß machte, als an die Wirkung auf die Dozenten. Hannah wollte wenigstens einmal in ihrem Leben mit D. tanzen, für den sie seit dem ersten Semester geschwärmt hatte, und verlangte Musik in allen Räumen und irgendwas mit Tanzen.

E. saß am Nachbartisch. Aber sie war nicht wie gewöhnlich mitten in dem Höllenlärm in irgendeine Vorbereitung vertieft, sondern redete mit einem Mann. Das heißt, sie sprach mit ihm, und er antwortete, wie so ein Mann antwortet, wenn eine Frau auf ihn einredet, aber mit einem Lächeln, das plötzlich aufleuchtete. An Hannahs Gesicht konnte man sehen, daß ihr dieses Lächeln durch und durch ging, aber bestimmt nicht, weil sie etwas an dem Mann fand, der in seinem Alter, in seiner Art Lichtjahre von uns entfernt war, sondern weil sie spürte, was dieses Lächeln in E. anrichtete; denn Hannah war unser Medium, und wir brauchten bloß sie anzusehen, um zu wissen, was am Nachbartisch vorging.

Schließlich gingen sie, und auch wir zahlten. Draußen stand E. mit dem Mann und sah ihm zu, wie er die breite Jacke zuknöpfte und die Wollmütze aufsetzte, wobei er die Haare so aus der Stirn schob, daß er mit einem Mal viel jünger aussah. Dann machte er, die Hände in den Jackentaschen, lächelnd eine kleine Verbeugung und ging.

E. rührte sich nicht.

Da raffte Aris sich auf und war mit einem Schritt bei ihr.

Sie sind traurig, Frau E., sagte er.

Sie nickte. Und dann fing sie an zu weinen.

Aris trat noch näher an sie heran, so daß sie wie von selbst an seiner Brust lehnte, und legte die Arme schützend um sie.

Weinen Sie ruhig, sagte er, und da fing sie richtig an, und sie weinte so, daß es sie schüttelte und Aris sie festhalten mußte.

Der Arsch, murmelte Yannick und meinte den Mann in der breiten Jacke. Hannah war ganz weiß geworden. Ihr Gesicht hatte den starren Ausdruck bekommen, wie wenn sie nur noch Medium ist. Um ihre Wimpern glitzerte es, aber infolge der Erstarrung konnte sich die Träne nicht lösen.

Aris hatte sich zu E. hinuntergebeugt und redete beruhigend auf sie ein. Ich glaube, er war ins Griechische hinübergewechselt. Seine Stimme war noch um einige Oktaven tiefer gerutscht, und es klang nach Versen, irgendeinem Singsang, mit dem man Kinder beruhigt, so etwas wie »Heile heile Segen«, aber auf griechisch.

Schließlich hob E. den Kopf.

Besser? fragte Aris.

Sie nickte. Wir rückten näher heran.

Ratlos rieb sie an seinem Pullover herum.

Er ist völlig durchnäßt, sagte sie. Sie werden sich erkälten.

Aris schüttelte lächelnd den Kopf.

Egal, sagte er.

E. sah uns der Reihe nach an. Um die Augen wirkte sie magerer als sonst, so als hätte jemand das dahinter gelegene Wasserpolster geleert.

Ich kann nicht mehr, sagte sie und war für einen Moment wieder die alte. Ich brauche einen Kaffee oder einen Schnaps.

Oder beides, sagte Ilona nüchtern.

Aber so wie ich aussehe, kann ich doch nirgendwo reingehen, sagte sie.

Wir nehmen Sie in die Mitte, sagte Ilona.

Yannick mit seinem verwegenen Hut vorneweg, eine muntere Unterhaltung anstimmend, wir andern in vielsagender Zwanglosigkeit um sie herum, zogen wir zurück in das Café, das wir vor Stunden? Minuten? Sekunden? verlassen hatten und gruppierten uns erneut um den Tisch.

Ich geh bestellen, sagte Judith und schlurfte zur Theke.


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